Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Der Anfall kam wenige Kilometer vor der Grenze. Ondrej kannte die Zeichen. Das Stechen in der Brust. Das beklemmende Gefühl des nahen Ringens um Luft. Vor ihm zweigte im Licht der Scheinwerfer ein Forstweg ab. Bevor der Husten ihn schütteln konnte, gelang es ihm, die Straße zu verlassen und den Wagen im Schutz der Bäume abzustellen. Die nächsten Minuten waren Angst, Schmerzen und Blut. Er beugte sich nach vorn und schlug im Takt seiner Atemzüge mit dem Kopf auf das Lenkrad. So rasch der Anfall gekommen war, so langsam ging er wieder. Das Röcheln wich einem Ziehen und Pfeifen und schließlich dem ruhigen Atmen eines Überlebenden. Wieder einmal.
Ondrej wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Es war ihm gleichgültig. Vielleicht würde er die Vollendung ihres Planes nicht mehr erleben. Aber er musste den unheimlichen Besucher aus der anderen Welt lange genug draußen vor der Tür halten, um seine Rolle in diesem Stück vollenden zu können.
Er griff zum Handschuhfach, nahm eine Packung Taschentücher und wischte das Blut von seinem Mund. Dann griff er zu der Flasche, die er immer im Wagen hatte, und stieg aus. Er nahm einen Schluck, gurgelte und spuckte das rot gefärbte Wasser auf den Waldboden. Ein Blick in den Seitenspiegel zeigte ihm, dass alle Spuren seines Anfalls beseitigt waren.
Wenn doch auch der Übeltäter selbst so leicht zu entfernen wäre, dachte er. Doch das war er nicht, und so musste er mit ihm leben und sterben.
Noch einmal sah er in den Spiegel und fuhr auf die Straße zurück. Nicht auffallen! Das war das Motto dieser Nacht.
Schließlich hatte er einen guten Grund, hinüber nach Bayern zu fahren. Dieser lag im Kofferraum seines Wagens und war tot. Nichts wäre also ungelegener gekommen als eine Kontrolle durch die Grenzpolizei. Eine Gefahr für die gesamte Unternehmung, wenngleich eine geringe. Unter normalen Umständen hatten Reisende keine Kontrollen an der Grenze zum westlichen Nachbarland zu fürchten. Solange sie unauffällig waren.
Und das war Ondrej in den letzten Monaten gewesen. Keiner seiner Kollegen hatte Verdacht geschöpft, wenn er sich einige Tage freigenommen hatte. Natürlich war ihnen sein Zustand nicht verborgen geblieben. Da war es nur zu verständlich, dass er diese Pausen brauchte. Keiner hatte ihn darauf angesprochen.
Keiner außer Nikola. Sie war in den zwei Jahren, die sie nun in seiner Einheit war, mehr als eine Kollegin geworden. Obwohl Ondrej immer alles getan hatte, das Verhältnis zu seinen Mitarbeitern distanziert auf das Dienstliche zu beschränken. Nikola hatte das nicht verstanden. Wie auch? Sie kannte seine Gründe nicht und sie sollte sie auch nie erfahren. Niemand sollte sie erfahren. Vielleicht waren es auch nur die ungezählten Stunden, die sie miteinander auf der Jagd gewesen waren. Und die Gefahr, der sie sich ausgesetzt hatten. Lebensgefährliche Situationen sind die Grundlage für besondere Beziehungen! Wer hatte das noch gesagt? Ach ja! Sandra Bullock. »Speed« hatte ihr Kinohit geheißen, wenn er sich nicht täuschte.
Aber auch Nikola wusste nichts von seinen Ausflügen nach Bayern. Und in Deutschland? Dort gehörten die Zeiten, in denen ein Auto mit tschechischem Kennzeichen als Exot auf den Straßen galt, der Vergangenheit an.
Angst, dachte er. Ja, Papa, du hast recht. Wir müssen sie an dieses Gefühl erinnern. Wir werden sie dazu bringen, sich gegenseitig zu verdächtigen, sich gegenseitig zu beschuldigen, sich gegenseitig zu hassen.
Ondrej nahm einen weiteren Schluck aus der Wasserflasche. Er hatte die Grenze erreicht. Verfolgt von den Lichtern der Bars und Casinos, die der Grund dafür waren, dass die Menschen den Grenzübergang bei Furth im Wald als »Klein Las Vegas« bezeichneten, fuhr er hinüber in den Westen. Das Ziel seiner Fahrt war ungewiss. Es galt, auf die passende Gelegenheit zu warten.
Sie hatten Möglichkeiten und Unwägbarkeiten gegeneinander abgewogen. Sie hatten versucht, das Verhalten der Druiden vorherzusehen. Und das der Polizei. Sie hatten Pläne ent- und wieder verworfen. Immer mit dem einen Ziel vor Augen. Ondrej wusste, dass es neben allen Planungen am Ende doch einzig und allein auf ihn ankam. Auf seine Stärke. Auf seinen Willen.
Dabei stand es außer Frage, dass kein Unschuldiger Opfer ihres Vorhabens werden durfte. Und so hatten sie gewartet. Wochen, in denen sich Ondrejs Zustand ebenso verschlechtert hatte wie der von Papa. Der Nebel der Demenz hatte seit jenem Treffen im letzten Dezember fast vollständig von seinem Geist Besitz ergriffen. Damals aber war sein Blick so klar gewesen wie sein Verstand. Für wenige Minuten nur, aber lang genug. Papa hatte ihnen die DVD gegeben. Die Aufnahmen, heimlich gefilmt und für Jahre versteckt. Im richtigen Augenblick offenbart, würden sie der deutschen Polizei die Augen öffnen.
