1. KAPITEL
DAS GLÜCK IST UNSER BESTER BEGLEITER
Verdammt, ich musste mich endlich zusammenreißen. Immerhin war ich bereits sechzehn und damit eindeutig zu cool, um loszuheulen wie ein Baby, nur weil meine Familie und ich nun auswanderten.
Stöhnend lehnte ich meine Stirn gegen die Wand der engen Toilettenkabine, in die ich mich bereits vor einer kleinen Ewigkeit gequetscht hatte. Der Start unseres Flugzeugs war um eine halbe Stunde verschoben worden und ich hatte es einfach nicht mehr auf meinem Platz ausgehalten. Die Wahrheit war nämlich: Ich fühlte mich überhaupt nicht cool, nicht mutig und schon gar nicht abenteuerlustig. Ich fühlte mich echt beschissen.
Da hatte Mark, der süße Torwart unserer Fußballmannschaft, mich endlich bemerkt, und was geschah? Ich musste meine Zelte hier abbrechen. Das Leben war ja so was von unfair!
Böse richtete ich mich etwas auf und schaute mich im Spiegel rechts von mir an, versuchte mit purer Willenskraft, endlich wieder normal zu werden, damit meine Oma kein schlechtes Gewissen bekam.
Doch nichts passierte. Ich sah nach wie vor aus, als würde ich gleich losheulen. Na toll!
Meine langen blonden Haare lagen wirr auf meinen Schultern und schienen heute ihren ganz eigenen abgefahrenen Plan zu verfolgen, während mein blasses Gesicht dem einer Untoten Konkurrenz machte. Kein Wunder, dass ich das Gefühl hatte, heute würde mich jeder entgeistert anstarren.
Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. »Hey, machen Sie endlich auf! Ich muss auch mal! Dringend!«
Genervt verzog ich meinen Mund, fuhr herum und riss die Tür auf.
Ein dicker Mann stand vor mir und musterte mich abschätzig von oben bis unten.
»Genug gesehen?«, blaffte ich ihn an und drängte mich an ihm vorbei, spürte dabei gleichzeitig, wie ich vor Verlegenheit rot anlief.
Er murmelte noch etwas, das sich verdächtig nach einer Bemerkung zu unverschämten Teenies anhörte, bevor er sich selbst in die kleine Kabine zwängte.
Doch ich ignorierte ihn und ging zurück zu meinem Platz neben meiner Oma Holly. Sie erzählte meinem Stiefopa Chasper gerade Geschichten aus ihrer Kindheit in Norwegen. Dem Land, das von nun an unsere Heimat werden sollte.
»Bereit?« Voller Vorfreude sah meine Oma mich an.
»Klar«, nickte ich und lächelte gezwungen, während ich mich anschnallte und auf das Rollfeld des Hamburger Flughafens hinausblickte.
Meine Mutter war in Norwegen geboren und aufgewachsen. Irgendwann ging sie jedoch nach Hamburg, da sie meinen späteren Vater dort beim Studium kennengelernt hatte. Als mein gebürtiger Opa wenige Jahre darauf starb, zog meine Großmutter zu uns nach Deutschland und wir verlebten eine glückliche Zeit zusammen. Nach Norwegen kamen wir nur mehr im Winter, um Urlaub zu machen, oder weil meine Eltern - sie sind Meeresbiologen gewesen - mal wieder irgendetwas erforschen wollten.
»Schätzchen, ist alles gut?« Meine Oma Holly schaute mich von der Seite her an.
Ich schaffte es abermals, mir ein Lächeln abzuringen, während ich ihre weißen Haare betrachtete, die sie in einer kecken Kurzhaarfrisur trug. »Natürlich. Ich bin nur ein wenig nervös.«
»Kann ich verstehen. Dieses Fliegen war mir immer schon suspekt. Aber es dauert nur ein paar Stunden, und dann sind wir endlich wieder zu Hause«, strahlte sie mich an und ergriff dabei meine sowie Chaspers Hand, während sie sich zurücklehnte. »Ich freue mich so, dass ich mit meinen liebsten Menschen zurückkehre.«
Ich nickte langsam und lehnte mich ebenfalls zurück, während die beiden schon wieder in alte Geschichten vertieft waren.
Oma Holly hatte ihre Heimat immer vermisst, genauso wie ihr Elternhaus, das wir, seit ich denken konnte, immer nur als Urlaubsdomizil genutzt hatten. In wenigen Stunden jedoch würde es unser festes Zuhause sein. Nun, da meine Eltern tot waren und Großmutter nichts mehr in Deutschland hielt, wollte sie unbedingt wieder zurück. Chasper begleitete sie nur zu gern, da er ohnehin kaum noch Verwandte in der Schweiz hatte, wo er ursprünglich herstammte.
Und was mich anbetraf: Auch wenn mir mein neues Leben Angst machte, wollte ich mich nicht von ihnen trennen. Ich hatte nur noch die beiden - da würde mein erster großer Schwarm Mark wohl oder übel zurückstecken müssen.
Ich seufzte leise und schaute wieder aus dem Fenster.
***
»Adella, du musst aufwachen. Wir sind schon die Letzten.« Sanft rüttelte Chasper mich aus meinem Schlummer.
Erschrocken fuhr ich hoch und rieb mir die Müdigkeit aus den Augen, bevor ich mich umsah. Draußen war es dunkel und der Flieger war fast leer. Eine Stewardess beobachtete uns lächelnd und schien nur noch auf uns zu warten.
Hastig erhob ich mich, wobei ich kurz wie eine Betrunkene schwankte, und ließ mir von Chasper meine Handtasche aus dem Gepäckfach reichen.
