Im Metabolischen Syndrom steckt ein verblüffendes Geheimnis
Während Ansteckung zu den Schreckenswörtern der letzten beiden Jahre zählt, wird vergessen, dass die weitaus häufigsten Sterbeursachen Krankheiten sind, die nicht durch Mikroben übertragen werden und nicht nach einer Infektion passieren. COVID-19 und seine Varianten haben die übrigen Todesursachen aus der Berichterstattung eliminiert. Die zu Grunde liegenden chronischen Erkrankungen sind längst als schicksalhafter Verlauf akzeptiert, während sie gemeinsam mit anderen Symptomen ernsthaft Leben bedrohen: Bluthochdruck, ein zu hoher Cholesterinspiegel, Fettleibigkeit, Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauf-Leiden, Nierenfunktionsstörung, Atemwegserkrankung, Osteoporose, Fettstoffwechselstörung, Insulinresistenz, nicht-alkoholische Fettleber, COPD, neurodegenerative Erkrankungen und Schlaganfall.
Es ist noch bedenklicher. Nachdenklich sollte auch stimmen, dass 95 Prozent der Menschen über 65 Jahre nicht mit einem einzigen chronischen Leiden leben, sondern mit Mehrfacherkrankung. Multimorbidität ist der Normalfall geworden. Statistisch betrachtet, hat zwischen 18 und 80 Jahren der einzelne Mann 1,7 und die einzelne Frauen 2,2 chronische Erkrankungen. Jedoch tatsächlich belasten Menschen zeitweise ihren Körper mit fünf und mehr problematischen Prozessen gleichzeitig und nehmen regelmäßig bis zu 14 verschreibungspflichtige Medikamente ein.
Im letzten Jahr vor dem Coronavirus starben in Deutschland 939.520 Menschen. Die wenigsten Todesfälle ereignen sich in aller Regel im Verlauf eines Tages im Monat August, oft nur etwa 2.100. Fast in jedem Jahr werden die meisten Todesfälle im kürzesten Monat registriert, an einem typischen Februartag nahezu 4.000.
Mit einer Verbreitung im Ausmaß einer globalen Pandemie bilden vier nicht-übertragbare Krankheiten die größten Risiken. Die typischsten Symptome sind als tödliches Quartett in der Bezeichnung Metabolisches Syndrom zusammengefasst. Herz-Kreislauf-Leiden, Diabetes, Nierenfunktionsstörungen und einige Arten von Krebs gefährden das Überleben von 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung in den meisten Staaten der Welt. Die Risiken steigen mit jedem Lebensjahr. Von zehn Menschen ab 60 bis 70 Jahren sind schon vier daran erkrankt. Im Vordergrund stehende und leicht messbare Merkmale sind die gestörte Verarbeitung von verzehrten Kohlenhydraten wie Mehl und Zucker, Bluthochdruck, schweres Übergewicht durch Bauchfett sowie eine drastische Verschiebung im Verhältnis der Bluteiweiße und Blutfette, deren bekannteste Vertreter Cholesterine sind.
Der Begriff Metabolismus - Griechisch für Veränderung - deckt den engen Zusammenhang dieser Zustände mit dem Stoffwechsel auf. Dabei werden diverse Nahrungsmoleküle und ihr Energiegehalt in Zwischenprodukte und Endprodukte umgewandelt, auch in Hormone, Vitamine und Neurotransmitter. Es handelt sich um die hochkomplizierten Prozesse sämtlicher biochemischen Vorgänge: die Bewahrung und die Erneuerung der Körpersubstanzen und die Energieerzeugung für alle Aktivitäten zur Aufrechterhaltung der Körperfunktionen.
Dabei können mehr Schwierigkeiten entstehen, als sich die meisten von uns ausmalen können.