Der Lichtstrahl der Erinnerung hatte es Papa gestattet, ihnen auch von allem anderen zu erzählen. Vom Schloss in Tschechien, in dem die Mädchen gefangen gehalten worden waren. Von den verborgenen Plätzen drüben in Bayern, an denen die Druiden ihre Rituale gefeiert hatten. Bevor er wieder im Dunkel des Vergessens versunken war, hatte er sie zu den Orten geführt. Papa war dort gewesen. Papa war einer von ihnen gewesen. Bis zu jenem Tag, als er das Mädchen mit dem weißen Kleid gesehen hatte.
Auch Ondrej war dort gewesen. An den Orten, die noch den Schrecken der Vergangenheit atmeten. Bei den keltischen Opferstätten. Verborgen in den Wäldern und auf den Höhen des Bayerischen Waldes. Nach Jahrhunderten von den Druiden des Ordens wiedererweckt zu ihrem einstigen Zweck.
Er war auch im Schloss gewesen, aus dem die »Kleinen Brüder« ein Gefängnis ohne Wiederkehr gemacht hatten.
Das Wappen der einstigen Herren hing noch über der Tür. Es würde der Schlüssel zu ihrer Rache werden. Das Wappen und die tote Frau im Kofferraum seines Wagens.
Er fühlte die Müdigkeit in sich wachsen. Ohne konkretes Ziel folgte er einem Lkw mit slowakischer Autonummer. Dieser führte ihn über die Bundesstraße 20 vorbei an Cham und Straubing bis zu einer Autobahn. Dort überholte er seinen Leithund und fuhr in Richtung Passau. Bald darauf reckte sich der markante Pfeiler einer Brücke in den Nachthimmel. Vorbei an den Lichtern Deggendorfs überquerte er die Donau. Ein Schild wies auf einen Autobahnparkplatz hin. Er entschied, dass dies der Ort sein sollte.
Er nahm den Fuß vom Gas und rollte von der Straße. Vorbei an einer Handvoll Lkws und deren schlafenden Fahrern fuhr er bis zum Ende des Parkplatzgeländes. Dort schaltete er den Motor und die Lichter aus und wartete. Die Uhr an seinem Handgelenk zeigte 3.25 Uhr, als er ausstieg und die Reihe der Lastwagen abging. Die Scheiben aller Kabinen waren verhangen. Die Fahrer stellten keine Gefahr dar. Ondrej kehrte zu seinem Wagen zurück und öffnete den Kofferraum.
Ihre Augen standen offen. In einer Mischung aus Entsetzen und Angst erzählten sie von ihrem verzweifelten Kampf gegen den Tod, der sie an der Schwelle vom Mädchen zur erwachsenen Frau aus dem Leben gerissen hatte.
Als Ondrej sie gefunden hatte, hatte sie den Kampf gegen ihn bereits verloren. Es war kaum 24 Stunden her, als Vitaly ihn angerufen hatte. Das Drogendezernat hatte eine Gruppe Ecstasy-Dealer im Visier. In einem Club unten in Litice wollten Vitaly und seine Leute die Bande hochgehen lassen. Und da er eine Verbindung zu den »Kleinen Brüdern« vermutete, hatte er es für angebracht gehalten, Ondrej mit ins Boot zu holen.
Der Einsatz hatte kurz vor Mitternacht stattgefunden und er war ein voller Erfolg gewesen. Vitalys Männer hatten nicht nur sieben Dealern die Handschellen angelegt. Im Keller des Gebäudes hatten sie ein Ecstasy-Labor ausgehoben, das nicht nur den gesamten Westen Tschechiens bis hinein nach Prag mit der Designerdroge versorgt hatte. Die bunten Pillen made in Pilsen waren auch auf so manchem Pausenhof einer deutschen Schule gelandet.
Ondrej hatte den Zugriff eher unbeteiligt beobachtet. Schnell war ihm klar gewesen, dass diese Drogenbande nichts mit den Brüdern gemein hatte. Nachdem das Einsatzkommando unter dem Geschrei der ahnungslosen Gäste den Club gestürmt hatte, war er durch eine rostige Tür in den Hinterhof des Gebäudes gegangen. Dies war die Angelegenheit der Drogenfahnder und er wollte Vitalys Erfolg nicht im Weg stehen. Die Betreiber des Clubs hatten diesen in der Lagerhalle einer ehemaligen Spedition untergebracht. Dahinter hatten sich früher ein Parkplatz, die Verladerampen und mehrere Garagen befunden. Ondrej wollte bereits wieder in den Club zurückgehen, als ihm der verfallene Holzschuppen auffiel. Nein, nicht der Schuppen, sondern die junge Frau, die dort lag. Das Warten hatte ein Ende. Er zog sie tiefer in den Schuppen, versteckte sie vor den anderen. Dann gratulierte er Vitaly und fuhr nach Hause.
Dort legte er sich hin, ohne die Augen zu schließen. Er war müde, aber er wusste, dass der Augenblick gekommen war. Drei Stunden später fuhr er noch einmal hinaus nach Litice. Er ließ seinen Wagen abseits stehen und schlich sich von der Rückseite in den Schuppen. An den Zugängen zum Club waren die Autos der Spurensicherung postiert. Sie bemerkten ihn nicht. Und wenn, dann hätte sein Dienstausweis ihre Fragen beantwortet.
Unbemerkt trug er die Tote zu seinem Wagen und fuhr mit ihr davon. Nicht zurück zu seiner Wohnung und auch nicht ins Präsidium. Ondrej fuhr nach Süden, hinaus aus der Stadt zu den Ruinen der ehemaligen Zementfabrik. Er kannte den Ort von einem seiner Einsätze. Er besaß nicht mehr die Kraft, die Frau in den Kellerraum zu bringen, der sein Geheimnis bewahrte. Also holte er den...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.