Kapitel 1
Livi
Leere. Seit Ewigkeiten fühle ich nichts als Leere. Seit einem Jahr, zwei Monaten und neun Tagen, genau genommen. Es war dieser Tag im Dezember, der alles zerstörte. Meine Vergangenheit, meine Gegenwart, meine Zukunft.
Der plötzliche Schneefall hatte mir von Anfang an nicht behagt. Ich hätte sie davon abhalten müssen, ihnen klarmachen, wie leichtsinnig es ist. Doch ich tat es nicht. Sie waren gerade einmal sechs Stunden unterwegs, als die Polizei plötzlich vor meiner Tür stand. Was die Beamten sagten, klang real und surreal zugleich. Das Auto sei von der Straße abgekommen. Keiner von ihnen hätte überlebt. Eine schreckliche Tragödie.
Sie sind fort. Mein Mann, meine Mutter, mein Vater. Und sie haben einen Teil von mir mitgenommen. Übrig geblieben ist bloß eine leere Hülle, die nichts mehr fühlen kann und nichts mehr fühlen will. Von einem Moment auf den anderen hörte meine Welt auf, sich zu drehen.
Doch seit ein paar Tagen spüre ich, wie etwas in mir gegen diesen Zustand ankämpft. Spüre, dass ich wieder mehr sein will als dieser Schatten meiner selbst. Ich will wieder leben. Sie hätten es so gewollt, ganz bestimmt. Ich habe die Chance, die sie nicht mehr haben, deshalb muss ich sie nutzen. Aber das kann ich nicht hier, nicht an dem Ort, wo mich alles an sie erinnert.
Daher trete ich die Reise an, die sie nie beenden konnten. Ich lasse Oslo - und damit meine Vergangenheit - endgültig hinter mir, das Auto voll beladen mit meinen Habseligkeiten, und mache mich auf den Weg nach Bergen. Vierhundertfünfundsechzig Kilometer in gut sieben Stunden.
Anspannung und Angst machen sich in mir breit, sie wachsen in mir mit jedem Kilometer, den ich zurücklege. Je näher ich der Unfallstelle komme, desto mehr ergreifen sie Besitz von mir, lassen mich nahezu in Panik verfallen. Ich spüre eine unsichtbare Hand, die meine Kehle zudrückt. Ich kann da nicht vorbei! Lieber nehme ich einen großzügigen Umweg in Kauf. Es ist mir egal, wie viel Zeit ich dabei verliere.
Erst hundert Kilometer weiter traue ich mich, eine Pause einzulegen. Jetzt, wo ein wenig Druck von mir abfällt, wird mir bewusst, wie sehr jede Faser meines Körpers schmerzt. Ich steige aus und strecke mich. Kalter Wind schlägt mir entgegen und peitscht mir mein blondes Haar ins Gesicht. Mit einem tiefen Atemzug sauge ich die kalte Märzluft in meine Lungen. Das Schlimmste hast du geschafft, rede ich mir ein. Nachdem ich mir ein wenig die Beine vertreten habe, trinke ich einen Schluck Kaffee aus meinem Thermobecher und würge einen Schokoriegel hinunter.
Wie ich den Rest der Fahrt überstehen soll, weiß ich nicht. Ich sehe die Straße nur im Tunnelblick, starre stur geradeaus und lasse die Landschaft unbeachtet an mir vorbeiziehen. Erst als die ersten Häuser von Bergen in mein Sichtfeld rücken, spüre ich, wie sich etwas in mir regt. Mein Puls beschleunigt sich, und ich frage mich, ob ich tatsächlich so etwas wie Vorfreude verspüre. Oder ist es Angst? Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.
Jetzt ist es nicht mehr weit. Es geht ein Stück stadteinwärts, bis eine kurvenreiche Bergstraße hinauf in das Wandergebiet Fløivarden Bivouac führt. Mein Ziel ist der kleine See Revurtjernet, in dessen Mitte auf einem Inselchen das Haus meines verstorbenen Opas thront. All die Jahre habe ich es nie geschafft, ihn zu besuchen, weshalb das hier eine Fahrt ins Ungewisse ist.
Die letzten Kilometer kommen mir endlos vor. Auf den verschlungenen Straßen komme ich nicht besonders schnell voran. Als die Straße eine scharfe S-Kurve macht, verkündet mein Navigationsgerät: »Sie haben Ihr Ziel erreicht. Das Ziel befindet sich auf der linken Seite.«
Verdutzt schaue ich mich um, sehe weit und breit nur Bäume. Einen See jedoch nicht. Zweifelnd parke ich den Wagen am Waldrand und beschließe, mich ein wenig umzusehen. Als ich unter die noch kahlen Baumkronen trete, fallen mir am Boden fast zugewachsene Fahrspuren auf. Eine Gruppe von Wanderern kommt mir entgegen und grüßt freundlich. Vielleicht können die mir helfen.
»Entschuldigung, ist hier in der Nähe ein See?«
Einer der Männer deutet in die Richtung, in die ich unterwegs bin. »Ist nicht mehr weit. Noch ein Stückchen geradeaus, dann werden Sie ihn sehen.«
»Vielen Dank.«
Nach etwa einhundert Metern lichten sich die Bäume, und der Blick auf den See eröffnet sich mir. Ich beschleunige meine Schritte und erreiche das Ufer. Die Umgebung nehme ich zunächst nicht wahr. Alles, was ich sehe, ist das hübsche norwegische Häuschen mit dem roten Anstrich, welches mir von der kleinen Insel aus entgegenlacht.
