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Kapitel 1
Vermutlich hätte ich Frank heute Morgen eine SMS schicken sollen, um ihm zu sagen, dass ich die Nacht draußen in der Wildnis verbringen würde. Und dass ich ihn, na ja, trotz allem liebe. Man weiß ja nie, wann die letzte Gelegenheit ist, jemandem die Dinge zu sagen, die man ihm sagen will.
Ich kenne Frank. Postwendend würde er zurückschreiben: »Im Ernst? Denk dran, wie es beim letzten Mal ausgegangen ist.« Ich bin kein Abenteuertyp - zumindest ist das die Version von mir, die er kennt. Aber das ist mein Zwanzigstes-Jahrhundert-Ich, denn hier bin ich, mit einem Rucksack auf dem Rücken, der weitaus schwerer ist, als er aussieht, und gebe die Nachhut dieser Prozession ohne die geringste Ahnung, worauf ich mich eingelassen habe, außer dass ein »Ritual« stattfinden wird, wenn wir dort ankommen, wo auch immer »dort« ist.
Wenn ich es mir recht überlege, hätte er meine SMS wahrscheinlich als Aufforderung verstanden, mich anzurufen. Er würde genauer Bescheid wissen wollen. »Also, was sind das noch mal für Frauen?«
Was sollte ich darauf sagen? Dass ich zwei von ihnen aus der Zeit kenne, als die Kinder klein waren, mir die anderen aber unbekannt sind? Er würde schweigen und sich fragen, ob ich die gebührende Sorgfalt hatte walten lassen. Drohten nicht Buschfeuer nach der ganzen Dürre? Würde sich fragen, ob ich endgültig übergeschnappt sei und mich zum Sterben in die Wildnis aufgemacht hätte, oder was. Wobei das vielleicht gar kein so schlechter Tod ist, wenn man es genauer betrachtet.
Er würde wissen wollen, ob ich die Cortisonsalbe gegen den Juckreiz dabeihätte. Was er damit tatsächlich meinen würde, wäre: »Ist er noch da? Ist es schlimmer geworden?«
Drei Monate Landluft haben keine wundersame Heilung bewirkt, jedenfalls nicht, was den Hautausschlag angeht, der vermutlich nur ein weiteres unglamouröses, auswegloses Wechseljahressymptom ist. Ich würde es mit der Wahrheit nicht ganz so genau nehmen und antworten: »Ich habe mich kein einziges Mal gekratzt, bis es geblutet hat«, nur um ihn zu beruhigen.
Einer der Gründe, warum man die Menschen anlügt, die man liebt, ist, dass man ihnen Sorgen ersparen will, wobei ich feststellen musste, dass es sich hierbei um verdammt dünnes Eis handelt und man sich damit ein mordsmäßig unbefriedigendes Liebesleben einhandelt.
Danach würde er sich erkundigen, wie es dem Auge ginge, und in seiner Stimme könnte ich Erleichterung darüber hören, dass die migräneartige, Panik heraufbeschwörende minutenlange Sehstörung auf meinem linken Auge aufgehört hat (wir also davon ausgehen können, dass es kein Hirntumor ist). »Da siehst du, ich mache dich krank«, würde er witzeln, und ich müsste lachend erwidern: »So ein Quatsch.«
Dann erst würde er einfließen lassen, worum es ihm eigentlich ging, was er geduldig zurückgehalten hatte so wie Detektiv Colombo seine verhängnisvolle Frage. »Und wo genau seid ihr unterwegs? Ist das ein ausgewiesener Wanderweg? Hat er einen Namen?« Und noch bevor wir uns verabschiedet hätten, hätte er ihn auf Google Maps ausgekundschaftet.
Für seinen Geschmack gäbe es einfach zu viele »Weiß ich nicht«.
Und zu viele Merkwürdigkeiten wie die Tatsache, dass wir schweigend wandern. Aber das war Fionas Einfall, nicht meiner, und genau deshalb habe ich mich überhaupt darauf eingelassen. Man kann sich sein Leben lang darum bemühen, von anderen bemerkt zu werden, anderen das Ohr abzukauen, wie meine Mutter sinnlose Geschwätzigkeit oft nennt, aber letzten Endes lässt nur die Stille zu, dass du du selbst bist.
Das Schweigen nehme ich als Zeichen, dass es meine Bestimmung ist, hier zu sein, denn ich habe kein Gramm Selbst mehr für andere übrig. Mit Müh und Not habe ich die Reste, die mir nach zwei Jahrzehnten Muttersein geblieben sind, zu einem kleinen ordentlichen Haufen neben der Tür zusammengekehrt, und über den wache ich wie eine Elefantenmutter über ihr Kalb.
Vierundzwanzig Stunden lang nicht zu sprechen, würde bei Frank eine Panikattacke auslösen.
Ja, es ist besser, wenn er nicht alles weiß.
Meine Gedanken kreisen weniger um Schlangen als sonst, wenn ich draußen im Busch bin. Tatsache ist, dass ich seit dem Wochenende auf dem Land mit Helen vor sieben Jahren keine mehr gesehen habe. Vielleicht bin ich den müßigen, absurden Ängsten entwachsen, nachdem so viele echte ihren Platz eingenommen haben. Dieser Wanderstock leitet mich und kündigt mich an, bevor meine Füße den Boden berühren. Eine bedingungslosere Unterstützung habe ich schon lange nicht mehr gehabt, BHs und Rückenlehnen eingeschlossen; er ist ein aufrichtiger und robuster Freund. Er wiegt wenig und liegt so gut in meiner Hand, als wäre er eigens für sie gemacht, so wie ein steifer Schwanz sich mit behaglicher Vertrautheit in dir einpassen kann.
