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Boddah, hatte der Typ gesagt. Da war bei ihr der Groschen gefallen. Nele duckte sich tiefer hinter das Mäuerchen. Sie kniete am Boden, drückte den Rücken durch, presste Brust und Stirn so fest auf die Oberschenkel, dass es wehtat. Rotz und Speichel tropften ihr aus dem Gesicht. Sie rang nach Luft, kämpfte gegen den Hustenreiz. Sie war sich nicht sicher, ob nicht ihr Haar, eine Schulter, die Wölbung des Rückens über die niedrige Einfassung aus Stein, von der sie sich Schutz erhoffte, hinausragte. Jenseits verlief der schmale, unbeleuchtete Pfad. Sie war blindlings in ihn hineingestürmt. Sie hatte keine Ahnung, wohin er führte. Jetzt bloß nicht durchdrehen!, ermahnte sie sich. Und auf keinen Fall durfte sie den Kopf anheben. Irgendwo dort draußen im Dunkeln suchte er sie.
Das Kitzeln im Hals ließ allmählich nach. Hatte die Polizistin ihren Notruf überhaupt verstanden? Nele hatte kein klares Wort hervorbringen können, geschweige denn einen verständlichen Satz. Ihre Kehle brannte. Ihre Schläfen pochten. Der Typ hatte sie gepackt, ihr die Luft abgedrückt. Noch immer spürte sie den Druck seiner Hände am Hals. Der Schreck hatte sie für einen Moment gelähmt, und dann hatte sie plötzlich rotgesehen. Sie war nur noch unbändige Wut gewesen. Wie sie es geschafft hatte, sich zu befreien, war ihr ein Rätsel. Da war ein Filmriss in ihrem Kopf. Sie erinnerte sich nur daran, dass sie losgerannt war.
Nele horchte in die Nacht hinein. Das Martinshorn war inzwischen verstummt. Einen Moment lang hatte sie an Rettung geglaubt. Aber das Heulen der Sirene hatte sich schnell entfernt. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hinterhergestürmt. Aber sie hatte sich nicht getraut, hatte nicht gewusst, wohin sie laufen sollte. Die Wege am Kalkberg waren ihr fremd. Es war lange her, dass sie mit den Eltern und Jens die Aufführungen im Stadion besucht hatte. Winnetou, Old Shatterhand . Am besten hatten ihr die Pferde gefallen. Jetzt, nach Mitternacht, war dort niemand mehr.
Wie konnte sie nur so blöd sein, mit ihm zu reden? Boddah! Wenn sie daran dachte, spürte sie wieder den eiskalten Schauer im Rücken. Sogar eine Zigarette hatte sie sich von ihm aufschwatzen lassen. Kaum zu glauben! Kurz zuvor war sie durch die laue Sommernacht getänzelt, betäubt vom Dröhnen der Partymusik. Das alles kam ihr unwirklich vor.
Das Klacken der Haustür, als sie hinter ihr zugefallen war, das gedämpfte Wummern der Bässe draußen auf der Straße. Wegen der Nachbarn mussten Fenster und Türen geschlossen bleiben. Die stickige Luft, die angetrunkenen Typen, das alles hatte ihr keinen Spaß mehr gemacht. Total bekifft hatte Ina ihr zum Abschied einen Kuss auf den Mund gedrückt und war auf die Tanzfläche gehopst. Sie hatte nicht mitkommen wollen. Die Fahrräder waren Nele erst eingefallen, da war die Haustür bereits hinter ihr zugefallen. Sie hatten sie unten in der Stadt am Café Coma zurückgelassen. Sie waren zu faul gewesen, sie die Straße am Kalkberg hochzuschieben. Ina war mit ihrem neuen Rennrad gekommen und hatte darauf bestanden, die Räder zusammenzuschließen. Nele hatte die spiralig gewundenen Kabel der beiden Schlösser vor Augen. Sie schlangen sich um die Felgen ihrer Räder, ihres um Inas und Inas um ihres, verknoteten ihre beiden Schicksale miteinander wie ein ewiges Versprechen. Schöne Freundin!, dachte Nele halb wütend, halb enttäuscht. Sie unterdrückte ein Schluchzen. Es war nicht fair von Ina, sich so gehen zu lassen, nicht, wenn sie gemeinsam loszogen.
