SINE NOMINE CORPUS
Vergil, Aeneis
1
Es blieb mir nichts übrig, als den Hund mit aufzunehmen in meine Sammlung von Gotthards Erinnerungen. Dieser Dobermann-Rüde war schwarz und angsteinflößend groß und tippelte trotz seines von Gotthard mehrmals erwähnten Gewichtes über sonnengewärmte Felsbrocken, Blumen und Gräser bis an den Rand der Klippen und wandte sich dort wie fragend an seinen Herrn. Gotthard wurde nicht müde, das glänzende Fell des Hundes zu beschreiben und den Blick über das in Licht und Dunst verschwindende Meer.
»Wo hast du dort gewohnt?« fragte ich, um auf dem lichterfüllten Plateau der Erinnerung zu verweilen, einer Klippe, von der aus, wie ich hoffte, es leicht sein würde, in die Tiefe zu springen.
Gotthard trank sein Leitungswasser aus der kleinen Plastikflasche, die er immer wieder anfüllte. Ich betrachtete ihn: die feine, hakenförmige Nase, die dunklen Augen, herabgezogen von tiefen Falten, die wie Verlängerungen seiner Lider wirkten. Alle seine Falten schienen wohlgesetzte, verstärkende Linien zu sein. Er hatte volle, sehr kleine Locken, die vorn noch etwas dunkel, vom Hinterkopf her aber ergraut waren. Er trug Jeans und Sportschuhe.
»Ich hatte nur einen Camping-Wagen, und der stand schon zwanzig Jahre da, war halb im Boden versunken. Da hatten tausend andere drin gewohnt. Wasser vom Brunnen. Na ja, und gelebt vom gesparten Legionssold.«
Er kroch morgens aus dem halbversunkenen Caravan auf den korsischen Boden wie aus einem Bau, rief den Hund zu sich und ging zum Brunnen.
An einem der vielen Tage, die so begonnen hatten, stand Gotthard an dem winzigen Edelstahlbecken im Innern des Wohnwagens und schüttete Wasser aus einem Krug über seine Gläser und den Teller vom Frühstück. Durch das lukenartige Fenster sah er auf das staubige Feld, sah den hohen, unbewegten Saum des Schilfrohrs an der Landstraße und davor die zwei alten Frauen mit den großen Körben.
»Verdammtes Vieh«, sagte Gotthard in seinem immer wieder erschreckenden, ansatzlos harten Tonfall. »Mistvieh. War einfach weggelaufen. Und wie ich dann die Weiber sehe, sehe ich den Hund. Und für mich ist er rausgekommen aus den Körben da, raus und zu mir her.« Er nickte kurz und schaute sich in der Gastwirtschaft um. Ich ließ ihm die Pause, ich brauchte sie nicht: Der Hund sprang eben aus dem Korb.
Das Lokal war leer. Vor dem Fenster lag knietiefer Schnee mit grauen Rändern. Die Feuchtigkeit erfüllte auch den Raum, es war nicht unangenehm, inmitten des vielen dunklen Holzes zu sitzen und durch Butzenscheiben zu schauen. Der Raum wirkte verlassen, weil der große Tresen darin verwaist stand. Es war Sonntag. Gotthard wartete auf das Ende der Messe. Er zündete sich eine Zigarette an, die in seinem hohlwangigen Gesicht zu groß wirkte.
»Das Vieh streunte immer«, sagte er und jedes der vier Wörter brachte Rauch.
Der Hund ließ die alten Frauen hinter sich und humpelte auf das Feld. Sein Kopf hob und senkte sich. Er war sehr stark. Ein paar Meter weit kam er noch, bevor er, die Nase voran, in den Staub fiel. Gotthard war schon unterwegs zu ihm, und mit jedem Schritt, den er näher kam, wurde es für ihn schwieriger, das Blut zu übersehen. Als er über dem Tier stand, war die Fläche des Blutflecks bereits größer als jene, die der Hundekörper bedeckte.
Er hob den Hund auf und trug ihn weit über das Feld bis zum Caravan von Camilla, die zu jener Zeit zusammen mit einem Freund von der Insel dort wohnte.
»Warum zu ihr?« wollte ich wissen und sah den mageren Gotthard vor mir, auf dem Feld, noch gebeugter als ohnehin schon, weil er das sterbende Tier trug, dessen lange Beine paarweise gegen seinen Körper schlenkerten.
Er zuckte die Achseln, sah kurz über mich hinweg und fuhr dann fort:
»Sie hatte den Erste-Hilfe-Kasten, war immer die Krankenschwester für alle. Zehn Meter vor ihrem Wagen sehe ich sie schon rauskommen, und wie sie mich sieht, hält sie den Kopf schräg, schaut von unten und sagt: >Was hast du getan?<« Er schlug mit der Hand auf den Tisch. »>Was hast du getan?< fragt die, und ich stand nur da.«
Gotthard verharrte vor ihr. Das Blut hatte sein Hemd so durchgeweicht, daß es auf der Haut klebte und die Prägung seines Nabels sehen ließ. Es war in zwei langen Rinnsalen die helle Hose hinabgelaufen und hatte Tropfenfelder auf seinen weißen Sportschuhen entstehen lassen. Camilla, wer immer sie war, sah den Umriß des Mannes, das blutrote Strichmännchen darin und den Kopf des Hundes, der kraftlos gegen den Boden baumelte. Gotthard war wie vor Schreck erstarrt. Dann legte er den noch immer blutenden Kadaver wie ein Geschenk vorsichtig auf den Boden, drehte sich um und ging, die Hände vom Körper haltend, über das Feld davon.
2
Erwartungsgemäß unterbrach Gotthard seine Geschichte, als die ersten Gäste kamen.
