Schweitzer Fachinformationen
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Die Grenze haben wir hinter uns, ich spüre eine gewisse feierliche Erleichterung, ein Aufatmen, bin aber nicht frei von Beklommenheit. Ich hatte Angst, wie vor einer Prüfung oder einer Kontrolle, dabei waren mein Pass und mein Gepäck in Ordnung, mein Gewissen vielleicht auch. Ich hatte Angst, und Angst hatte auch die Frau aus Budapest neben mir, die zu ihren Eltern nach Ragusa fährt, selbst das Lächeln des Herrn aus Wien, dessen Sohn in New York Rundfunkingenieur ist, half da nichts, ich sah, dass er Angst hatte. Ja er hatte sogar am meisten Angst.
Alle haben Angst. Wir sind unschuldig, die Grenzpolizisten sind höflich, unsere Unterwäsche berühren sie kaum, und sie glauben, was wir ihnen antworten. Und doch: Wir fühlen, dass wir etwas Unanständiges tun, und nur aus Taktgefühl und Höflichkeit verlieren die ungarischen und jugoslawischen Herren in Uniform kein Wort darüber. Sie verschließen die Augen, aber hinter ihrer höflichen Zurückhaltung verbergen sich Missbilligung und würdevoller Vorwurf. Wir sind wie Kinder, die in der Vorratskammer heimlich ein verbotenes Einmachglas geplündert haben, und obwohl die Eltern ihnen »verzeihen«, spüren alle, Eltern wie Kinder, dass die Angelegenheit damit noch nicht in Ordnung ist. Grenzen werden mit Sicherheit nicht zum Spaß gezogen, und auch das Verbot, Einmachgläser zu plündern, entspringt tiefen Gesetzmäßigkeiten.
Wir bekamen keine Schwierigkeiten, alles wurde für völlig ordnungsgemäß befunden, Wachen kamen und salutierten, gingen und salutierten, diesseits wie jenseits der Grenze, und doch spürten wir alle, dass die Angelegenheit nicht in Ordnung war, dass wir Abenteurer waren, Sünder, bei denen die Hand des Gesetzes dieses eine Mal noch nicht zugepackt hatte.
Einmal, ich erinnere mich, da war nicht alles so in Ordnung. Während der Revolution 1919* flüchtete mein Vater mit mir auf die andere Seite, ohne Pass, im Chaos, auf der Fähre bei Légrád. Wir wollten meinen kleinen Bruder in Zombor abholen, mit einem großen Umweg. In Alsódomború verbreitete sich das Gerücht, dass wir Ungarn sind, und mitten in der Nacht mussten wir die Wohnung des Bekannten, bei dem wir übernachtet hatten, heimlich durch die Hintertür verlassen. Wir setzten uns auf den Wagen, ein Regen brach los und wir fuhren im Galopp nach Csáktornya. Frierend und voller Furcht kuschelte ich mich an meinen Vater, der mich in die Flanelldecke hüllte, und wir galoppierten durch die Wälder, ein gespenstischer Wind peitschte den strömenden Regen gegen das Wagendach, und da begann ich zu weinen, wie peinlich, wie unvernünftig, ein Junge von zehn Jahren. Das war eine Reise! Schrecklich und wunderbar, voll Abenteuer, Romantik und Gefahr!
Nahe bei Gombos setzten wir im Boot über die Donau, es gab keine Fähre, nichts war wie gewohnt, für einige Monate war die Welt aus den Angeln geraten, der Fährmann fuhr nicht, sondern demonstrierte und plünderte, die Züge verkehrten nur launisch, und wir setzten also im Kahn über, mit zwei dicken Damen und einer aufgeplatzten Wassermelone, die ich festhalten musste. Das Boot schwankte auf dem wogenden Wasser so sehr, dass die beiden dicken Damen kreischten vor Angst, sie könnten hineinfallen; wir Männer aber halfen den Wellen lachend nach, mit der Bemerkung, ein kleines Bad würde keinem von uns schaden. Und wieder regnete es.
Heute war alles in Ordnung, und doch hatte ich genauso Angst, obwohl auch ich lächelte wie der Herr aus Wien. Ein neuartiges Schuldbewusstsein ist das, seit dem Krieg. Wir waren keine Schmuggler, nach den Buchstaben des Gesetzes machten wir keine krummen Geschäfte, wohl aber nach dem Geist des Gesetzes; wir hatten das Gefühl, etwas Verbotenes auf die andere Seite mitzunehmen, Geheimnisse zu kennen und Geheimnisse in Erfahrung zu bringen.
Geheimnisse über eine andere Welt. Denn hier drüben, jenseits der Brücke, konnte man schon am ersten Bahnhof sehen, dass wir nun in einer anderen Welt waren, mit Uniformen in anderen Farben, einer Fahne in anderen Farben; die Kellnerin, die einen Gespritzten ans Fenster brachte, sprach eine andere Sprache und tat, als würde sie nicht verstehen, was ich auf Ungarisch sagte. Dieser Übergang ist unspektakulär und doch so eigenartig wie ein Tor zwischen Straße und Gefängnis. Dort war ich zu Hause, bin ich hier fremd?
