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Enzo starb vor dem Frühstück, beim Binden des Krawattenknotens. Der Kaffee war fertig, Sonia rief ihn zwei Mal, aber er gab keine Antwort. Sie fand ihn zusammengesackt vor dem Spiegel, in der Hand eine blaue Krawatte mit dünnen weißen Streifen. Normalerweise trank Enzo, sobald er angezogen war, stehend in der Küchentür einen Kaffee und verließ dann gleich das Haus.
Sonia rief sofort den Notarzt und versuchte ihren Mann zu retten. Enzo war nicht bei Bewusstsein, er atmete nicht, hatte keinen Puls. Einen Defibrillator hatten sie nicht im Haus, aber Sonia war Krankenschwester und beherrschte die Technik der Reanimation. Bei Herzstillstand hängt alles von den ersten Minuten ab: stay and play, wie die Amerikaner sagen, jede verlorene Sekunde kann verhängnisvoll sein. Zwar ist die Statistik ermutigend, aber die Experten auf diesem Gebiet wissen, dass jeder Fall anders ist. Tatsächlich war Enzo schon tot, als der Notarzt kam.
Später, als ein erster Verdacht in ihr keimte, fragte sich Sonia, ob Enzo wohl gespürt hatte, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er war schließlich Arzt und konnte sich kaum etwas vormachen. Aber seinen Körper vernachlässigte er sträflich - tat, als gäbe es die Bypässe nicht, nahm seine Tabletten nur widerwillig, arbeitete viel zu viel. Außerdem war da etwas, das ihm, wie Sonia bald herausfand, schwer auf dem Herzen lag.
Das Schlimmste war der Anruf bei Natalia.
»Was ist denn, Mama?«
Eine leichte Ungeduld schwang in ihrem Tonfall mit. Wir haben doch erst gestern Abend telefoniert - wieso rufst du schon wieder an?
Sonia brachte es nicht über sich, mit der Tür ins Haus zu fallen. »Bist du in Genf oder .«
»Ich bin in Barbaras Wohnung. Warum?«
Natalia war für eine Woche in die französische Schweiz gefahren, um sich die Universitäten von Genf und Lausanne anzusehen. Zwar hatte sie noch ein ganzes Schuljahr vor sich und genügend Zeit, um zu entscheiden, wie es nach der Matura weitergehen sollte, doch war sie ein vorausplanender Charakter und ließ die Dinge nicht gern einfach auf sich zukommen. Sonia zögerte.
»Also weißt du, ich rufe an, weil . Es geht um Papa.«
»Ist was mit ihm?«
Natalias Ton hatte sich verändert. Sonia seufzte tief.
»Er ist . Papa ist .«
»Ist er verletzt? Tot?«
Sonia nickte. Erst währenddessen wurde ihr klar, dass Natalia sie ja nicht sehen konnte. Sie schluckte trocken und sagte: »Du musst jetzt stark sein.«
Warum flüchtet man sich in solche Gemeinplätze? Angesichts des Todes benimmt sich jeder wie ein Nebendarsteller in einem alten Melodram; das fiel ihr schon in den ersten Stunden auf. Karge Worte, in einem eindringlichen Tonfall gesprochen, als hätten sie eine tiefere Bedeutung. Gedrückte Hände, gesenkte Augen, unvollendete Sätze. Auch Sonia kam unwillkürlich den Erwartungen entgegen. Sie bedankte sich, versicherte, dass sie notfalls Hilfe annehmen werde, versprach Anrufe, die sie nicht machen würde.
Du musst jetzt stark sein. Sie hatte mit solchen Floskeln angefangen. Wie kam sie nur auf die Idee? In den ersten Stunden war der Schmerz keine heranrollende Welle, sondern eine Reihe von Erschütterungen. Minutenlang ging sie gedankenlos irgendeiner Tätigkeit nach und erstarrte jäh mitten in der Bewegung, wie unter einem Schlag: Enzo ist tot. Enzo ist tot, und ich muss ein Bestattungsunternehmen anrufen. Eigentlich hätte ich allmählich Hunger, aber Enzo ist tot. Muss ich seine Verwandten anrufen? Enzo ist tot.
Fünfundzwanzig Jahre waren sie verheiratet gewesen. Ein einziges Kind, eine Tochter, Natalia, im Dezember siebzehn geworden. Enzo Rocchi hatte mit seinem Kollegen Peter Mankell eine Gemeinschaftspraxis in Lugano. Sonia hatte als Krankenschwester gearbeitet, jetzt unterrichtete sie halbtags an der Schwesternschule. Viele Verwandte waren es nicht, die verständigt werden mussten: zwei Vettern in Bern und Enzos neunundachtzigjähriger Vater, der im Altersheim lebte. Sonia rief ihn nicht an, sondern fuhr hin, um ihm, in Anwesenheit eines Arztes, die Nachricht schonend beizubringen. Augusto Rocchi war geistig nicht mehr auf der Höhe, aber er begriff, was geschehen war. Er nahm es mit Würde auf, fast ohne ein Wort. Nur eine leichte Besorgnis schwang in seiner Stimme mit, als er Sonia fragte: »Und du? Und Natalia? Wie geht es euch?«
Die Familie Rocchi wohnte am Hang, oberhalb von Lugano, am Ende der Via Al Roccolo in Massagno. Ein paar Stunden nach Enzos Tod wollte Sonia nur allein sein, keine Kollegen sehen, keine Freundin. Das leere Haus war wie eine Zuflucht. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihr nie der Gedanke gekommen, wie wichtig Gegenstände sein können. Sie betrachtete die Sandalen ihres Mannes, seine Serviette, den Rasierschaum, einen Roman von Connelly, in dem auf Seite 46 ein Lesezeichen steckte. Jeder Gegenstand war wie ein Punkt, und wenn man sie alle miteinander verband - wie bei einem dieser Punktebilder aus der Rätselwoche -, kam Enzos Gestalt heraus, seine Gegenwart. Der Umriss seines Körpers im Sessel. Sein Mobiltelefon war noch ausgeschaltet: Niemand würde es je wieder einschalten, denn Sonia wusste die PIN nicht. Rufe ins Leere.