»Bin schon wach«, murmelte ich und torkelte ihm und Oma Holly hinterher, die wissende Blicke austauschten. Die zwei wirkten kein bisschen müde, trotz der zwei Zwischenstopps in Amsterdam und Oslo. Nein, sie waren sogar erschreckend fit, als wir mit all unserem Gepäck aus dem Flughafen Sogndal in Norwegen traten und kurz darauf in ein Taxi stiegen.
Zwar hatten wir im Vorfeld schon einiges verschiffen lassen, aber die wichtigsten Sachen wie Chaspers geliebte Krimi-Sammlung und seine Angelruten waren mit in den Flieger gekommen, was uns so einiges gekostet hatte.
Während das Taxi nun beinahe lautlos, wie es schien, durch die winterliche Stadt fuhr, deren weiße Pracht die Dunkelheit erstrahlen ließ, betrachtete ich den klaren Sternenhimmel und spürte Ruhe in mir aufkommen. Irgendwie würde schon alles gut werden. Ganz bestimmt sogar!
Nachdem der Taxifahrer uns an unserem neuen Zuhause abgesetzt und netterweise noch beim Tragen der Koffer geholfen hatte, ging ich schon einmal hinauf in mein neues Zimmer, das doch irgendwie bereits mein altes war, da ich es von unseren früheren Aufenthalten her kannte, und machte im Halbschlaf mein Bett.
Kaum waren die Decken bezogen, sank ich schon darauf zusammen und fiel in einen tiefen Schlaf.
***
»Guten Morgen, du Schlafmütze«, flötete meine Oma und tätschelte liebevoll meine Wange, als ich etliche Stunden später die Küche betrat. Sie hatte für mich bereits das Frühstück vorbereitet, das bei uns wie gewohnt aus frischem Brot mit salziger Butter und Rührei bestand.
»Wann bist du denn aufgestanden? Um das alles schon fein säuberlich aus den Küchenkartons zu räumen, hast du doch sicher Stunden gebraucht.« Ich gähnte und setzte mich auf einen Stuhl, während ich mich ein wenig verwundert in der komplett eingerichteten Küche umsah, wo bereits alle unsere Küchenmaschinen, die gestern noch sorgsam in Umzugskartons verstaut gewesen waren, einen eigenen Platz hatten.
»Nein. Wir haben Mittag und waren schon einkaufen. Du hast einfach nur sehr lange geschlafen«, lachte Chasper, der gerade die Küche betrat.
Betont gleichmütig zuckte ich mit meinen Schultern, bevor ich ihm die Zunge rausstreckte und einen Platz weiter rückte, damit er sich neben mich setzen konnte.
»Du bist aber muffelig heute Morgen«, lachte er und strich mir über den Kopf. Das hatte er sich angewöhnt, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war, und wollte es sich offenbar auch jetzt nicht nehmen lassen.
»Ich bin müde«, nuschelte ich und betrachtete meinen Stiefopa. Er und meine Oma hatten vor zehn Jahren geheiratet. Damals war ich sechs, fast sieben gewesen und ich konnte mich sogar noch an den Tag erinnern. Ich hatte ein rosa Kleid angehabt und durfte länger aufbleiben als sonst. Leise lächelnd dachte ich daran zurück, während meine Oma uns Kaffee kochte und sich danach zu uns an den Tisch setzte.
»Bist du immer noch traurig, weil du all deine Freunde zurücklassen musstest?«, ergriff Chasper erneut das Wort.
»Nein.«
»Du lügst!«
»Chasper, ich bin sechzehn und kurz davor gewesen, das erste Mal geküsst zu werden. Natürlich bin ich traurig«, erklärte ich ihm seufzend und hob meine Augenbrauen, nur um es noch ein wenig deutlicher zu machen.
»Also dann können wir ja froh sein, dass wir ausgewandert sind. Vielleicht haben wir uns damit ein oder zwei Jahre Aufschub für das große Aufklärungsgespräch erkauft«, lachte meine Oma Holly.
Auch wenn die zwei echt cool waren, wurde ich rot. »O Gott, ihr seid peinlich! Außerdem bin ich dafür wohl schon ein wenig zu alt, denn dieses ganze Aufklärungszeug haben wir schon längst in der Schule besprochen.«
»Wir sind deine Familie. Wir müssen peinlich sein.«
Ich hob meine Hände und bedeutete den beiden damit, das Thema zu wechseln, bevor ich zu essen begann. Chasper und Oma Holly ergriffen indes ihre dampfenden Kaffeetassen.
»Du sollst wissen, dass wir wieder umkehren würden, wenn es dir zu schwerfällt«, lächelte mein Stiefopa gütig und in seinen Augen lag Wahrheit, die mir zeigte, dass er es vollkommen ernst meinte.
»Richtig«, nickte nun auch meine Oma, und auch wenn sie mich aufmuntern wollten, fühlte ich mich in Anbetracht ihrer liebevollen Worte einmal mehr wie die schlechteste Enkeltochter der Welt.
»Quatsch, so einen Unsinn machen wir jetzt nicht. Dafür bin ich keine Millionen Kilometer gereist.«
»Millionen?« Chasper runzelte die Stirn.
Sofort begann ich bedächtig und ein wenig übertrieben zu nicken. »Trilliarden.«
»Wow, dann sind wir ja wohl bis auf den Mars gezogen.«
»Gefühlt sogar noch weiter weg«, lachte ich und zog meine Nase kraus. »Aber solange wir zusammen sind, wird alles gut.«
»Manchmal bist du genauso wie deine Mutter«, murmelte Oma Holly...