Die Gegend, an der wir nun vorbeigleiten, ist vertraut, eine typische Donaulandschaft, vertraute Bäume und Hügel, mit winkenden Bauernmädchen auf den Feldern. In Koprivnica ist ein Kaufmann eingestiegen, er unterhält sich mit dem Herrn aus Wien. Die Anspannung hat offenbar nachgelassen, denn der Herr aus Wien lächelt nicht mehr so verkrampft, auch das deutsche Mädchen dort drüben kichert nicht mehr, in ihrer Aufregung fand sie es furchtbar lustig, dass man in Gyékényes lange nicht umsteigen konnte und die Wachen die ungeduldigen Reisenden in die Waggons zurücktrieben. »Wie Schafe«, sagte sie und schüttelte sich vor Lachen. Jetzt kichert auch sie nicht mehr, ist versunken in einen billigen Reiseroman. Der Herr aus Wien, der aus Koprivnica und die gesetzte Dame aus Budapest unterhalten sich freundlich, mit einem Auge schielen sie misstrauisch zu mir herüber, was ich wohl schreibe.
Dieses Land ist fremd, und doch fühle ich mich, als würde ich nach Hause fahren. Ich bin ungeduldig, und wenn ich meinen Stift ruhen lasse und die Augen schließe, bin ich auch ein bisschen glücklich. Ich reise, sehr lange schon war ich nicht mehr auf Reisen. Aber es ist gar nicht das Reisen selbst, nicht das gehorsame Eilen des Zuges, die sich verändernde Landschaft, das leicht fiebernde Gefühl beim Fahren, was mich – ein bisschen – glücklich macht; auch nicht der glatt ablaufende, straflose Grenzübertritt, das Nachlassen der Anspannung, die Nähe des Ziels. Es ist etwas anderes.
Der Herr aus Wien fragt, wohin ich fahre.
»Nach Zagreb? Schön, sehr schön«, bemerkt er auf Deutsch. »Schöne Stadt, intelligentes Volk, gute Hotels«, und er schnalzt mit der Zunge.
Die Lokomotive pfeift langgezogen, jubilierend. In der Ferne erscheint schon der blaugraue Umriss des Sljeme. An den Bahnstationen drängen Weiblein mit Körben in den Waggon, sie setzen sich gar nicht mehr. Der Herr aus Wien erhebt sich und rückt sein Gepäck zurecht. In freudiger Erwartung mache auch ich mich bereit, sie alle werden mich am Bahnhof erwarten: meine Großmutter mit dem langen, borstigen Haar auf der linken Wange, die zu küssen immer so merkwürdig ist; mein Großvater mit seiner Kappe, eine Tüte mit Zuckerln in der linken Hand; Tante Toni mit ihrer ironischen Rührung – nur Onkel Otto nicht, um diese Zeit ist er im Büro; meine Schwester im kurzen Rock; und meine Mutter, wieder gesund, mit ihrer dichten Haarpracht, auf die sie immer stolz war, und die ich geerbt habe. Auf Fiakern mit Gummirädern ziehen wir nach Hause, und während ich den Kaffee trinke, die Kaisersemmel mit Butter verspeise, sitzen sie um mich herum, und dann werde ich ihre liebevoll prüfenden Blicke auf meinem Gesicht spüren.
Am Bahnhof erwartete mich mein Schwager: Ivica, ein Kroate mit weißer Haut und glatten blonden Haaren, mit seinen so vertraut-zärtlich blinzelnden blauen Augen. Wir umarmten und küssten einander, zum ersten Mal in unserem Leben. Irgendwie fühlte ich mich ein wenig verletzt, weil die Familie mich nicht erwartete, in Reih und Glied, Spalier stehend, es ernüchterte mich, dass nicht nur die Toten, sondern auch die Lebenden nicht gekommen waren; in Vertretung für die Lebenden und die Toten war dieser Fremde gekommen, den ich als kleiner Junge nie gemocht hatte.
Niemand wisse von meiner Ankunft – informierte mich Ivica –, nur meine Schwester warte zu Hause auf mich, mit ihrem Sohn. Das Auto brauste über vertraute Straßen und Plätze – am liebsten hätte ich vor Freude gejauchzt, dass ich wieder hier bin, zu Hause –, hinauf in das neue Villenviertel, das gerade auf dem Hügel gebaut wurde, der dem Berg gegenüber liegt. Ich nahm zwei Stufen auf einmal, sprang die Treppe hoch. Seit acht Jahren hatte ich meine Schwester nicht gesehen, inzwischen hat sie geheiratet, ein Kind geboren, und nur selten schreibt sie Briefe. An der Tür stieß ich mit ihr zusammen, und als ich sie überschwänglich umarmen wollte, schob sie mich sanft von sich weg. Misstrauisch löste ich mich von ihr, trat einen Schritt zurück und betrachtete sie. Unsere Familie würde bald ein neues Mitglied haben. Das war also die Überraschung, darum hatte mein Schwager ständig geblinzelt, darum war Nada nicht gekommen, um mich abzuholen!
Ich sei ein richtiger Mann geworden, bemerkte meine große Schwester, und sie verstand gar nicht, dass ich mich darüber nicht besonders freute. Unser Gespräch kam nicht recht in Gang. Wir waren etwas verlegen, hüstelten, blickten einander an, fremd waren wir uns geworden. Wir sind Kinder der gleichen Mutter, sind einander ähnlich. Ihr kleiner Sohn, Drago, kam vom Hof...
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