Schweitzer Fachinformationen
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»Hanna, du schuldest mir noch 30 Cent«, erinnert mich mein Klassenkamerad Youssef, der sich auf der Treppe an mir vorbeigeschlichen hat und mir jetzt von etwas weiter oben einen grimmigen Blick zuwirft.
Ich blinzle zu meiner besten Freundin Eda rüber, Eda blinzelt zurück. Ihr Blick sagt: Ernst? Er will 30 Cent für ein Trinkpäckchen wiederhaben? Also wühle ich in meiner Lederjacke und spüre dabei Youssefs stechenden Blick im Nacken. Er steht da, schweigend im lauten Schulgetümmel, so aufrecht und stolz, als sei er El Patrón persönlich, und feilscht um ein paar Cent wie ein pingeliger deutscher Finanzbeamter.
Wie jeden Montagmorgen haben Eda und ich uns etwas früher in der Schule getroffen, um weiter in Bushidos Biografie zu lesen, die wir uns zusammen gekauft haben. Er ist unser Lieblingsrapper und dreht bald sogar einen Film zu dem Buch. Wir fanden es schlauer, zusammenzuschmeißen, weil wir so gleich jede Seite nachbesprechen können und keine auf die andere warten muss oder so. Obwohl wir uns überhaupt nicht ähnlich sehen, wirken wir von Weitem wie eineiige Zwillinge. Unter unseren schwarzen Lederjacken tragen wir graue Hoodies, dazu weite Jogginghosen und weiße Sneakers. Kein ungewöhnlicher Look in unserem Viertel.
Wir sind 13 Jahre alt und unzertrennlich, seit wir vor dreieinhalb Jahren auf das Gymnasium gekommen sind. Youssef gehört nicht zu unserer Clique, aber wir müssen manchmal Geschäfte mit ihm machen, weil er krass organisiert ist und immer Geld dabeihat. Weil unsere Eltern uns Pausenbrote schmieren, bekommen wir nicht oft Geld mit in die Schule - und wenn man dann doch mal Bock auf ein Ciabatta oder ein Trinkpäckchen aus dem Kiosk hat, muss man sich halt durchfragen. Das machen hier alle so. Wenn ich Geld habe und jemand fragt mich, will ich die 1,40 Euro hinterher nicht zurück. Eda auch nicht. Youssef tickt da anders. Er macht aus Geld Politik. Er ist einer, der im Schulkiosk steht und der Kantinenfrau empört hinterherruft: »'tschuldigung, ich bekomme noch drei Cent zurück!« »Tam alman«, wie Eda und die anderen sagen würden. Ein krasser Alman. Eigentlich ist Youssef Marokkaner, er hat dieselben braunen Locken wie ich. Nur dass seine raspelkurz geschnitten sind und ich meine jeden Tag glätte. Sein Gesicht ist markant, er ist groß und schlank. Wenn er nicht so geizig wäre, könnte man ihn glatt süß finden.
Eda kramt 20 Cent aus ihrer Tasche, reicht sie Youssef rüber und grinst: »Den Rest kriegst du morgen.« Youssef nickt, stopft sich die Münze in die Hosentasche, zieht seinen zum Schultornister umfunktionierten Turnbeutel fest und stapft die Treppe hoch. Dann dreht er sich wieder zu mir um.
»Hanna?«, fragt er.
»Ja?«, antworte ich skeptisch. Er macht eine lässige Handbewegung, zieht den Mundwinkel nach oben und sagt: »Weißt du, die übrigen 10 Cent. Die schenke ich dir.«
Im selben Moment kommt David um die Ecke. Er klopft Youssef im Vorbeigehen auf die Schulter und kommentiert: »Bruder, heute hast du aber deine Spendierhosen an, samma.« Dann hüpft er mit einem breiten Grinsen gleich zwei Treppenstufen hoch und düst rechts an ihm vorbei ins Klassenzimmer unserer 8c.
»Junge, von dir bekomme ich auch noch Geld«, brüllt Youssef ihm hinterher.
David gehört auch zu unserer Clique. Er und ich sind dicke, seit wir in der fünften Klasse zusammengesetzt wurden. Er ist blond und deutsch und das komplette Gegenteil von Youssef. Wenn er von seiner Oma Geld bekommt, wirft er es in die Mitte und sagt: »Lass mal was machen heute. Ich hab Fuffi.« Das ist bei allen in der Clique so. Wer Geld hat, gibt aus. Und wenn alle Geld haben, wirft einfach jeder was in die Mitte. Meistens werden die Scheine dann noch wie wild hin und her geworfen, weil jeder für die anderen bezahlen will. In unserem Stadtteil Brackwede hat keiner massenweise Geld zur Verfügung. Viele Familien müssen sich ihres sogar strikt einteilen, um über die Runden zu kommen.
Aber das spielt gar keine Rolle, für uns ist Großzügigkeit einfach die coolere Pose, die entspanntere Haltung, die uns von Leuten wie Youssef unterscheidet. Die sind für uns der Inbegriff des deutschen Spießbürgertums. So will man um sein Leben nicht sein. Wie diese Deutschen, die sich heimlich unterm Tisch aus ihrer Brotdose Süßigkeiten greifen, damit sie nicht teilen müssen. Oder die, die jede Einladung dankend annehmen, aber nie auf die Idee kommen, auch mal was auszugeben. Kennt doch jeder diese Leute, die immer nur den Gewinn sehen, nicht die Geste.