Vor etwa 10.000 Jahren haben erste menschliche Hochkulturen Erstaunliches begriffen: Durch den Verzehr ausgewählter Nahrungsmittel lassen sich gewünschte Resultate erzielen. Im Umkehrschluss wird jedoch auch klar, dass auch der Griff zum falschen Essen im Körper Reaktionen auslöst.
In 1923 hat der schwedische Arzt Dr. Eskil Kylin erstmals als Ursache von Bluthochdruck und anderen Blutwerten eine schlechte Verwertung von Nährstoffen genannt. Gemessen an der immensen Bedeutung solcher Risiken ist beinahe ein Jahrhundert danach die Datenlage zum Auftreten des Metabolischen Syndroms in Deutschland sehr vage. Vermutet wird, dass es mit einem auffälligen Blutzuckerspiegel wegen Schwierigkeiten mit Zucker und anderen Kohlenhydraten beginnt. Etwa zehn Jahre später folgt die ultimative Verschärfung der Gefahrenlage. Auch jede Zunahme des Körpergewichts um fünf Kilogramm steigert die Wahrscheinlichkeit um 25 Prozent.
Bringen wir es auf den Punkt. Vier verschiedene Erkrankungen greifen speziell unsere wichtigsten Blutgefäße an und schädigen sie. Jede einzelne Komponente des Metabolischen Syndroms müsste aggressiv angegangen werden. Die größte Gefahr geht von Entzündungen aus. Herzinfarkt und Schlaganfall sind unmittelbar drohende Folgen. Dass bei uns der Herztod immer noch knapp vor Krebs der Killer Nummer 1 ist, hängt damit zusammen.
Die vier Krankheiten des Metabolischen Syndroms könnten kaum unterschiedlicher sein. Aber es vereint sie eine verblüffende Gemeinsamkeit. Das haben im Februar 2013 die belgischen Biowissenschaftler Professor Patrice D. Cani und Dr. Amandine Everard aufgedeckt. In einer Studie (Quelle: "Diabetes, obesity and gut microbiota". Elsevier 2013) wiesen sie auf wirklich Bemerkenswertes hin: Voraussetzung für das so genannte tödliche Quartett ist immer eine krankhafte Störung der Verhältnisse im Verdauungsbereich. Die Wissenschaftler nennen sie Dysbiose, Ungleichgewicht der Darmbakterien.
Die Rede ist vom Darmmikrobiom, gebildet von geschätzten 100 Billionen bis einer Billiarde Mikroben. Grundsätzlich bilden vier Hauptstämme von Bakterien bei der Besiedelung die Mehrheit und machen im Idealzustand 98 Prozent der fremden Lebewesen aus: Bacteroides, Firmicutes, Proteobacteria und Actinobacteria. Die überwiegende Mehrzahl hat für uns günstige Effekte. Dazu zählen in erster Linie Laktobazillen, die durch Gärung Milchsäure erzeugen, und Bifidobakterien, die durch die Substanz Bifidin die Vermehrung schädlicher Bakterien eindämmen. Die beste Erstausstattung mit Bifidobakterien liefert die Muttermilch. Im Laufe des Lebens nimmt leider ihr Anteil von ursprünglich 95 Prozent der Darmflora auf etwa ein Viertel ab.
Ein wichtiger Nutzen besteht schon darin, dass freundliche Mikroben Bakterien wie Clostridien mit dem Potenzial, Krankheiten zu verursachen, gar nicht erst aufkommen lassen.
Mehr und mehr Funktionen der lebenswichtigen Mikroben-WG im Darm werden entschlüsselt.
Jedes einzelne Bakterium lebt und wirkt nur etwa 30 Sekunden. In dieser Zeitspanne beteiligen sie sich an der Aufbereitung und Verdauung von Kohlenhydraten, vor allem durch Fermentation. Klar ist, dass sie nicht nur Hilfe leisten bei der Absorption unserer Nahrung, und dass im Grunde genommen die von uns verzehrten Moleküle erst einmal ihnen dienen. Für uns bleibt, was sie damit und daraus machen.
