Schweitzer Fachinformationen
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Ich wurde 1836 in Saint-Brice geboren, einem hübschen kleinen Dorf der Côte d'Or, zwischen der Saône und dem Kanal von Burgund. Es war April, und es herrschte noch strenge Kälte. Wenn es später einmal Stein und Bein fror, sagte meine Mutter immer: «Das erinnert mich an den Winter, als ich Félicien bekam.» An einen Winter, der die Vorboten des Frühlings vertrieb, wovon schon die Tatsache zeugt, daß mein Pate sich vor der Kirche, in der man mir eben das Taufwasser verabreicht hatte, auf der vereisten königlichen Straße ein Bein brach - mitten im Mai.
Meine Geburt löste in der ganzen Familie überschwengliche Freude aus, und die Verwandten kamen nach burgundischer Art von weit und breit herbeigeeilt und beglückwünschten meinen Vater, dessen Keller mit guten Weinen gefüllt war. Respektlose Heiden gingen soweit, mich mit diesem Wein vorab zu taufen. Man hat mir erzählt, mein Vater habe voll Stolz auf sein Werk ausgerufen: «Schaut euch diesen kleinen Fratz an und seht nach, ob es ein Mann ist!» Dann habe er mich den versammelten Gevatterinnen mit einer kecken Bemerkung splitternackt vorgeführt.
Er hatte eine rauhe Schale, aber einen guten Kern. Sein Vater war Holzhändler gewesen und hatte ihn das Handwerk eines Kahnbauers erlernen lassen. Alle Binnenschiffer der näheren und weiteren Umgebung waren seine Kunden. Sicher, er hatte die Tochter eines Bootseigners geheiratet, und meine brave Mutter konnte sich rühmen, ihm nicht nur 4000 Francs in bar, sondern auch den hübschesten Blondschopf geschenkt zu haben, den es in ganz Burgund gab. Ach, meine arme Mutter, sie war so sanft und gütig! Ich sehe sie noch vor mir, wie sie auf die Vierzig ging. Vor meinem geistigen Auge steht eine zierliche, schmucke und lebhafte Frau mit Holzpantinen, die wie Kastagnetten klapperten. Blaue Augen, die blau blieben. Ein breites Kinn. Ein erstaunter, kindlicher, fröhlicher Gesichtsausdruck. Sie war für den Frieden des burgundischen Landes geschaffen, und ich glaube sagen zu können, daß es zwischen ihr und meinem Vater immer nur Beweise der Zärtlichkeit und Zuvorkommenheit gab. Er arbeitete an seinen Kähnen, sie besorgte ihren Haushalt, und beide ertrugen die Schläge des Schicksals, die übrigens nie sehr hart waren, mit Fassung, bis an die Schwelle ihres Alters, als meine fortwährenden Torheiten sie allzu oft bekümmerten.
Das Elternhaus spiegelte sich in der Saône, nur hundert Schritte vom Kanal entfernt. An einer sandigen Bucht stand die Werft, große, offene Schuppen, in denen die Gerippe der Kähne lagen, an denen gerade gebaut wurde. Dort arbeiteten ungefähr zehn Männer. Mein Vater, ein tüchtiger Schreiner und guter Entwerfer, zeichnete die Modelle und richtete die Balken zu. Er verdiente, «was er wollte». In der ganzen Gegend hieß es: «Die Fargèzes leben sorglos wie die Fische in der Saône. Sie müssen einen guten Notgroschen haben.» Das stimmte. Bei uns herrschte niemals Not. Man aß gut, man trank nicht zu knapp, und in den Taschen meiner Mutter klimperten immer einige Sous.
Die beiden mit Glück und Gesundheit gesegneten Geschöpfe zogen mich auf wie einen jungen Gott. Sie hatten sieben Jahre auf mich gewartet. Papa hatte befürchtet, keinen Stammhalter mehr zu bekommen. So kam man stillschweigend überein, sich meinen Launen zu fügen. Meine Mutter gab mir zwanzig Monate lang die Brust. Mein Vater bemerkte, daß ich begehrliche Blicke auf sein Glas warf, und beeilte sich, mich mit dem köstlichen Geschmack des Weins bekannt zu machen. So wurde ich groß und stark. Ich spielte mit dem dicken Hund Ravageot, dem wachsamen Hüter der Werft, im Sand am Fluß. Ich machte die tollsten Bocksprünge. Meine Kameraden mochten mich und hatten gleichzeitig Angst vor mir. Mit sechs Jahren vertraute man mich dem Schulmeister an, das heißt, ich geruhte, mich ihm anzuvertrauen. Ich lernte alles, was er mich lehren wollte. Meine Eltern strahlten. Mit neun Jahren kannte ich die Geschichte Frankreichs und den Katechismus auswendig. Ich war sanft und folgsam geworden. Der entzückte Pfarrer erhob mich zum Meßknaben. «Wir werden einen schönen kleinen Abbé aus ihm machen», sagte er. Meine Mutter ging eigentlich nur wegen der Kommunion zur Kirche, und mein Vater ließ sich nur Ostern im Gotteshaus sehen, aber sie rebellierten nicht bei dem Gedanken, ihr Sohn könne ein Schwarzrock werden.
