II. Was ist Leben?
Bei der Analyse des "Gefühls von Lust und Unlust" bin ich so vorgegangen, dass ich zunächst die dafür zuständige Wissenschaft befragte, also die Psychologie; sie hat sich aber merkwürdigerweise für unzuständig erklärt und uns mehr oder weniger im Stich gelassen. Wenn es im Weiteren um das "Leben" geht, wird man natürlich zuerst an die Biologie, die Wissenschaft vom Leben denken. Aber auch hier wird sich zeigen, dass die Antworten der Biologen eher unbefriedigend sind. Ich lade sie, lieber Leser, deswegen lieber zu einem kleinen Spaziergang durch die Geistesgeschichte der Frage "Was ist Leben?" ein, bei dem wir an einzelnen Stationen, wenn wir auf wichtige Vorschläge und Antworten stoßen, kurz verweilen wollen. Wie es sich gehört, beginne ich wiederum mit Aristoteles (384 v. Chr. - 322 v. Chr.).
In dem bereits weiter vorne zitierten Buch "Über die Seele" bemüht sich Aristoteles nicht nur um eine Definition des Begriffs "Leben", sondern er weist auch noch auf Unterschiede in der Bedeutung des Begriffs hin, wenn wir ihn auf die drei damals bekannten Arten von Lebewesen anwenden, nämlich auf Menschen, Tiere und Pflanzen:
Das Wort "Leben" hat aber mehrere Bedeutungen; von Leben sprechen wir, wenn auch nur eines von folgendem zutrifft, etwa Vernunft, Sinneswahrnehmung, Bewegung und Stillstand im Raum, ferner Bewegung im Sinne von Ernährung und Schwinden und Wachsen.
Was Aristoteles als Charakteristika des Lebens benennt, sind alles sog. Seelenvermögen. Aristoteles führt dann weiter aus, dass die Pflanzen allein die Ernährung als ihr Seelenvermögen haben, während für die Tiere das Wahrnehmungsvermögen das Lebensprinzip darstelle. Also Fähigkeiten der Seele bewirken das Leben, sind "Prinzip und Ursache des lebenden Körpers"; dabei besitzen die Pflanzen nur eine dieser Fähigkeiten, Tiere einige, der Mensch aber alle. Weil es so wichtig und so schön ist, noch ein Aristoteles-Zitat aus "De Anima":
Das Leben ist für die Lebewesen das Sein, Ursache und Prinzip davon aber ist die Seele.
An dieser Stelle sei noch auf einen anderen von Aristoteles geprägten Begriff hingewiesen, der im Weiteren noch wichtig werden wir, den Begriff "Entelechie". In der Metaphysik V. Teil (Potentialität und Aktualität) steht zu lesen:
Da nun aber das Seiende, wie nach seinem Wesen, seiner Qualität oder Quantität, so auch andrerseits nach dem Gesichtspunkte von Potentialität, von Entelechie als innerer Anlage und von Verwirklichung betrachtet wird, so wollen wir.
Die Entelechie, das "ein-Ziel-haben" erklärt nicht das Leben, sondern das Werden, den Drang der Lebewesen, ihre ihnen immanente Form zu verwirklichen. Die Entelechie hat also mehr mit der Entstehung der Vielfalt der Lebewesen, mit der Evolution zu tun, als mit dem Leben selbst. Das ist wichtig festzuhalten, weil die Entelechie später zu einem zentralen Begriff des Vitalismus wurde. Ich komme darauf zurück.
Wir steigen nun von den lichten Höhen der alt-griechischen Philosophie herunter in das schattige, feuchte, mitunder sumpfige Gebiet der mittelalterlichen Philosophie. Ich will mich dabei auf einen Vertreter beschränken, nämlich auf Thomas von Aquin (1225 -1274), der gelegentlich auch der "Aristoteles des Mittelalters" genannt wird, weil er Aristoteles häufig zitiert und viele seiner Thesen übernommen hart. Leider hat er die Aristoteles-Thesen zum Leben nicht übernommen, sondern stattdessen seine eigene krude Ideologie entwickelt. In seinem Werk "Summa Theologiae, Prima pars, Questio 18" schreibt er, zuächst noch unverfänglich:
Denn der Name (Leben) ist genommen von etwas äußerlich Erscheinendem, nämlich vom Sich-selbst-bewegen.
Nomen vitae ex hoc sumptum videtur, quod aliquid a seipso potest moveri.
Die Bewegung aus eigener Kraft, das autonome Handeln sollen also das Kennzeichen des Lebens sein. Das ist eine Feststellung, der man sich auch heute gut und gern anschließen kann. In "Secunda Pars Secundae Partis, Questio 64" lesen wir dann aber:
Tiere und Pflanzen haben keine Vernunft und somit keine Selbstbestimmung, dass sie aus sich thätig seien; sie werden nur von außen getrieben. Das ist das natürliche Anzeichen dafür, dass sie von Natur zum Dienen und zum Gebrauche anderer bestimmt sind.