Sie bilden Hormone und vitaminähnliche Vitalstoffe. Sie kommunizieren mit dem Immunsystem und der Krankheitsabwehr und schulen diese Systeme auf diese Weise. Sie wehren im Idealfall Krankheitskeime ab und entschärfen Giftstoffe. Über die im Darm endenden Nervenbahnen kommunizieren sie mit dem Gehirn.
Sie produzieren Fettsäuren mit Gesundheitswirkungen und setzen Vitamine frei.
Ihre Zusammensetzung ist entscheidend für unsere Gesundheit. Es ist ein Beispiel für das Zusammenleben verschiedener Arten zum gegenseitigen Nutzen.
Die sogenannte Darmflora ist bei jedem Menschen so individuell wie ein Fingerabdruck. Dabei spielen unsere Erbeigenschaften, das Alter, das Geschlecht, die Nahrung, Essgewohnheiten, körperliche Aktivität und Medikamente eine Rolle. Vor allem der Dickdarm ist stark besiedelt. Analysiert wurden mehr als 1.000 Unterarten, aber kaum jemand lebt mit mehr als 150. Eine große Vielfalt gilt als gesünder. Wenn die Diversität der Darmflora sinkt und zur Dysbiose verarmt, treten bestimmte Krankheiten häufiger auf. Dieser Hinweis gilt seit einer Studie der Chinese University of Hong Kong im April 2021 auch für COVID-19 ("Gut microbiota composition may influence disease severity and immune response in patients with COVID-19". Gut, 2021).
Hefepilze und Viren zählen ebenfalls zur Darmflora.
Im Magen tötet Magensäure die meisten Bakterien ab. Der Dünndarm ist etwas stärker besiedelt. Am höchsten ist die Mikrobendichte im Dickdarm. Jeder Nährstoff wie Eiweiß, Fett und Kohlenhydrat wirkt auf dieses Mikrobiom ein und kann für den Menschen günstige oder ungünstige Effekte haben.
Zwei wichtige Beispiele: Der Verzehr von tierischem Eiweiß - beispielsweise Fleisch, Milchprodukte - drängt im Verdauungstrakt wertvolle Fettsäuren zurück, die der Körper benötigt, um Entzündungen eindämmen. Es handelt sich um kurzkettige Fettsäuren, SCFAs. Sie werden durch günstige Bakterien aus Ballaststoffen herausgelöst. Deren Verringerung erhöht das Risiko von Darmentzündung und Herzerkrankungen. Umgekehrt steigt mit pflanzlichem Eiweiß - aus Gemüse, Obst - die körpereigene Produktion derselben Fettsäuren. Das stärkt die Gesundheit der Darmwände. Denn deren Zellen schätzen SCFAs als Nahrung.
Diese Darmschleimwände fungieren als wichtigste Barriere gegenüber Giftstoffen, die typisch für den Darmtrakt sind. Einige können bereits mit Nahrung in den Verdauungstrakt gelangen und andere entstehen erst dort beim Zerfall von Bakterien. Alle heißen Endotoxine. Wenn derartige Bakteriengifte im von den Darmwänden umschlossenen Hohlraum vermehrt auftreten, reagiert das Immunsystem bereits im Darm mit einer niedrigschwelligen Entzündung gegen sie. Das ist ebenfalls ein typisches Merkmal eines Metabolischen Syndroms.
In permanent zweifacher bis dreifacher Übermenge gegenüber dem Normalzustand können Giftmoleküle jedoch die Darmschleimhäute verletzen und überwinden und es bis in den Blutkreislauf schaffen. Diese Vergiftung heißt Endotoxämie.
Mit dem Blutstrom treffen die Eindringlinge überall im Körper auf Merkzellen und Killerzellen des Immunsystems. Nach Kontakt mit dem Rezeptor 4 an der...