Am Nachmittag, nach der Schule, versammelten sich die Jungen und Mädchen vor unserem Haus. Wir spielten Bäumchenwechseldich und Verstecken. Ich war freilich nicht so gern mit den Jungen zusammen wie mit den Mädchen. Zusammen mit ihnen errichtete ich Fronleichnamsaltäre, die mit Kieselsteinen und Blumen geschmückt waren. Ich erfand unschuldige Spiele, bei denen Küsse als Pfänder dienten. Meine Freundinnen hießen Berthe Fillol, Agathe Lureau, Marie Bonbernard, alles Mitschülerinnen vom Katechismusunterricht. Wir waren unzertrennlich. Ich verteidigte sie gegen die Bosheit meiner Kameraden. Ich spielte mit ihnen Theater. Ich wurde selbst «mädchenhaft». Meine Mutter grollte: «Warum spielst du denn nicht mit den Jungs? Man wird dich noch für ein Mädchen halten.» Ich tat so, als wolle ich auf sie hören, aber eine Minute danach lief ich schon wieder zu meinen kleinen Freundinnen und küßte sie auf ihre frischen Wangen. Ohne jeden bösen Hintergedanken machte ich mich mit ihnen vertraut. Wenn es dunkel wurde, kamen sie, ganz harmlos dreinschauend, mit hüpfenden Schritten in unseren Garten. Dort hoben sie ihre Rücke hoch und zeigten mir ihren Allerwertesten. Das machte mir viel Spaß, wie man es von einer verbotenen und unkeuschen Sache erwarten kann. Anschließend drehten sie sich ernst, aber ebenso leichtfüßig um. Man hätte meinen können, sie führten ein Ritual aus. Sie glaubten wohl, mich mit diesen Privatvorführungen für die vielen kleinen Dienste zu belohnen, die ich ihnen leistete. So ging es fast jeden Abend, vom Frühling bis in den Herbst hinein. Nie dachte jemand daran, sich um unser Treiben zu kümmern, und nie schritten wir weiter auf dem Weg der Sünde. Diese Kleinigkeiten genügten meiner naiven Neugier.
Dann kam meine Erstkommunion. Welch ein Ereignis! Einige Monate später heimste ich in der Schule alle ersten Preise ein. Ich hatte die Dorfschule absolviert. Was sollte man mit mir machen? Mama wollte, daß ich bei ihr blieb. Papa sagte: «Möchtest du in der Werft arbeiten, mein Sohn? Dann wirst du mein Lehrling.» Auch der Herr Pfarrer wollte nicht auf mich verzichten. Aber der Schulmeister trat dazwischen: «Monsieur Fargèze, ich denke doch, daß Sie etwas für Félicien tun werden. Ihre Mittel erlauben es.» Mehr bedurfte es nicht. Wissen! Diplome! Eine Zukunft! Die väterliche Eigenliebe war genügend gekitzelt. «Mit sechzehn wird er das Reifezeugnis haben. Dann können Sie aus ihm machen, was Sie wollen.» Mein Vater fluchte: «Zum Teufel! Sie haben recht, Monsieur Benoît. Es ist meine Pflicht, etwas für Félicien zu tun. Trinken wir einen Schoppen darauf.» Meine Mutter weinte. Der Pfarrer ereiferte sich. Was mich betraf, so sagte ich, voller Stolz auf meine Wichtigkeit, kein Wort. Man beschloß, mich aufs Gymnasium zu schicken.
Es war der 16. Oktober 1848. Mein Vater brachte mich mit der Kutsche nach Dijon, das 8 Meilen von Saint-Brice entfernt ist. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen - ach! wie viele Jahre trennen mich heute, wo ich diese Worte schreibe, von jener Kindheitserinnerung -, ich weiß noch, wie wir in einem Gasthaus in einem Vorort aßen, wie wir das düstere alte Kloster in der Rue Saint-Philibert betraten, das in ein Internat verwandelt worden war, ich weiß noch, wie ich dem Direktor vorgestellt wurde, Monsieur Lemoine, dessen fahles Gesicht mich erstarren ließ. Ich hatte mir geschworen, nicht zu weinen, doch als mein Vater sich in der großen Halle von mir verabschiedete, mich mit einer inneren Bewegung umarmte, die zu unterdrücken er nicht imstande war, brach ich in Tränen aus. Ich wollte zurück nach Saint-Brice. Ich wälzte mich auf dem Teppich. Man mußte mich mit Gewalt in den Pausenhof bringen, wo meine künftigen Mitschüler sich tummelten. Ich riß mich zusammen, und meine Tränen trockneten schnell. Trotzdem konnte ich beim Abendessen nichts hinunterbringen, und in meinem kleinen Bett mitten in dem riesigen Schlafsaal schluchzte ich von neuem, außer mir vor Kummer. Eine Woche später war ich dann der unbändigste und fröhlichste Schüler des Gymnasiums von Dijon. Ich machte wieder meine alten Bocksprünge, und mir fielen neue ein. Meine Kameraden bewunderten abermals meine Kraft und meine Behendigkeit.
Doch wie soll ich die plötzliche Verwandlung erklären? In Saint-Brice war ich fleißig gewesen, stolz auf meine guten Noten. In Dijon war ich immer nur faul und zerstreut. Ich pfuschte bei den Schulaufgaben; ich lernte meine Lektionen schlecht. Ich war tonangebend beim Radau in den Studierzimmern, im Schlafsaal, überall. Sogar in der Kapelle! Vergebens bestrafte man mich ein über das andere Mal: Es nützte nichts. Der «Gymnasiast Fargèze» unterschied sich so sehr vom «Volksschüler Fargèze», daß mein alter Schulmeister - der brave Mann! - dem Direktor einen bewegenden Brief schrieb, in dem er an die Lorbeeren erinnerte, die ich in Saint-Brice gesammelt hatte, und empfahl, mit meinem «zu ungeduldigen Geist» Nachsicht zu üben. Daraufhin ließ mich der strenge M. Lemoine in sein Kabinett kommen, wo er mir seine Überraschung und seine Entrüstung ausdrückte: «Monsieur, mir scheint, Sie haben Ihre guten Anlagen in Saint-Brice gelassen? Ich bin froh, daß man es mir mitgeteilt hat. Von nun an werden...
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