Nicht dass mich jemand danach gefragt hätte, aber tatsächlich habe ich in den vergangenen Monaten nicht viel an Schwänze gedacht. Zuneigung muss nicht unter allen Umständen an Abwesenheit geknüpft sein, auch wenn ich das Frank gegenüber niemals aussprechen würde. Ich bin nicht völlig dämlich, es käme nur wieder als Verletzung rüber.
Majestätisch überragen uns runzlige Bäume, mythische Titanen, die Stars der Natur, ganz ohne Paparazzi. Ohne jeden Zwang bringen sie einen zum Schweigen. Sie spielen ihre Autorität nicht aus, dennoch sollte man sich über die eigene untergeordnete Rolle im Klaren sein. Während der Morgen sich mehr und mehr durchsetzt, wickelt sich das Sonnenlicht wie Schleifen durch ihre Zweige. Immer wieder halte ich inne und beobachte, wie das Licht flattert und changiert. Es schlingt sich um die Stämme wie eine Pole-Tänzerin. Man muss einfach stehen bleiben. Immer wieder. Wirklich stehen bleiben. Das sollte man sich im Leben zur Regel machen.
Jetzt, da wir unsere schweigende Wanderung begonnen haben, bin ich froh, dass ich die SMS an Fiona mit der feigen Ausrede heute Morgen nicht abgeschickt habe. »Bin mit Kopfschmerzen aufgewacht.« Mit dem Cursor war ich vor das Wort »Kopfschmerzen« gewandert und hatte »lähmenden« eingefügt. Dann hatte ich beide Wörter gelöscht und »Migräne« getippt. Daraufhin hatte ich alles gelöscht. Eine Lüge riecht man von Weitem, und Fiona hat an ihrem ersten Geburtstag allein etwas Besseres verdient.
Ich verlangsame meinen Schritt, damit die Trittgeräusche der anderen meinen Rhythmus nicht beeinflussen.
Der Abstand vergrößert sich, sodass ich meine fünf Begleiterinnen im Blick habe, die im Gänsemarsch vor mir hergehen.
Früher war ich von meiner Menschenkenntnis überzeugt. Sie war meine Superkraft, war wie ein Drogenhund, der Schmuggelware erschnüffelt, egal wie abwegig das Versteck ist. An der Art und Weise, wie sich jemand das Essen auf den Teller häufte, konnte ich erkennen, ob sie in der Liebe großzügig oder knausrig war, eine, die Regeln befolgte oder rebellierte, eine Tigermutter oder eine Glucke.
Im Handumdrehen hatte ich jemanden durchschaut und anhand der Kleidung (mit oder ohne Ohrringe, ob herabbaumelnde oder Ohrstecker), anhand der Schweigsamkeit und der Bemerkungen, die sie zum Lachen brachten, erschlossen, ob ich sie zur Vertrauten, Bekannten oder zur Facebook-Freundin machen wollte.
Nach einer Stunde Wandern hätte ich alles über die anderen gewusst - in welchem Zustand ihre Ehen waren, die Beziehung zu ihren Müttern und ob sie in problematischen Zeiten bei Kentucky Fried Chicken, beim Wodka oder im Gebet Zuflucht suchten. Anhand von Cates Erklärung, nichts als einen kleinen Tagesrucksack und eine Ukulele mitzunehmen (wie uns Letztere bei einem Notfall helfen soll, ist mir noch nicht ganz klar), Kiris herrischem Rüffel vor unserem Start und Yasmins grell bemalten Lippen hätte ich die Lücken gefüllt, jede Einzelne mit einem Etikett versehen und in eine Schublade gesteckt. Zu jeder ihrer Geschichten hätte ich mir eine Meinung gebildet.
Doch ich würde mich täuschen. Wie schon so oft zuvor. Zweiundfünfzig Jahre lang bin ich durchs Leben gestolpert und von einer Gewissheit zur nächsten getaumelt. Und dann kommt der Punkt - wie bei den scheinbar unerschöpflichen Reserven an Klopapier im Wäscheschrank -, an dem einem die Gewissheiten ganz einfach ausgehen. Und lasst euch sagen, es ist verflucht noch mal großartig, wenn man sie los ist. Es ist beinahe so befreiend, wie wenn man seine Periode nicht mehr bekommt.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich meine Meinung zu den Plänen abgegeben, insbesondere zur Frage nach dem Essen. Heute aber bin ich die Nachzüglerin. Fragt mich nicht, wo wir schlafen und was wir essen werden. Ich habe keine Ahnung. Es ist eine erschütternde Erleichterung, derart nutzlos und ohne jede Autorität zu sein. Man sollte meinen, dass einem diese Erkenntnis schon viel früher hätte kommen können, wenn man bedenkt, wie sich die Dinge mit den Kindern entwickelt haben.
Ich spiele ein Spiel. Die Stille erlaubt es mir. Wie viele Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen braucht es? Hundert? Tausend? Zehntausende? Wie viele für jedes Kind? Der Vorname (die Hänseleien auf dem Schulhof in der Grundschule prägen das Leben). Der Nachname (Frank und ich haben erst nach der Geburt der Kinder geheiratet, also mussten wir die Sache ausdiskutieren). Stillen oder Flasche? Wann impfen. Zu welchem Zeitpunkt feste Nahrung füttern. Beschneiden? Paukenröhrchen? Operieren? Antibiotika oder Bachblütentherapie? Sind Joghurt/Johannisbrot/Nutella/Fruit Loops etwas zum Naschen? Ja oder Nein zu Softdrinks? Wann ist Schlafenszeit? Welche Schule? Tennis oder Karate? Geige oder Schlagzeug?...
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