Youssef macht sich auch nichts aus Gesten. Er sieht seine Leihgaben als beginnende Geschäftsbeziehungen. Er der Gläubiger, wir die Schuldner. Natürlich wirft sein Modell noch nichts ab, aber er hat schon mal den Markt eröffnet. Und die Nachfrage steigt. Trotzdem stört es ihn, dass er sein Geld immer erst so spät zurückbekommt. Den Euro, den er David vor ein paar Wochen geliehen hat, hat er immer noch nicht wieder. Aber ihm fehlt das richtige Druckmittel. Etwas, was David und jeden anderen Debitor in die Knie zwingt.
Der aktuelle Mathestoff bringt Youssef auf eine Idee. »Junge, ich hab dir vor eineinhalb Monaten einen Euro geliehen«, ruft Youssef am Mittwoch nach der zweiten Stunde und läuft zu Davids Platz rüber. »Mit einem Zinssatz von 10 Prozent am Tag liegst du bei 4,50 Euro Zinsen. Ich bekomme also genau 5,50 Euro von dir«, rechnet er laut vor, während alle in der Klasse hastig zusammenpacken, um schnell in die große Pause zu entschwinden. In Mathe haben wir gestern mit Zinsrechnung angefangen, aber wirklich kapiert hat das keiner. Unser Lehrer hat uns die Formeln vorne neben die Tafel gehängt, aber da hat nur irgendjemand einen gigantischen Penis draufgemalt.
»Okay, er denkt so, er ist Peter Zwegat.« David grinst.
»Bei einer Bank musst du auch Zinsen zahlen«, gibt Youssef trocken zurück.
»Du bist aber keine Bank, Junge. Was für Zinsen? Bist du durch, man?« David schaut ihn entgeistert an, während er seinen Kram zusammenpackt.
»Ich sag nur, du solltest so schnell wie möglich bezahlen«, fordert Youssef uneinsichtig.
»Was sonst, Junge? Kommt dann der Gerichtsvollzieher?« David lacht provokant, während er aus der Tür läuft. Youssef eilt ihm hinterher. »Du hast bis morgen Zeit!«, droht er. Aber David ist schon weg.
Klar könnte man Youssef einen guten Geschäftssinn unterstellen, aber seine Erbsenzählerei geht uns einfach nur auf den Sack. Seinem Geiz nach zu urteilen müsste die Familie stinkreich sein, aber ich glaube, viel Geld haben die nicht. Sicher weiß ich das nicht, ist nur so ein Gefühl. Die Eltern lassen sich hier in der Schule schließlich nie blicken. Die Mama haben wir einmal auf einer Klassenfeier gesehen, aber sonst kümmert sich Youssef um alles. Er geht sogar alleine zum Elternsprechtag. Während ich sämtlichen Kram sogar dann zu Hause vergesse, wenn meine Mama mich doppelt und dreifach daran erinnert, vergisst Youssef nie etwas. Er hat jedes Formular zum Stichtag dabei, nimmt immer seinen Erdkunde-Atlas mit und bestellt die Bücher für das nächste Schuljahr, noch bevor die Sommerferien überhaupt angefangen haben. Die Lehrer lieben ihn, und seine Zeugnisse werden von Jahr zu Jahr besser. Meine werden seit der sechsten Klasse immer schlechter. Während mir das, was vor und nach dem Unterricht passiert, mittlerweile wichtiger ist als der Unterricht, ist es bei Youssef genau andersrum. Er interessiert sich nicht für seinen Status bei den Mitschülern. Ihn juckt es nicht, ob man ihn cool findet oder nicht. Er ist der klassische Eigenbrötler. Aber irgendwie macht ihn seine Gleichgültigkeit auch unangreifbar. Als wir im Deutschunterricht »Kleider machen Leute« gelesen haben, hat die Lehrerin uns gefragt, wo wir unsere Kleidung kaufen und welche Marken wir mögen. Da hat er sich gemeldet und fröhlich »Aldi« geantwortet. Natürlich hat die ganze Klasse gelacht. Aber das hat Youssef nicht gestört. Er hat nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Ja, ist doch so, die haben gute Sachen.«
Rückblickend macht ihn das natürlich cool. In dem Alter so ein stabiles Selbstbewusstsein zu haben ist schon selten. Ach komm, seien wir mal ehrlich: Das ist in jedem Alter etwas Besonderes. Wir hätten uns damals auf jeden Fall eher ein Bein abgehackt, als das mit den Aldi-Sachen zuzugeben. Obwohl wir selbst 24/7 in nicht gerade wenig offensichtlich gefälschten Gucci-Gürteln rumliefen. Schon komisch, die Schüler vom Bielefelder Vorzeige-Gymnasium in der Innenstadt konnten wir auf den Tod nicht ausstehen: Diese American-Apparel-Armee, die vom Beifahrersitz ihrer Porsche fahrenden Papis zweifelsohne in eine gute Zukunft blickten. Während ihr Schulgelände nach alter Baukunst errichtet worden war und umsäumt von Eichenbäumen, Blumenwiesen und Restaurants war, lag unsere Schule an einer Ausfahrtstraße gegenüber des Industriegebiets und war von Betonboden und Tischtennisplatten umgeben. Aber sosehr wir das ganze Geprotze auch ablehnten: Für Kleidung von Aldi waren wir uns dann doch zu schade. Tut ja auch irgendwie gut, noch jemanden unter sich zu wissen. Aber irgendwie wäre es doch schöner, wenn wir alle mal wie...
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