Behutsam drehte sie das Gesicht zur Seite, um besser atmen zu können. Ihr Blick fiel auf ein zerknülltes Papiertaschentuch dicht neben ihrem Knie. Etwas Dunkles klebte daran. Sie musste sich zwingen, nicht aufzuspringen. Angewidert schloss sie die Augen, kämpfte gegen das Würgen im Hals. Sie schwitzte. Ihre Klamotten klebten ihr wie Zellophan an der Haut. Lederimitat. War teuer genug gewesen. Auf das Crop Top war sie besonders stolz. Vor zwei Jahren hatte sie es gegen den Willen der Mutter vom Konfirmationsgeld erstanden. Ein Crop Top mit abgrundtiefem Dekolleté. Zum ersten Mal fühlte sie sich nackt darin. Verletzlich. Und nun kniete sie im Dreck und saute sich ihr kostbarstes Outfit ein. Wenn sie nur wüsste, ob er noch da war, nach ihr suchte.
Sie hätte vorhin ein Taxi rufen sollen. Unschlüssig darüber, wie sie ohne Fahrrad nach Hause kommen sollte, hatte sie vor dem Mora Mora gestanden und dem Stimmengemurmel gelauscht, das aus dem Restaurant gedrungen war. Samstags war das Lokal am Kalkberg bis um 1 Uhr geöffnet. Sie hatte kurz daran gedacht, zu Hause anzurufen. Da war ihr der Streit mit der Mutter wieder eingefallen, und auf einmal hatte Nele keine Lust mehr verspürt, mit ihr zu sprechen, geschweige denn, sie um etwas zu bitten. Sie hätte das Taxi nicht bezahlen können. Einen Augenblick lang hatte Nele darüber nachgedacht, zu Fuß zu gehen. Bis zum Ihlsee schaffte sie es in einer knappen Stunde. Sie trug bequeme Laufschuhe. Auch das Wetter bot keinen Grund für eine Ausrede. Kurz nach Mitternacht war die Luft noch angenehm warm. Ein Jahrhundertsommer!, wie viele behaupteten. Sie fühlte sich zu jung, um das zu beurteilen. Schließlich entschied sie sich gegen einen Fußmarsch und beschloss, zur Party zurückzukehren, um Ina dort loszueisen. Sie wandte sich um und prallte gegen einen Mann. Wie ein Pfahl stand er plötzlich vor ihr, stierte auf sie herab, versperrte ihr den Weg. Keinen Millimeter wich er zurück, murmelte nur eine schlappe Entschuldigung, wenig überzeugend. Nele trat einen Schritt zurück. Er war mindestens zehn Jahre älter als sie, trug ein weißes Kurzarmhemd mit Kragen und eine helle Leinenhose. Geschniegelt bieder und nicht billig. Den Eltern würde er gefallen.
Plötzlich, als hätte sich ein Schalter umgelegt, wechselte seine starre Grimasse in ein strahlendes Lächeln. »Was muss ich tun, damit du mir nicht mehr böse bist?«, fragte er und wies mit dem Kinn zum Mora Mora hinüber. »Darf ich dich zu einem Drink einladen?«
Da hatte sie geglaubt, ihn schon einmal gesehen zu haben.
Nele kauerte hinter dem Mäuerchen und versuchte, die bedrohlichen Bilder der jüngsten Ereignisse zu verscheuchen. Wäre es klüger gewesen, ihn nicht abzuweisen, seine Einladung anzunehmen? Sie sollte nicht weiter darüber grübeln, sollte nach vorne schauen. Trotz der Wärme zitterte sie. Blöde Kuh!, schimpfte sie sich im Stillen. Weshalb musste sie auch die Zigarette mit ihm rauchen?
