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1 Wang Daifu
Kapitel 1
Wang Daifu
Den ersten Batzen Gold machte Wang Daifu in Shenzhen. Die Praxis, in der der »Doktor« - alle blinden Tuina-Masseure werden »Daifu«, also »Doktor«, genannt - seinem Gewerbe nachging, lag in der Nähe des Bahnhofs. Damals, Ende des letzten Jahrhunderts, erlebten er und seinesgleichen ihr goldenes Zeitalter. »Goldenes Zeitalter«, das mag klingen wie aus einem Schüleraufsatz, aber für Wang Daifu hatte das Geld etwas Irrwitziges an sich: Es drängte sich mit aller Macht durch seine Fingerritzen.
Und warum lag das Geld auf der Straße? Der unmittelbarste Grund war die Rückgabe Hongkongs an China. Die Hongkonger sind leidenschaftliche Tuina-Anhänger; diese Therapie ist ein Teil ihrer persönlichen und kulturellen Tradition. Aber so eine Massage kann eine Stange Geld kosten. Tuina erfordert reine Handarbeit, und die konnte sich ein gewöhnlicher Hongkonger angesichts des dortigen Lohnniveaus nicht leisten. Mit der Rückkehr Hongkongs nach China jedoch änderte sich alles: Die Hongkonger schwärmten nun schwarenweise ins nahe Shenzhen. Ein solcher Trip war nicht aufwendiger als eine Umarmung zwischen Mann und Frau - und bedeutete die Rückkehr Hongkongs nicht eben dies: eine Umarmung mit dem Festland? Die Sehnsucht nach dieser Umarmung erfasste Arbeiter, Angestellte und Besserverdiener gleichermaßen: Sie alle warfen sich dem Mutterland an die Brust. Die Shenzhener ergriffen die Gelegenheit sogleich beim Schopf. Im Handumdrehen blühte dort das Tuina-Gewerbe auf. Kein Wunder: Egal, um was für ein Geschäft es geht - wenn Handarbeit dabei eine Rolle spielt, werden die Festlandchinesen den Markt so rasch an sich reißen, dass es Götter und Geister zur Verzweiflung treibt. Obendrein ist Shenzhen eine Sonderwirtschaftszone. Und das bedeutet? Billige Arbeitskräfte.
Aber es gab noch einen anderen Grund für die Blüte der Tuina-Massage: Nun, da sich das Jahrhundert dem Ende entgegenneigte, packte die Leute plötzlich eine panische Angst. Diese Angst kam grundlos und aus heiterem Himmel, und es war auch keine wirkliche Panik, eher eine fieberhafte Überhitzung, die sich in einer aggressiven Haltung niederschlug. Die Augen der Leute funkelten, und ihre Muskeln zuckten: Hol dir das Geld! Na los, nun lang schon zu, sonst ist der Zug abgefahren! Die Leute führten sich auf wie die Irren. Dadurch kursierte auch das Geld noch wahnwitziger, und das wiederum steigerte die Verrücktheit der Leute. Irrsinn macht müde. Was tun? Eine Tuina-Therapie ist sicher nicht das schlechteste Gegenmittel.
Vor diesem Hintergrund erlebte Tuina, praktiziert von blinden Therapeuten, in Shenzhen seine Blüte. Der Aufschwung griff ungeheuer rasant um sich, - wie eine Feuersbrunst oder wie Wolken, die sich im Sturm zusammenballen. Im Nu bekamen die Blinden in ganz China Wind von der erregenden Nachricht, die da lautete: In Shenzhen ist für uns ein neues Zeitalter angebrochen. Das Geld liegt dort auf der Straße, es hüpft und zappelt herum wie die Karpfen auf dem Trockenen. Rings um den Shenzhener Bahnhof bot sich fremden Blicken bald ein prachtvolles Schauspiel: Ströme von Blinden wogten durch die Straßen. Auf einmal stellte diese blutjunge Stadt mehr als bloß ein Fenster auf Chinas Reform- und Öffnungspolitik dar: Sie verwandelte sich in das Wohnzimmer und Paradies der Blinden. Voller Überschwang zogen sie mit ihren Sonnenbrillen und Stöcken die linke Seite der Straßen und Fußgängerbrücken entlang, von West nach Ost und von Ost nach West, von Nord nach Süd und von Süd nach Nord - ein nicht enden wollendes Heer von Menschen, dicht gedrängt im Gänsemarsch. Wie glücklich sie waren! Wie geschäftig!
Wenn das Licht schwächer wurde, wogte eine andere Flut von Menschen heran: todmüde Hongkonger, todmüde Japaner, Europäer, Amerikaner aus Hongkong und natürlich all die todmüden Festlandchinesen - frischgebackene Kapitalisten und Neureiche, die es nie nötig gehabt hatten, fingerleckend ihr Geld in der Öffentlichkeit zu zählen. Sie alle fielen über die Stadt her wie ein Schwarm Bienen. Ach, was waren sie müde, so müde - die Erschöpfung des ausgehenden Jahrhunderts hatte sich in ihnen angesammelt. Sie waren so müde, dass sich ihre Muskeln verkrampften. Kaum in der Praxis angekommen, ließen sie sich auch schon auf die Liegen fallen und schliefen ein, noch ehe sie gesagt hatten, wie viele Stunden ihre Sitzung dauern sollte. Ein vielstimmiger Chor von Schnarchern aus dem In- und Ausland schwoll an und ab. Die Masseure sorgten für ihre Entspannung, und manch eiliger Kunde blieb gleich die ganze Nacht. Erst im Morgengrauen wachten sie auf, gaben ihrem Therapeuten ein Trinkgeld und zogen wieder in die Welt hinaus, um noch mehr Geld zu machen. Das Geld wich nicht von ihrer Seite; wie die Flocken in einem Schneesturm wirbelten die Scheine rings um sie herum, nicht weiter als eine Schwertklinge entfernt. Ein Strecken ihres Arms, ein Ausfallschritt genügten, und schon hatten sie mit der Spitze ihrer Schwerter einem Schein das Herz durchbohrt, ohne einen einzigen Tropfen Blut zu vergießen.
