Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Die Stadt Singapur entstand nicht, wie Städte sonst meist, allmählich durch natürliche Ablagerungen des Geschäftslebens an den Ufern eines Flusses oder am Schnittpunkt alter Handelsstraßen. Sie wurde schlicht und einfach erfunden, eines Morgens im frühen neunzehnten Jahrhundert, von einem Mann, der auf eine Landkarte blickte. »Hier«, sagte er sich, »brauchen wir eine Stadt, auf halbem Wege zwischen Indien und China. Das wird der große Haltepunkt auf der Route in den Fernen Osten. Wohlgemerkt, den Holländern wird es nicht gefallen und Penang wird sich nicht freuen, gar nicht zu reden von Malakka.« Der Name dieses Mannes war Sir Thomas Stamford Raffles; vor dem Krieg stand seine Bronzestatue am Empress Place, in einem Alkoven, der etwas von einer Jakobsmuschel hatte (heute steht er in Stein an einer schattigen Stelle am Fluss). Er war ganz und gar nicht der entschlossen dreinblickende Mann, den man sich vorgestellt hätte - eigentlich sah er sogar eher langweilig aus, im Gehrock.
Früher hatten einmal Menschen dort gelebt, doch bei seiner Ankunft war die Insel Singapur so gut wie verlassen, bis auf Ratten und Tausendfüßler, die es in rauen Mengen gab. Raffles vermerkte auch mit einem gewissen Unbehagen die vielen menschlichen Totenschädel und Skelette, Hinterlassenschaften der Piraten dieser Gegend. Trotzdem verlor er keine Zeit, mit einem erschrockenen Einheimischen in Verhandlungen um die Insel zu treten, und stellte anschließend, lesen wir bei seinem Biografen, einen sechsunddreißig Fuß hohen Fahnenmast auf. »Uns geht es«, schrieb er an einen Freund, »nicht um Land, sondern um Handel: einen großen Umschlagplatz, einen Dreh- und Angelpunkt, von dem aus wir auch politischen Einfluss ausüben können, sollten die Verhältnisse dies zu einem späteren Zeitpunkt erfordern.« Als er dort an dem einsamen Ufer stand und zur Flagge hinaufschaute, und die Ratten und Tausendfüßler wimmelten um seine Füße, sah Raffles da den Wohlstand, den die Zukunft Singapur bringen sollte, voraus? Mit Sicherheit tat er das.
Man darf sich, wenn man an die Stadt denkt, wie sie vor vierzig Jahren war, keine unzivilisierte Grenzstadt am Rande des Dschungels vorstellen. Man hätte nur ein einziges Mal durch das Stadtzentrum schlendern müssen, mit seinen breiten Prachtstraßen und Parks, hätte nur die gewaltigen Regierungsgebäude sehen müssen, die luxuriösen Läden, die marmorne Würde der Bankhäuser, dann hätte man gewusst, dass Singapur das Werk einer bedeutenden und kultivierten Nation war. Zugegeben, es gab auch andere Stadtteile, die Viertel der Einheimischen und der Zuwanderer, in denen die Tamilen, Malaien und vor allem die Chinesen wohnten, und die waren nicht ganz so eindrucksvoll. Dort, in den bodenlosen Tiefen, begingen chinesische Geheimgesellschaften zweifellos entsetzliche Verbrechen, entführten ihre eigenen angesehenen Bürger, kämpften gnadenlos um Bezirke, betäubten sich mit Drogen und so weiter. Wären Sie vor dem Krieg einfach nur als Besucher, sagen wir als Seemann hierher gekommen, dann wäre Ihnen Singapur mit Sicherheit nicht weniger großartig, nicht weniger aufregend als jede andere große Hafenstadt Ostindiens vorgekommen. Sie hätten in einer der Vergnügungsstätten getrunken und getanzt, vielleicht sogar im Great World selbst, dessen hallender Tanzsaal mit seinen schier unglaublichen Ausmaßen schon seit vielen Jahren einsamen Seeleuten wie Ihnen Unterhaltung geboten hatte. Hier konnte man für fünfundzwanzig Cent mit den schönsten Taxigirls des Ostens tanzen, konnte die lautesten Kapellen hören und an den Wänden die prachtvollsten gemalten Drachen bewundern. In der guten alten Zeit vor dem Krieg, bevor all die Soldaten kamen, konnte dieser Saal eine ganze Schiffsbesatzung schlucken und wäre einem Besucher immer noch leer vorgekommen, leer bis auf ihn und die zwei oder drei chinesischen Mädchen mit den aufgemalten Puppengesichtern, die mit ihm am Tisch saßen, bereit, ihn mit kleinen, doch kräftigen Händen zu stützen, wenn er, schwer vom Tiger-Bier, zu Boden zu gehen drohte.