Nun ist Thomas von Aquin nicht irgendwer; er ist nach der Entscheidung von Papst Johannes XXII ein Heiliger. 1567 wurde er in den Rang eines Kirchenlehrers erhoben. Der grauenvolle Umgang der Menschen mit den Tieren im Mittelalter wird von diesem Heiligen legitimiert. Aber es sind nicht nur die Tiere, mit denen dieser Träger der Ehrennamen "Doctor angelicus"und "Lumen ecclesiae" grausam und überheblich umgeht, Ähnliches geschieht den Frauen. Wiederum "Secunda Pars Secundae Partis, Quaestio 177":
...öffentlich vor der ganzen Gemeinde zu sprechen gebührt der Frau nicht: 1. weil sie auf Grund ihres Geschlechtes bereits dem Manne Unterthan sein soll . 2.weil die Gefahr droht, daß eine Frau die Hörer zur Begierlichkeit fortreißt, denn bei Ekkli.9. heißt es: "Die Unterredung mit ihr ist wie ein brennendes Feuer;" - 3. Weil gemeinhin die Frauen in der Weisheit nicht vollendet sind, so daß ihnen die öffentliche Lehre nicht übertragen werden kann.
Die Frau soll ihr Leben als Untertan des Mannes fristen; das ist nur konsequent, da die Frauen so etwas wie einen Missgriff der Natur darstellen: Wiederum "Summa theologica, Quaestio 92":
Denn die thätig wirksame Kraft im Manne will ihrer besonderen Natur nach etwas Ähnliches hervorbringen; nämlich etwas Männliches. Daß also etwas Weibliches gezeugt wird, geschieht entweder deshalb, weil die thätige Kraft zu schwach ist oder die Verhältnisse des entsprechenden empfangenden Stoffes keine angemessenen sind oder weil ein Einfluß von außen die Zeugung des Weiblichen veranlaßt, wie z.B. nach Aristoteles (4.de gener. 2.) jener der Südwinde, welche Feuchtigkeit mit sich führen.
Vielleicht kann man die thomistische Auffassung vom Leben so zuspitzen und zusammenfassen: Leben gibt es nur dort, wo eine Seele ist. Nur der Mensch besitzt eine Seele. Die Tiere und Pfanzen sind seelen- und leb-lose Automaten, die nicht für sich, sondern nur für den Menschen da sind. Frauen besitzen zwar eine Seele, aber sie ist von Anfang an defekt, minderwertig. Vollkommenes Leben, so der Doctor angelicus, besitzen nur die Menschen mit einem Penis.
Ja, das Mittelalter war finster; und das Lumen ecclesiae, das Licht der Kirche, hat diese Finsternis nicht erhellt, sondern mitverursacht.
Wir kommen nun zu Rene Descartes (1596 - 1650). Er gilt als der Vater der modernen Philosophie und als solcher soll er uns aus den von der Ideologie verschatteten Bezirken herausführen ans helle Licht der Vernunft. Und dafür wird er zu Recht bis auf den heutigen Tag geehrt und gefeiert. Was seine Einstellung zu den Lebewesen angeht, hängt er allerdings noch gänzlich dem mittelalterlichen Dogma an. Im seinem "Discourse de la methode" schreibt er über die Tiere:
., dass sie keinen Geist haben und allein die Natur in ihnen nach der Disposition der Organe handelt. Man sieht ja auch, dass ein Uhrwerk, das bloß aus Rädern und Federn besteht, richtiger als wir mit aller unserer Klugheit die Stunden zählen und die Zeit messen kann.
Aufgrund solcher Überlegungen konnte man damals Tiere bei lebendigem Leib sezieren. Ihre Schreie waren nicht der Ausdruck von Schmerzen, Tiere haben ja keine Gefühle, sondern so etwas wie das Quietschen eines Rades bei einem Fuhrwerk. Auch der Körper des Menschen ist eigentlich eine Maschine, die allein dadurch, dass sich die Seele mit dem Körper verbindet, zu einem wirklichen Menschen wird. Diese seelenlosen Körper werden Jahrhunderte später, in der "philosophy of mind" als Zombies eine wichtige Rolle spielen.
Es wird Zeit, dass wir auf unserem kulturgeschichtlichen Spaziergang die mittelalterlichen Sümpfe verlassen und uns auf eine lichtdurchflutete Hochebene begeben. Dort stoßen wir auf ein eingezäuntes Areal mit einem Schild "Vitalismus". In diesem Areal stehen drei Felsblöcke mit den Namen "Immanuel Kant", "Hans Driesch" und "Henri Bergson". Bleiben wir also vor dem ersten dieser Felsen mit der Inschrift " Immanuel Kant" stehen.
Soweit ich weiß, beschäftigt sich Immanuel Kant an keiner Stelle expressis verbis mit dem Begriff Leben. In der "Kritik der Urteilskraft" gibt es aber einen "Zweiten Teil. Kritik der teleologischen Urteilskraft", in dem er sich mit der Teleologie als innerem Prinzip der Naturwissenschaft beschäftigt. In diese Diskussion müssen wir nicht einsteigen; wir brauchen sie nur insoweit, als Kant meint, dass über Organismen "nach dem Begriffe von Endursachen...