Kapitel 1 - Taremia
Schon aus der Ferne breitete sich das Licht des Festes wie eine Kuppel über der Stadt aus. Das Zirpen der Zikaden wich zahlreichen Stimmen und Musik, die sich zu einem dumpfen Summen vereinten. Hohe Hecken, die mit Blumengirlanden geschmückt waren, umgaben den weitläufigen Garten. Über dem Eingangstor spannte sich ein Bogen, an dem Weinreben wuchsen. Der Abend war warm, die Luft geschwängert von köstlichen Düften. Das Aroma von gegrilltem Fleisch und frisch gebackenem Brot mischte sich mit der Süße von Wein und reifen Trauben.
Die Hochelfin Taremia atmete tief ein und wappnete sich innerlich für die kommenden Stunden. Sie hasste solche Feste. Sie hasste die dümmlich vor sich hin plappernde Oberschicht, die zur Schau gestellte Dekadenz und Heuchelei.
Mit einer geübten fließenden Handbewegung beschwor sie einen kleinen Spiegel vor sich. Ein letztes Mal überprüfte sie die sorgfältig aufgetragene Schminke. Ihre Lippen schimmerten dunkelrot und Rouge betonte ihre hohen Wangenknochen. Durch die schwarze Umrandung kam das Gold ihrer Iriden besonders zur Geltung. Sie richtete eine störende weiße Haarsträhne und verzog den Mund. Alles saß perfekt. So wunderbar und ekelhaft perfekt.
Taremia schnipste und der Spiegel verschwand.
»Nur ein paar Stunden«, raunte Hastor ihr zu. »Um drei Uhr nachts sind wir erlöst.«
Ihr Gatte trug einen weinroten Anzug, sein kurzes, weißes Haar war ordentlich nach hinten gekämmt.
Sie zupfte umsichtig ein schwarzes Katzenhaar von ihrem dunkelblauen Kleid und nickte ihm zu. »Bringen wir es hinter uns.«
Hastor und sie traten an den Weinrebenbogen heran und zeigten dem Menschenmann davor ihre Einladung.
»Werte Gäste!«, rief er der Gemeinschaft zu. »Es treten den Festlichkeiten bei: das Ehepaar Adaël! Hastor, der Löwe von Adular. An seiner Seite Taremia, Lehrmeisterin an der respektierten Magierakademie Krähenfels!«
Dutzende Gäste drehten die Köpfe in ihre Richtung. Ihre Gesichter wurden von Masken aus Lug und Trug verdeckt, ihre Münder verzogen sich zu falschen Lächeln, strahlend weiße Zähne blitzten hinter blutroten Lippen hervor. Die Augen waren wie die von Raubtieren, immer aufmerksam nach der kleinsten Schwäche, auf die sie sich stürzen konnten.
Sie hoben grüßend die Gläser, hießen die Neuankömmlinge in ihrer Mitte willkommen wie ein Wolfsrudel verirrte Lämmer. In solchen Runden musste man der Wolf im Schafspelz sein. Unschuldig genug wirken, um als potenzielles Beutetier betrachtet zu werden, und gleichzeitig deutlich machen, dass sich hinter der guten Miene messerscharfe Zähne verbargen, die man jederzeit benutzen konnte.
Taremia hakte sich in Hastors Arm unter und schritt bedächtig mit ihm voran. Keiner von ihnen wollte hier sein. Leider verpflichtete Adel. Wenn irgendeine mit Gold und Einfluss reiche Person irgendeinen Erfolg zu verbuchen hatte, musste die ganze Oberschicht antanzen, um das zu feiern. In diesem Fall wurde das Fest vom Eldras-Clan veranstaltet. Eine Familie voller Juristen - mal mehr, mal weniger korrupt -, die seit Generationen in Adular ihr Unwesen trieb. Anlass hierfür war die Verlobung des jüngsten Sohnes mit der Tochter eines Richters.
Statt sich also in einem bequemen Sessel zu befinden, mit einem guten Buch in der Hand und ihrer Katze auf dem Schoß, war Taremia unter Leuten, die sie allesamt nicht leiden konnte. Und umgekehrt.
»Halvien und ihr Mann sollten auch hier sein«, sagte Hastor, während er suchend den Blick schweifen ließ. »Möglicherweise sind Hebriel und Hiriana das ebenfalls und haben mir nichts davon gesagt.«
Taremia nickte leicht. »Nun, dann sind wenigstens ein paar angenehme Personen da.«
Hastor und seine drei Schwestern waren Vierlinge, Halvien war die älteste von ihnen. Er hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihr und ihren beiden Töchtern. Mehrlings-Schwangerschaften waren bei Wald- und Hochelfinnen deutlich höher als bei den anderen Völkern, aber Vierlinge waren auch unter ihnen eine absolute Seltenheit.
»Ich fürchte, einige von meinen Verwandten werden auch hier sein«, brummte Taremia. »Lass uns bitte versuchen, ihnen auszuweichen, ja?«
»Nichts lieber als das«, murmelte er.
Über ihren Köpfen schwebten sogenannte Orbs, magische Glaskugeln, die für unterschiedliche Dinge gebraucht wurden. Beispielsweise als Fokus für Zauber auf der Spitze eines Magierstabes, oder als Speichermedium für arkane Energie. Hier wurden sie als Lichtquelle benutzt und warfen einen warmen Schein auf die Festgemeinde.