Jetzt reicht es aber, ermahnte sie sich, nicht pathetisch werden. Sie zwang sich zur Aktivität. Sie trat auf den Balkon hinaus und erledigte die anstehenden Telefonate, eines nach dem anderen, ohne sich eine Pause zu gönnen.
Es war ein schöner Junitag. Vom Balkon aus sah man bis hinunter zum See die Dächer von Lugano leuchten. Am Himmel zogen ein paar eilige Wolken herbei und wurden vom Wind gleich wieder vertrieben. Auf dem Wasser kreuzten sich die Bahnen der Motor- und Segelboote. Vor ein paar Jahren hatte sich Enzo zu einem Segelkurs eingeschrieben. Und ihn dann doch nicht angetreten, weil ihm die Zeit fehlte. Kurz darauf hatten die ersten Herzbeschwerden angefangen.
Peter Mankell, Enzos Kollege, wollte Einzelheiten wissen. Mit der nackten Tatsache gibt ein Arzt sich nie zufrieden. Sein Herz hat zu schlagen aufgehört, dachte Sonia. Welche Rolle spielen da das Abendessen vom Vortag und die körperliche Aktivität und die eingenommenen Medikamente?
»Seine Gesundheit war nie ein Thema für ihn.«
»Ja, das ist wahr.« Sonia registrierte die Vergangenheitsform. Es braucht nicht viel, um einen Tod zu bestätigen. »Enzo war ein bisschen stur. Weißt du ja.«
»Sag, soll ich vorbeikommen? Hättest du gern ein Beruhigungsmittel?«
»Nein danke. Aber ihr, was macht ihr - wie geht es denn mit der Praxis weiter? Kann ich was helfen?«
Peter lehnte dankend ab. Es sei jetzt nicht der richtige Augenblick, um an die Praxis zu denken. Sonia musste ihm beipflichten - sie wusste selbst nicht, weshalb sie überhaupt gefragt hatte. Vielleicht um irgendwas zu sagen oder um keine Verben in der Vergangenheitsform mehr benutzen zu müssen. Sie wollte sich nicht in der Vergangenheit verstecken, die imaginäre Linie, die ihr die von Enzo zurückgelassenen Gegenstände vorgaben, konnte sie nicht zeichnen. Die Zukunft verlangte zumindest konkrete Gesten. Bei Natalia sein, sich anziehen, essen, sich um die Beerdigung kümmern, allen danken, die halfen. Praktisches erledigen.
Sie rief ihren Rechtsanwalt an, Advokat Bossi.
»Sonia, ich bin wirklich . erschüttert. Wir haben uns gestern noch gesehen. Unvorstellbar.«
Sonia sagte nichts.
»Brauchst du was? Soll ich zu dir kommen?«
»Danke, vielleicht später.«
»Wir wollten in den nächsten Tagen mittags miteinander essen. Er hatte was zu besprechen, wollte meinen anwaltlichen Rat.«
Jetzt gibt es nichts mehr zu besprechen, dachte Sonia in dem Moment. Die Worte des Advokaten beeindruckten sie wenig.
»Bist du sicher, dass du allein sein willst? Natalia ist nicht da?«
»Alles in Ordnung. Aber du könntest mir vielleicht wirklich helfen.«
Sonia wusste nicht recht, was zu tun war. Ihre Eltern stammten aus der französischen Schweiz; als sie gestorben waren, hatte sich eine Großtante um alles Nötige gekümmert. Jetzt stand sie allein da. Wie verhält man sich, wenn jemand stirbt? Man muss es doch bekannt machen, oder? Ein Inserat aufgeben?
»Mach dir jetzt darum keine Gedanken, Sonia.«
Worüber soll ich mir denn sonst Gedanken machen?
»Also wenn du mir dabei helfen könntest, Corrado, wäre ich .«
»Aber selbstverständlich!«, rief Rechtsanwalt Bossi aus. »Gar keine Frage!«
In den folgenden Tagen stellte Sonia fest, dass alles fast wie von selbst lief, wie eine effiziente Maschine. Die Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens kamen ihr vor wie die Butler aus englischen Romanen. Sie wussten genau, wann es etwas zu sagen gab und wann sie besser schwiegen, nie unterlief ihnen eine unangebrachte Geste oder ein unpassendes Husten. Sonia befasste sich mit den schmerzlicheren Details: der Aufbahrung der Leiche, den Kleidungsstücken, dem Sarg. Sie wählte den Blumenschmuck für den Trauergottesdienst in der Kirche, die Musik für die Zeremonie in der Aussegnungshalle. Bob Dylan, »Knockin' on Heaven's Door«. Dann dachte sie darüber nach, was sie selbst tragen würde. Und Natalia. An die Anzeige in den drei Tessiner Tageszeitungen. Unser lieber Enzo. Die Ehefrau Sonia. Die Tochter Natalia.
Es waren aufreibende Tage. Der...
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