Auch Wang Daifu begann Geld zu verdienen. Die Summen, die er einnahm, waren für andere bloß Kleingeld, aber für einen wie ihn, der sein Leben in Armut verbracht hatte, war die Leichtigkeit verblüffend, mit der sich in Shenzhen Geld machen ließ. Wie war das nur möglich: dass einem das Geld nur so zuflog? Es war erschreckend. Er hatte stets von seiner Hände Arbeit gelebt, was für ihn bloß bedeutete, dass er genug zum Essen und Anziehen hatte. Nun aber hielt er sich nicht bloß so eben über Wasser, nun kam er so mühelos voran wie ein Schlafwandler. Nicht nur chinesische Yuan kassierte er, sondern auch Hongkong-Dollar, japanische Yen und US-Dollar. Seine erster US-Dollar-Schein flatterte ihm eines frühen Samstagmorgens in die Hände. Sein Kunde, ein zierlicher Japaner mit zarter Haut und feinen Gliedern, gab ihm als Trinkgeld einen Schein, der sich verdächtig klein, kurz und schmal anfühlte. Wang argwöhnte eine Fälschung, aber weil sein Kunde ein Gast aus dem Ausland war, wollte er nicht unhöflich sein. Zu dieser frühen Stunde war er vor lauter Erschöpfung dem Zusammenbruch nahe, und doch hielt der Verdacht, er könnte eine Blüte in Händen halten, ihn wach wie ein gespannter Muskel. Unschlüssig blieb er stehen und befingerte unablässig den Schein. Als der Japaner sein Zögern bemerkte, glaubte er, er hätte ihm zu wenig gegeben, und reichte ihm nach einem Moment des Überlegens noch einen zweiten Schein. Dieser Schein, genauso kurz und schmal wie der erste, steigerte nur Wangs Argwohn: Warum hatte der Mann so prompt einen zweiten Schein gezückt? Lag ihm am Geld so wenig? Den Schein in der Hand, blieb er regungslos stehen. Da klatschte der Japaner, nun genauso irritiert, ihm einen dritten Schein in die Hand. »Gute Arbeit! Sie sind wirklich das hier!« Und er packte Wangs Daumen und hielt ihn dem Masseur vors Gesicht.
Dieses Lob stürzte Wang in noch größere Verlegenheit. Die Vorstellung, einem Betrüger zum Opfer gefallen zu sein, bedrückte ihn, aber außer einem raschen Dank brachte er kein Wort hervor. Bis zum Nachmittag trug er sein Trinkgeld bei sich - dann hielt er es nicht länger aus und bat einen Sehenden, einen Blick auf die Scheine zu werfen. Es waren amerikanische Dollar, alles in allem dreihundert. Wangs Augenbrauen schnellten nach oben, und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, das lange nicht wieder schwinden wollte. Er marschierte los - wollte es wissen.
Das Geld spielte verrückt. Völlig außer Rand und Band flatterten und hüpften die Scheine durch die Luft wie fliegende Teppiche, wirbelten empor, kreisten, schlugen Salti und schossen wieder hinab. Durch die Lüfte heulend, fanden sie zielsicher ihren Weg in Wangs Hände. Fast konnte er den seltsamen Motor hören, der das Geld antrieb: ein Dröhnen, untermalt von einem schrillen Pfeifen. Ein Tag verlief aufregender als der andere - als schlüge man eine Schlacht. So wurde Wang Daifu reich.
Mitten in dieser Schlacht brach für ihn der Frühling an: Er verliebte sich. Das neue Millenium stand vor der Tür, und am letzten Abend des alten Jahrhunderts kam Xiao Kong, ein blindes Mädchen aus der ostchinesischen Stadt Bengbu, von der anderen Seite Shenzhens her am Bahnhof an, um Wang zu besuchen. Weil die Kunden ausgeblieben waren, herrschte in der Klinik eine trostlose Atmosphäre, die so gar nicht zur Jahrtausendwende passen wollte. Vor Erschöpfung dem Umfallen nahe, drängten sich die Therapeuten im Ruheraum. Sie waren zu müde zum Sprechen, aber im Stillen klagten sie: Warum hat der Chef uns heute nicht freigegeben?
»Unmöglich!«, hatte er gesagt. »Die Tage der anderen sind hell, unsere sind dunkel, für uns gelten andere Gesetze. An Tagen wie diesen vergnügen die anderen sich bis zur Erschöpfung, und das ist unsere Chance. Wer weiß, auf welchen Beinen das Geschäft heute zu uns hereinspaziert? Warten wir's ab! Und zwar alle zusammen.«
Also warteten sie miteinander, aber das Geschäft hatte sich ein Bein gebrochen und wollte nicht kommen. Müßig saßen Wang Daifu und Xiao Kong im Ruheraum herum. Endlich erhob sich Wang mit einem leisen Seufzer und ging ins obere Stockwerk. Xiao Kong hörte, wie er sich entfernte, und ein paar Minuten danach folgte sie ihm und tastete sich die Treppe hinauf in die Massageräume im ersten Stock.
Dort oben war es noch stiller als unten. Beide suchten sie sich den abgelegensten Raum aus, öffneten die Tür und setzten sich jeder auf eine Liege. Gewöhnlich waren die Massageräume brechend voll; so still war es hier nie zuvor gewesen. In der Milleniumsnacht hatte diese Stille etwas Beunruhigendes. Als wäre sie...
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