In der Mitte des Gartens befand sich ein Feuer, über dem ein Spanferkel briet. Auf runden Tischen wurden Speisen angeboten: saisonales Obst und Gemüse, Fisch und Fleisch sowie Süßspeisen. Fein gekleidete Diener liefen mit Tabletts voll gefüllter Kelche zwischen den Gästen umher und reichten ihnen Wein oder Beerensaft.
»Wünscht Ihr etwas zu trinken?« Eine zwergische Dienerin war neben Hastor stehen geblieben und verneigte sich höflich.
»Danke, nein«, antwortete er. »Später.«
Taremia nickte lediglich, um sich seiner Entscheidung anzuschließen. Sie würde noch früh genug das Bedürfnis verspüren, sich das alles hier schön zu saufen.
Gemächlich schlenderten sie durch den Garten. Vorbei an anderen Hochelfen, an Waldelfen, Menschen und Zwergen. Sie standen vornehmlich in kleinen Gruppen zusammen und plauderten. Manche waren in der Nähe der Barden und bewegten sich zum Takt der Musik, ohne wirklich zu tanzen. Zwei Waldelfinnen hatten die Köpfe zusammengesteckt und lästerten auffällig unauffällig über eine dritte Waldelfin, der sie immer wieder missbilligende Blicke zuwarfen.
Dunkelelfen waren, soweit Taremia es sehen konnte, nicht anwesend. Früher, vor der Revolution, wäre der Saal voll von dunkelelfischen Sklaven gewesen. Elfen und Elfinnen, denen man Halsbänder umgebunden hätte, die geduckt und leise wie Mäuse durch den Raum gehuscht wären und unterwürfig Leckereien angeboten hätten.
Bisher waren sehr wenige Dunkelelfen Adulars in den Adelsstand erhoben worden. Und die mieden Feste wie dieses. Taremia konnte das durchaus nachvollziehen. Urteilende Blicke bekam dieses Volk oft genug zu spüren und man konnte seine Zeit schöner verbringen, als sich von allen Seiten rassistische Kommentare anzuhören.
»Werte Gäste! Heißen wir Ralnor Farkian herzlich willkommen«, verkündete der Mann am Empfang lautstark.
Verachtung stieg wie bittere Galle in Taremias Rachen auf und sie presste unwillkürlich die Zähne zusammen. Ihren alten Familiennamen zu hören, war, als würde sie den Arm bis zum Ellenbogen in ein Hornissennest stecken.
Hastor zog sie aufmerksam zur Seite und tauchte mit ihr in der Menge ab, obwohl er von allen Anwesenden wohl am schwersten zu übersehen war. Er war selbst für einen Hochelfen auffällig groß, maß weit über zwei Meter und hatte den athletischen Körper eines Kriegers. Hastor ragte wie ein Fels aus dem Meer der Gäste hervor, dennoch pflegte Taremia die Hoffnung, dass sie heute Abend ihre Ruhe vor der lästigen Verwandtschaft hatte.
Ralnor war einer von vielen angeheirateten Onkel und sie verabscheute ihn mit jeder Faser ihres Körpers, weil er sie an ihren Vater erinnerte. Weil er genauso frauenfeindlich, herablassend und heuchlerisch war wie einst Camrik. Ralnor spielte sich gerne als Wohltäter auf, spendete für Waisenhäuser, ließ Essen unter den Armen verteilen - solange es keine Dunkelelfen waren. Dass all sein Reichtum unter anderem durch das Schmuggeln von Hehlerware zustande kam, wusste die Öffentlichkeit nicht.
»Da vorne ist meine Schwester«, raunte Hastor und deutete mit dem Kinn in die Richtung.
Taremia folgte seinem Zeichen und entdeckte Halvien neben einem Menschenmann, der ihr einen Kelch Wein überreichte.
Sie trug ein hellblaues, fast weißes Kleid, das mit zahlreichen blauen Perlen und feinen Stickereien bestückt war. Um den Hals hatte sie einen aufwendig gefärbten Seidenschal geschlungen. In der Mitte schwarzblau wurde er zu den Enden zunehmend heller. Auf ihrem Kopf saß eine Krone aus Blumen in verschiedenen Blautönen. Halvien hatte die gleichen stechend gelben Augen wie Hastor, nur funkelte in ihnen immer noch Leben und Wärme.
»Hastor!«, rief die Hochelfin freudig aus, als sie ihn erblickte.
Halvien überbrückte die Distanz zwischen ihnen und umarmte ihren Bruder herzlich. Sie streckte sich etwas und hauchte einen Kuss auf seine Wange. »Ich freue mich, dich zu sehen.« Sanft drückte sie Taremia die Hand. »Euch natürlich ebenfalls. Ihr seht wundervoll aus, Taremia.«
»Danke«, erwiderte sie und vollführte einen eleganten Knicks. »Das Kompliment gebe ich gern an Euch zurück.«
Hastor lächelte. Es war ein kleines, aber vollkommen aufrichtiges Lächeln. Eine Geste, die er nur einer Handvoll Personen zubilligte. »Bist du ganz allein hier? Wo ist Baran?«
»Mein Mann muss leider das Bett hüten. Er hat sich vor drei Tagen eine dieser lästigen Sommergrippen eingefangen.« Kopfschüttelnd strich Halvien sich eine lange weiße Strähne zurück. »Sein bellender Husten füllt seitdem gefühlt jedes Zimmer im Haus.«
»Ich...