Schweitzer Fachinformationen
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Ein Wolkenbruch fegte über die Grauzone zwischen Meer und Fluss, als der Segler in die Mündung des Guadalquivir einfuhr. Domenico hielt sich an der Reling fest und starrte hinaus über die aufgewühlte Wasserfläche. Eisige Tropfen jagten heran und klatschten ihm auf die Augenlider. Es dunkelte.
Bis Sevilla wird das Tageslicht nicht reichen, dachte er. Wir werden vor Anker gehen müssen. Noch eine Nacht an Bord.
»Ja, so kann der Winter hier sein: feucht und windig - richtig ungemütlich! Was dachten Sie denn?«, sagte der französische Mitreisende, der neben ihm an die Brüstung griff. »Wenn das so weitergeht, Herr Scarlatti, dann werden wir noch von oben versenkt und nicht von einer feindlichen Breitseite, wie es sich für eine Seefahrernation gehörte - und zwar knapp vor dem Ziel. Schmach und Schande! Nun, bis nach Coria del Rio werden wir es doch wohl schaffen. Weiter? Vergessen wir's lieber. Verdammt.« Er grinste, schlug das Kreuz, und beide starrten hinaus in das Unwetter.
Der Platzregen ragte schräg ins Wasser, von Dampf umspielt - dann standen die Tropfenbahnen auf einmal senkrecht, und es war windstill. Die Segel wurden schlaff und hingen herab.
»Auch das noch«, sagte der Franzose, der sich mit der Seefahrt auskannte. »Nun brauchen wir ein Boot, das uns schleppt.«
»Coria del Rio?«, fragte Scarlatti.
»Wo damals die Japaner gestrandet sind«, erklärte der andere, »und dort leben sie noch immer: O ja, nicht nur die Spanier haben die Erdkugel erkundet. In der Stadt werden Sie bestimmt einige Japóns kennenlernen. Sie sind überall. Und man erkennt sie leicht.« Er zupfte seine Augen zu Schlitzen zusammen und bleckte die Zähne.
»Vielleicht sind wir schon zu weit gefahren«, sagte ein dritter Reisender, der sich zu ihnen gesellt hatte, »und das da drüben ist indianischer Dschungel. Vorsicht, Alligatoren und Wilde mit Giftpfeilen in Kähnen! Die haben vor gar nichts Angst.«
»Ganz recht«, lachte der französische Passagier. »Ich glaub's auch. Solche Regengüsse gibt es auf unserem alten Kontinent gar nicht. Folglich: Unser Kapitän hat gepennt und hat, nachdem wir das Nadelöhr der alten Griechen passiert haben, Gibraltar oder die Säulen des Herkules, vergessen, den Faden festzuziehen, und wir befinden uns schon vor den Küsten der Neuen Welt. Übrigens, die müssen damals mit Riesennadeln genäht haben - man sieht ja kaum von einem Ufer zum anderen, das heißt nach Afrika -, und so was nennt sich Nadelöhr.«
»Menschenfresser gibt's dort«, sagte der Dritte und deutete auf einen grünschwarzen, ausgefransten Streifen am westlichen Horizont. Das war natürlich nicht Afrika, sondern ein Fetzen der Gebiete jenseits des Flusses, der Doñana, unbewohnt. Hier jagte der König und in der unwirtlichen Sumpflandschaft fischten die Armen.
Am entgegengesetzten Uferstreif zitterten Lichter und flackerten ein paar Feuer.
Das ist alles?
Das ist ja gar nichts gegen die Promenade von Napoli, deren Glut sich mit dem Vesuv sogar anlegt, gleich ihm Feuer speit, auf der Schwertfische braten und ganze Schweine, die aber auch Diademe, Silber und Edelsteine erstrahlen lässt sowie schöne Frauen in flammendem Samt und Rüschen.
Wahrlich, eine Stadt unter dem Vulkan, immer bedroht von dem zugepfropften Schlund und auf Lava gebaut, unter den Straßen und Gärten hohl und heiß: dort, unter dröhnendem Schritt die Unterwelt oder gar die Hölle?
Und hier? Provinz. Flaches, finsteres Land, flacher noch als das Meer.
»Vielleicht ein Lager von Gitanos«, sagte der dritte Reisende an der Brüstung und wies auf die Flämmchen am Ufer. »Die tanzen auch in Matsch und Regen. Immer mit der Ruhe und Geduld. Sevilla ist noch weit.«
Das Schiff hatte mit dem Sturm wieder Fahrt aufgenommen. Regenströme pfiffen flach über das Wasser wie Vogelschwärme.
»Was in aller Welt ist denn das?«, rief der Franzose. Ein Fleck kreuzte quer zum Kurs der Galeone den Fluss. Eine Fähre? In diesem Unwetter?
Nach einer Weile konnte Domenico Einzelheiten ausmachen. Auf einem quadratischen, aus Planken zusammengezimmerten Floß waren Flanke an Flanke zwei Stiere aufgestellt, unbeweglich wie Statuen. Zwei Männer oder Jungen standen daneben, einer auf jeder Seite, und schoben abwechselnd lange Stangen ins Wasser, als glaubten sie, bei dem Unwetter noch manövrieren zu können.
Das Floß hatte keinen Bord und wurde immer wieder vom Wasser überspült - der quadratische Innenhof eines unsichtbaren Palastes tanzte ohne Wände durch den Fluss.
Die Wellen waren blind und gierig, leckten an dem flachen Gefährt, brachen winkelförmig, als die fehlende Bordwand ihren Schwung ins Leere laufen ließ, und klatschten an Deck. Unerschütterlich wie aus Stein hielten die Tiere der Brandung stand.