»Warte!«, hatte er nicht lockergelassen, die Zigarettenschachtel aus der Brusttasche seines Hemdes gezogen und aufgeklappt. »Nimm! Wenigstens eine. Tu mir den Gefallen!« Sein Ton war sanft und doch bestimmend gewesen.
Spätestens da hätte sie sich umdrehen und gehen sollen. Aber sie hatte nicht unhöflich sein wollen. Hätte sie denn das, was dann geschah, überhaupt verhindern können? Sie erinnerte sich an diese ungewöhnlich intensiven Augen, zwei Laserstrahler, die unerbittlich in sie eindrangen, als wollte er ihre geheimsten Gedanken erkunden. Allein die Vorstellung von seinen Augen irritierte sie. Dazu die Stimme und dieses geheimnisvolle Schnarren darin, das ihren Unmut über Ina und den Schreck des Zusammenstoßes besänftigte. Wie waren sie nur auf Punkmusik gekommen? Er hatte sie nach ihren Lieblingsbands gefragt. Das hätte sie stutzig machen sollen. Aber da war sie ihm längst auf den Leim gegangen. Sie nannte ihm ein paar Namen: Ana drinks dogpiss, Schleim und schon immer ihr absoluter Favorit, Baby Ari and The Slits. Er kannte sich gut aus. Und diese Augen, so fesselnd, als wollten sie sie verschlingen. Nicht wie die dümmlich verliebte Anmache der Jungen aus ihrer Klasse. Seine Aufmerksamkeit schmeichelte ihr. Er sah sie an, als wüsste er alles über sie. Unter ihrer Haut begann es zu prickeln. Und dann sagte er Boddah. Ein eisiger Schauer kroch ihr über den Rücken, und eine Stimme zischelte in ihrem Kopf: Hau ab!
Auf dem Pfad neben dem Mäuerchen näherten sich Schritte. Schwere Schritte. Auf ihrer Höhe hielten sie an. Nele presste die Lippen zusammen. Sie vernahm das Rascheln von Kleidung, dann wieder Schritte, leiser werdend, sich entfernend.
>Boddah!< Bestimmt hatte er ihr den Schreck darüber angesehen. Sie hatte den Zigarettenstummel auf den Asphalt geworfen und hastig die Glut ausgetreten. »Ich muss jetzt los«, hatte sie gesagt. »Danke für die Zigarette.«
Von ihm keine Geste, kein Wort. Sie drehte sich um und schlug den Weg in Richtung Party ein. Schau nach vorn!, ermahnte sie sich, als würde der Blick über die Schulter das Unheil herausfordern. Dann Schritte von hinten. Schwere Schritte. Sie rannte los, aber es kam ihr so vor, als kröche sie in Zeitlupe die Straße entlang. Der Augenblick blähte sich auf, eine Zeitblase, in die alles, was folgte, hineinstürzte und sich unheilvoll miteinander verband. Das Knallen ihrer Sohlen auf dem Asphalt. Das Wummern der Bässe. Die Party. Und wenn sie ihr Läuten nicht hörten? Sie sah sich schon mit den Fäusten gegen die Haustür trommeln - da packte er ihren Arm. Sein harter Griff, ihr wildes Gezerre und im Licht der Laterne das metallische Aufblitzen des Messers. Die Bilder brannten sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis.
Auf dem Pfad neben dem Mäuerchen war es still geworden. Nele lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Da waren nur die Geräusche der Stadt. Ferne Stimmen und das gedämpfte Rauschen von Automotoren. Sie verspürte ein Kribbeln in den Beinen. Lange könnte sie nicht mehr den Igel machen. Sie musste sich bewegen. Außerdem hatte sie nicht vor, in diesem Dreckloch die Nacht zu verbringen. Sie nahm all ihren Mut zusammen. Zögerlich, ganz langsam hob sie...
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