»Willkommen zu Hause«, sage ich zu mir selbst. Ich laufe nach rechts am Ufer entlang, bis ich an einen langen Holzsteg gelange, der direkt zum Haus führt. Ein halbhohes Tor versperrt den Durchgang für ungebetene Gäste. Doch augenblicklich kommt mir in den Sinn, dass es ein Leichtes wäre, dieses Hindernis zu überwinden. Unbehagen macht sich bei dem Gedanken, hier oben ganz allein zu leben, in mir breit.
Dennoch kann ich es kaum erwarten, mich im Haus umzusehen. Mit zittrigen Fingern hole ich den Schlüsselbund aus meiner Manteltasche hervor, um auszuprobieren, welcher der Schlüssel zum Tor gehört. Beim dritten Versuch öffnet sich das Schloss, und ich stoße das quietschende Tor auf. Der Steg ist bedeckt mit Schmutz und Laub. Ich atme tief ein und richte meinen Blick wieder auf das Haus. Beim Näherkommen fällt mir auf, dass die Farbe an den Hauswänden abblättert. Die ehemals weißen Fensterläden sind verschlossen. Gleich neben der Haustür steht eine verwitterte Holzbank. Hier wartet einiges an Arbeit auf mich.
Mit klopfendem Herzen wende ich mich der Haustür zu. Dieses Mal erwische ich gleich beim ersten Versuch den richtigen Schlüssel. Neugierig betrete ich den schmalen dunklen Flur, und ein unangenehmer Geruch schlägt mir entgegen. Übelkeit steigt in mir auf, und ich ziehe rasch meinen Schal vor die Nase. Ich knipse das Licht an und bin erfreut, dass es funktioniert.
Auf der linken Seite steht eine Tür offen. Ich spähe in den Raum und entdecke ein kleines Bad mit Dusche. Eine Tür weiter finde ich die Küche. Als ich auch hier das Licht einschalten will, gibt es einen Knall, und die Glühbirne brennt durch. Erschrocken kreische ich auf. Ruhig bleiben, Livi! Es ist nichts passiert.
Vorsichtig durchschreite ich den Raum, um das Fenster und die Fensterläden zu öffnen. Als Licht von draußen hereinströmt, stelle ich zu meiner großen Überraschung fest, dass mich hier eine hübsche weiße Landhausküche erwartet. Ein wunderschöner Büfettschrank sowie ein kleiner Tisch mit vier Stühlen befinden sich ebenfalls in dem Raum.
Neugierig trete ich wieder in den Flur und entdecke schließlich das Wohnzimmer. Sofort öffne ich alle Fenster und lasse Licht und Luft herein. Erst dann schaue ich mich in Ruhe in dem großzügigen Raum um. Hier stehen zwei kleine Sofas mit grauenvollem Blümchenmuster, ein Esstisch mit sechs Plätzen und ein in die Jahre gekommener dunkler Eichenschrank.
Der Schrank weckt meine Aufmerksamkeit. Nicht, weil er mir gefallen würde - nein. Die Fotos, die darauf stehen, ziehen mich magisch an. Als ich näher trete, bildet sich ein Kloß in meinem Hals. Ich sehe Oma und Opa, wie sie strahlend in die Kamera lächeln. Gleich daneben sehe ich Mama und Papa, wie sie mich als kleines Mädchen auf dem Arm halten. Und ich sehe Kristian und mich. Bei unserer Hochzeit. So glücklich und so lebendig.
Plötzlich spielt sich dieser Tag vor meinem geistigen Auge wie ein Film ab. Kristian hatte sich gewünscht, auf einem Schiff zu heiraten. Er liebte alles, was mit Wasser zu tun hatte. Und er liebte Pizza, weshalb diese auf unserem Büfett nicht fehlen durfte. Wir beide sind beinahe vor Glück geplatzt.
Und jetzt gibt es nur noch mich. All diese Menschen auf den Bildern sind einfach weg. Ausradiert aus dem Leben. Tränen brennen in meinen Augen, und die Trauer überwältigt mich wie eine große brechende Welle, reißt mich erbarmungslos mit sich, zieht mich herunter auf den dunklen kalten Meeresgrund.
Ich dachte, ich könnte hier neu anfangen. Doch jetzt wird mir klar, wie naiv ich war. Die Erinnerungen haben mich hierher verfolgt. Sie lassen sich nicht einfach abschütteln. Plötzlich spüre ich einen Fluchtreflex in mir. Ich kann mich gerade noch dazu durchringen, die Fenster zu schließen, dann stürze ich aus dem Haus und renne zum Auto. Ohne nachzudenken, starte ich den Motor, mache eine Kehrtwende und fahre hinab in die Stadt. Hauptsache weg von hier.
Ein Gefühl der Leere verdrängt meine Trauer, und ich heiße es willkommen. Lieber fühle ich nichts, als diesen Schmerz, der mich zerfrisst. Völlig mechanisch folge ich den Anweisungen des Navigationsgeräts und kurve mit meinem grauen VW Golf die Serpentinenstraßen hinunter. Erst als ich am Fuße des Fløyen ankomme, halte ich an und ziehe das Handy aus meiner Tasche, um mir in der Nähe ein Hotel zu suchen. Irgendwo muss ich schließlich schlafen, und ganz gewiss nicht da oben auf dem Berg.
Fündig werde ich im Radisson Blu Royal und buche...