»Seid ihr denn wahnsinnig?«, schrie der Steuermann hinüber - und als Antwort darauf kam eigentlich nur ein Ja infrage -, doch Tiere wie Ruderer wandten lediglich gleichzeitig, wie eine einzige Spezies, die Köpfe, schwiegen und blickten dann wieder geradeaus.
»Aus der Bahn!«, rief der Matrose am Bug - doch wie? Die Stiere verharrten bewegungslos, ihre Blicke ineinander verkreuzt in stummer Kommunikation. Unschlüssig sahen sich die Hirten um und betrachteten besorgt die Kräuselung der Wasserfläche zu ihren Füßen. Was denn (das sagten sich die zwei Tiere in ihrer eigenen, archaischen Sprache vielleicht) ist schlimmer: ersaufen oder auf der Plaza Mayor abgestochen werden? Scheinbar ehrenhaft zwar, doch dies nur für die Menschen gemäß deren feiger Regel, denn der Sieger ist immer von vornherein festgelegt, und es ist nicht der Stier, nimmermehr, es sei denn, der Töter beginge einen Fehler, was Tiere niemals tun und nicht zu tun vermögen.
Also verlagerten sie gleichzeitig ihren Schwerpunkt auf dem Floß, so wie das Volk an Bord einer Fähre zu derjenigen Brüstung eilt, von der aus man Delfine aufspringen sieht - und kippten sich selbst und die Knechte ins Wasser hinab, als entgleite einem Kellner das übervolle Tablett.
Das Floß kenterte sogleich mit einem Ruck, ein paar Planken brachen ab, die zwei zottigen schwarzen Rücken rutschten davon und wölbten sich wie Fische aus dem Wasser. Die Hörner der Tiere verhakten sich wie verkehrte Anker in der Luft, doch dort gab's keinen Halt, auch nicht für die vier fuchtelnden Menschenhände. Den Flößern kippten die Ruderstangen weg, Geschrei drang herüber - jetzt plötzlich konnten sie sprechen, ja sogar brüllen. Die Knechte reckten die Hälse aus dem Wasser, strampelten ihre Sandalen los, wandten die Köpfe dem Ufer zu und gerieten bald außer Sicht.
Das Schiff nahm wieder Fahrt auf, und die Nacht sank herab. Unmöglich, umzukehren und zur Rettung zu eilen. Der alte Matrose schüttelte den Kopf und seufzte: »Da ist nichts zu machen.«
Der Kerker aus Regenstäben schloss sich über der Unfallstelle. Man bewegte sich an der Reling nach achtern zum Kastell, um den Blick in das Kielwasser zu haben. Die Stiere waren schon weit entfernt, wurden zu Walen und trieben davon.
»In drei Teufels Namen. Dies ist wahrlich das Land der Irren«, sagte der mitreisende Franzose, bekreuzigte sich halbherzig - denn noch wusste man gar nicht, ob die beiden auch wirklich ertranken - und blickte dem Wasserloch mit den zappelnden Schatten nach.
»Das Land der Irren, aha. Schlimmer noch als Portugal?«, sagte Scarlatti nach einer Weile, hatte er sich doch eine Zeit lang am Hofe von João V. in Lisboa aufgehalten und schreckliche Dinge gesehen.
»Schlimmer.«
Schlimmer? Das kann doch gar nicht sein.
»Verfluchtes Lisboa«, murmelte Domenico und musste würgen.
»Wie bitte? Seekrank? So kurz vor dem Ziel?«, sagte der Franzose und legte ihm den Arm auf die Schulter. Scarlatti schüttelte unwirsch den Kopf, schob den fremden Arm weg, seufzte und richtete sich auf. »Alles in Ordnung.«
O nein. Keineswegs. Er roch gebratenes Fleisch. Hier draußen, mitten auf dem Fluss?
Nun war es stockfinster, eine Weiterfahrt zu gefährlich, wenn nicht gar unmöglich, und das Schiff ging vor Anker, trieb langsam etwas flussabwärts zurück, dann gab es einen leichten Ruck, und man lag still. In der Ferne, zur Linken voraus, waren die matten Lichter von Coria del Rio zu sehen.
Der Sturm hatte sich gelegt, die Wellen schmatzten satt, es hatte zu regnen aufgehört, Wasser troff von den Rahen.
Bald würde ein Ruderboot längsseits kommen, mit Laternen oder Fackeln, und einen Landgang anbieten, verbunden mit einem teuren Mahl natürlich, in der Kneipe des Gastwirts, der das Boot ausgeschickt hatte.
Oder vielleicht auch nicht. Scarlatti war müde, wirre Gedanken schlichen in seinem Kopf umher: Die Stiere und die Hirten, sind sie ertrunken? Was für ein Omen! Nein, er würde an Bord bleiben, den Landgang bis Sevilla aufsparen, die Scholle seines neuen Lebens in aller Ruhe, bei Tageslicht und Sonnenschein betreten.
So wie Cristóbal Colón Indien - nun, jener hatte sich allerdings gehörig getäuscht. Von wegen Indien.
»Morgen schaffen wir es nach Sevilla«, sagte der Franzose. »Das ist sicher. Werden Sie erwartet? Geht es von dort aus noch weiter? Alles klar?« Scarlattis Anfall hatte ihn beunruhigt.
»Ich werde abgeholt. Vom Alcázar wird jemand kommen und mich mitnehmen. Mein Dienst soll unverzüglich beginnen.«
»Frau, Kinder? Nein?«
»Maricati kommt nach«, sagte Scarlatti auf die...
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