»Die Eingeborenen«, sagte er und nickte zum Fenster. Er ließ mich auf der Insel mit dem toten Hund zurück, und ich war mir nicht sicher, ob ihm die Unterbrechung gelegen kam.
So ähnlich hatte es auch begonnen. Schon die erste jener Geschichten, die meine Neugier entfachten, erzählte Gotthard zwar konzentriert, doch jederzeit bereit zu unterbrechen. Es ging um eine Brücke auf Korsika. Donnie war noch gesund und munter und lief mit gesenktem Kopf, unablässig Spuren suchend, vor Gotthard her, als dieser an einem frühen Morgen zum Wohnwagen unterwegs war. Woher er kam, erfuhr ich nicht, nur daß Gotthard solche Wanderungen öfter unternommen und dabei die nächtliche Ruhe genossen hatte. Die Brücke war in der Morgendämmerung kaum zu erkennen; nicht mehr als ein dunkler Bogen spannte sich über ein schmales, aber recht tiefes Tal. Plötzlich wurde Donnie unruhig, sein Gebell hallte durch die Stille. Gotthard eilte voran und hörte jetzt auch Stimmen. Er ging bis auf die Brücke und mußte mehrmals rufen, bevor der Hund zurückkam. Er kämpfte sich den Hang hinauf und war noch immer gereizt. Als hinter ihm ein junger Mann auftauchte, ging Donnie ihn erneut an, und Gotthard mußte brüllen, um ihn zurückzuhalten. Ein zweiter Mann erkletterte den Hang. Die beiden kamen offenbar unter der Brücke hervor, und Gotthard fragte sich, was sie dort unten getan haben mochten. Nachdem sie sich aufgerichtet hatten, gingen sie zielstrebig auf ihn zu. Gotthard wartete ab. Die Männer waren nur noch wenige Meter entfernt, als sie ihn ansprachen. Zunächst fluchten sie über den Hund, dann fragte der eine, ob er, Gotthard, vorhabe, über die Brücke zurückzukommen. Die Frage erstaunte Gotthard. Dennoch verneinte er nur und schwieg. Die Männer schauten einander an. Dann erklärten sie ihm gelassen, daß sie gerade dabei seien, die Brücke zu sprengen und er beim nächsten Mal besser einen anderen Weg nehmen solle. Gotthard stutzte zunächst, blickte auf die Brücke und wieder zu den beiden Männern. Er erzählte mir, wie er bei dem Gedanken, soeben auf Terroristen getroffen zu sein, lachen mußte und wie sie ihm eine Weile dabei zusahen, schließlich aber immer unsicherer wurden. Plötzlich hatte einer von ihnen eine Pistole in der Hand, aber Gotthard lachte noch immer. Da wurden sie wütend, beschimpften ihn und jagten ihn über die Brücke davon.
»Warum hast du gelacht«, fragte ich Gotthard, und es war, ohne daß ich es wußte, die erste jener vielen Fragen, mit denen ich seiner Erinnerung späterhin auf die Sprünge half. Er machte ein ernstes Gesicht, überlegte ziemlich lange und erklärte mir dann, daß ich das nur vor dem Hintergrund seiner Zeit in der Fremdenlegion verstehen könne.
»Diese Terroristen«, sagte er, »hatten eine neue, menschenfreundliche Art von Untergrundkrieg erfunden. Eine absurde Art von Krieg.« Gotthard lächelte mich an, und mir wurde klar, daß er jene Männer für ihre Warnung an ihn tatsächlich verachtete.
Der Ursprung dieser Verachtung begann mich augenblicklich zu interessieren. Ich fragte ihn, ob er mir von seinen Erlebnissen als Legionär mehr erzählen würde, und er sagte ohne zu zögern ja. Damals schien es mir, als würde er über diese Erinnerungen völlig frei verfügen und, mit einem gewissen Abstand der eigenen jugendlichen Unbedarftheit gegenüber, sogar gern davon erzählen.
Am Nachmittag und bis in den Abend hinein lernte ich das halbe Dorf kennen. Die Tagesgäste waren ruhiger als die des Abends. Sie setzten sich auf die Hocker und Holzstühle, nickten Gotthard zu und bekamen das gleiche wie immer. Es waren ältere Männer, oft zu zweit, die zu mir herüberblinzelten und wegsahen, wenn ich den Kopf hob. Sie sprachen kaum miteinander. Gotthard unterhielt sie vom Tresen aus durch Zuruf von Satzfetzen. Brummen und Nicken oder ein hervorgestoßenes »Aah« waren die Antwort.
Ich schaute aus dem Fenster und sah zu, wie der Sonntag allmählich grau wurde. Das Kirchenschiff durchteilte den meterhoch zusammengeschobenen Schnee wie eine weiße Bugwelle. Die langen Fenster waren dunkel. In den Häusern brannte bereits Licht. Die Straße vor der Wirtschaft war menschenleer. Ich beschloß, mich für eine Weile hinzulegen.
Mit Einbruch der Dunkelheit tauchte die Jugend des Ortes auf. Die Geräusche der Spielautomaten, Stimmen und Gelächter drangen die Treppe herauf bis in das Fremdenzimmer, in das Gotthard mich einquartiert hatte. Ich betrachtete den orangefarbenen Plastikschirm der Nachttischlampe, ließ die schlaffe Bettwurst fallen, mit der ich im Liegen vergeblich versucht hatte, die Zimmerdecke zu berühren, und stand auf. Vor dein Spiegel an der Türinnenseite des Bauernschrankes kämmte ich mir die Haare.
Unten lernte ich Hans kennen, der unbedingt Billard spielen wollte. Götz, der Anführer, saß auf einem...