Und wäre er dann nach draußen gewankt, hätte ihn jener unvergleichliche Duft umweht, der Geruch von Weihrauch, warmer Haut, Fleisch, das in Kokosnussöl brutzelte, von Geld und Jasminblüten, von Haaröl und Sex und Sandelholz und Gott weiß was sonst noch, ein Aroma wie der Atem des Lebens selbst. Und vom Dach des Seemannsheims oder von einem anderen, weniger respektablen Dach aus hätte er das riesige purpurrote Schild gesehen, das für Tigerbalsam Reklame machte, und daneben, wenn es erst einmal ganz dunkel geworden war, dessen Protagonisten, den großen Tiger mit Reißzähnen wie Dolchen, dessen Streifen orangerot glommen, wenn er sich zu seinem nächtlichen Rundgang über die schlafenden Dächer von Singapur aufmachte. Aber es war nicht zu leugnen, manche Teile der Stadt waren schäbig, andere elend, und es wurde, je weiter diese Vorkriegszeit fortschritt, schlimmer: Schon um 1940 begannen durch die Wände der billigen Hotels und Pensionen, die bis dahin nur dann und wann ein Stöhnen oder einen Seufzer durchgelassen hatten, Radiomusik, Gitarrenklimpern und die Stimmen von Nachrichtensprechern zu dringen. Jede Großstadt hat ihre hässliche Seite. Und so wollen wir uns lieber den schöneren Stadtvierteln zuwenden, der eleganten europäischen Vorstadt Tanglin zum Beispiel, wo Walter Blackett, Präsident des angesehenen Handels- und Maklerhauses Blackett & Webb, mit seiner Familie lebte.
Auf den ersten Blick sah Tanglin nicht anders aus als jede andere europäische Vorstadt, mit seinen geschwungenen baumgesäumten Straßen und den hübschen Bungalows. Es gab einen Golfplatz mit durchaus respektablem Rasen; vielfach sah man Tennisplätze jenseits süß duftender Hecken, sogar einen Swimmingpool oder zwei. Das Leben, das die Menschen hier lebten, war, alles in allem, friedlich und gemächlich. Aber wenn man genau hinsah, sah man, dass diese Vorstadt zum Bersten erfüllt war von einer beängstigend tropischen Energie. Blattwerk wucherte an allen Enden mit einer Entschlossenheit, die unsere schlaffe europäische Vegetation nicht kennt. Dunkles, schimmerndes Grün war über alles wie mit dem Malspachtel gestrichen, und im Halbdunkel (der Dschungel hat eine Tendenz zum Halbdunkel) steckte etwas Sinistres, das eben noch Laut gegeben hatte und nun den Atem anhielt.
Überließ man sein Haus ein paar Monate, während man zum Beispiel Urlaub in der Heimat machte, sich selbst, würde man mit einiger Sicherheit feststellen, dass Ranken um jeden vorstehenden Teil ihr grünes Lasso geschlungen hatten und es zu Boden zerrten, dass kräftige Farne die Fugen zwischen Backsteinen sprengten und dass gefräßige häuservertilgende Insekten, im Grunde nichts weiter als kräftige Kiefer auf Beinen, die hölzernen Partien verspeist hatten. Hinzu kam, dass die Moskitos dieser speziellen Vorstadt nur entfernte Verwandte jener harmlosen Gesellen waren, die uns an einem englischen Sommerabend lästig werden: In Tanglin hatte man es mit der gefürchteten Anophelesmücke zu tun, jede einzelne davon eine kleine fliegende Giftspritze, gefüllt mit einer tödlichen Dosis Malaria. Und wenn man durch einen glücklichen Zufall der Malaria entging, saß immer noch die zweite Moskitoart in den Startlöchern, die mit den gestreiften Fußballsocken, immer auf dem Sprung, einem das Denguefieber einzuimpfen. Wenn ein Kind sich beim Spiel im Garten das Knie aufschürfte, dann passte man besser auf, dass keine Fliege sich auf die Wunde setzte, denn sonst musste man am nächsten oder übernächsten Tag winzige weiße Maden mit der Pinzette herausholen. Zu jener Zeit, als manche Bereiche der Vorstadt noch direkt an den Dschungel grenzten, war es keineswegs ungewöhnlich, dass man im Garten von Affen, Schlangen oder dergleichen Besuch bekam, denen der Sinn nach Obst oder Mäusen stand (oder auch nach einem kleinen Hund, wenn man einen appetitlichen Welpen hatte). Aber lassen wir es genug sein mit dem Hinweis, dass es neben den üblichen Annehmlichkeiten des Vorstadtlebens auch die eine oder andere unvorteilhafte Seite gab.
Nicht weit vom Haus der Blacketts führte die Orchard Road sanft bergabwärts (es war eher ein gefühltes als ein reales Gefälle) und verlief fast schnurgerade über etwa eine Meile, bis sie sich in den Ausläufern von Chinatown und dem Geschäftsbezirk verlor, in dem Walter am Collyer Quay seinen Firmensitz hatte und die Woche über seine Schlachten schlug. Dort in der Innenstadt, wo einst Ratten und Tausendfüßler zu Hause gewesen waren, wimmelte nun das Geschäftsleben; Unternehmen gediehen und gingen nieder, verschlangen einander, kopulierten, schlugen sich gegenseitig die Zähne in die Flanken, schluckten die Bissen, rissen sich los, verschlangen die nächste Firma oder bestiegen einander, um neue zu zeugen, ganz wie sie es auch in anderen großen kapitalistischen Städten taten. Doch hier oben in Tanglin gingen die Leute still und ordentlich ihren täglichen Beschäftigungen nach, schienen weit entfernt von derart grässlichen Begegnungen, weit vor allem von dem dichten Gedränge der Einheimischen dort drunten in der Stadt. Aber sie bewegten sich, könnte man sagen, wie die Zeiger einer Uhr sich bewegen. Stellen Sie sich eine Uhr in einem gläsernen Gehäuse vor: Die Zeiger gehen wie selbstverständlich ihres Weges, aber zugleich können wir auch sehen, wie Federn und Wellen und Zahnräder ihre Arbeit tun. Und in der gleichen Art war das geordnete Leben in Tanglin auf die Stadt zu ihren Füßen angewiesen, auf das Festland jenseits der Dammstraße, dessen Handelshäuser, Bergwerke und Plantagen gleichsam die Wellen und Zahnräder waren, und die stumme, gigantische Masse der Arbeiter war die Feder, die dafür sorgte, dass unaufhörlich Spannung von einem Bestandteil dieses Organismus an einen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Adobe-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Adobe-DRM wird hier ein „harter” Kopierschutz verwendet. Wenn die notwendigen Voraussetzungen nicht vorliegen, können Sie das E-Book leider nicht öffnen. Daher müssen Sie bereits vor dem Download Ihre Lese-Hardware vorbereiten.Bitte beachten Sie: Wir empfehlen Ihnen unbedingt nach Installation der Lese-Software diese mit Ihrer persönlichen Adobe-ID zu autorisieren!
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.