Schweitzer Fachinformationen
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Aus einem Wagen, der soeben angehalten hat, steigt ein Bursche unbestimmten Alters mit New-York-Yankees-Baseballkappe und Ray-Ban-Sonnenbrille, bedächtig wie eine Spinne, die eine Mauerritze hochkriecht. Ohne Hilfe der beiden vorn im Auto sitzenden Männer holt er aus dem Kofferraum eine Reisetasche. Es sind altgediente Soldaten, und obwohl sie kein Wort darüber verloren haben, weiß er, daß sie nicht viel von seinesgleichen halten.
Der Bursche wirft sich die Tasche über die Schulter, nickt den beiden Männern im Fahrzeug dankend zu. Sie sehen mit offensichtlicher Verachtung weg, seine Dankbarkeit interessiert sie nicht. Sein Lächeln zeigt jugendlichen Wagemut, verbirgt seine Beklommenheit. Er will nicht versagen, darf nicht versagen. Der enorme Unterschied zwischen einem Märtyrertod und eine Sache in den Sand zu setzen und dabei umzukommen, ist ihm bewußt. Natürlich will er nicht sterben, nicht bevor er seinen Traum verwirklicht hat.
Er ist klein, sein Ehrgeiz groß. An seinem ersten Tag in der Al-Schabaab hatte ihn der Ausbilder, der sich über ihn aufgeregt hatte, am Kragen gepackt und auf somalisch angebrüllt: »Waxayahow yar!« – »Du Grünschnabel!« Der Spitzname blieb hängen, und wenn er fällt, fühlt er sich mittlerweile auch angesprochen. Das Auto stößt zurück, er bewegt sich auf der staubigen Straße vorwärts, atmet schwer unter seiner Last.
Es ist heiß; kurz vor Mittag kommt ihm eine Frau entgegen, die ein Körperzelt trägt. Er weckt ihr Interesse, ein zierliches, knapp 1,40 Meter großes Kerlchen, das eine Reisetasche schleppt, größer und schwerer als es selbst. Sie beobachtet, wie der Bursche die Tasche auf den Boden stellt und erleichtert aufseufzt. Erst wenn er seine Sonnenbrille abgenommen hat, wird sie es in Betracht ziehen, den Gesichtsschleier zu heben oder Fragen zu beantworten.
Sie beschließt, ihm von gleich zu gleich zu begegnen und löst ihren Schleier. Beugt sich hinab und sieht ihm in die Augen, will ihm die Nervosität nehmen. Sie tauschen den üblichen Gruß aus – sie sagt Nabad, das somalische »Friede sei mit dir«, er bevorzugt das arabische Pendant, Salamu alaikum.
»Kann ich helfen?« fragt sie. »Sieht so aus, als ob du dich verirrt hast.«
Sie möge ihm sagen, in welcher Richtung die Kibla liege, bittet er sie.
Sie läßt sich Zeit, überlegt, ob er wohl einer der Handlanger ist, die für die Al-Shabaab die schmutzige Arbeit verrichten. Der arme Kerl muß die Kibla – den arabischen Ausdruck für die Richtung in der Mekka liegt und in die sich ein Muslim beim Gebet wendet – mit Norden verwechseln, denkt sie und fragt sich, ob er ein Mann mit der Stimme eines Jungen oder ein Junge im Körper eines Mannes ist. Sie stehen auf einer der staubigen Straßen East Wardhiigleys, eines heruntergekommenen Viertels Mogadischus, und taxieren einander. Cambara ist auf dem Weg zum Bakaaraha-Markt; sie benötigt noch ein paar Dinge für die Wohnung, die sie für ihre Gäste vorbereitet, Jeebleh und seinen Journalistenschwiegersohn Malik, die morgen eintreffen werden. Während sie Grünschnabel betrachtet, kommt ihr der Gedanke, daß er sich vielleicht als jemand ausgibt, der er gar nicht ist, so wie sie sich, ehe sie das Haus verläßt, das Körperzelt wie eine Verkleidung überstreift. Die Somalierinnen, die zuvor nie Schleier zu tragen pflegten, nahmen nach Ausbruch des Bürgerkrieges 1991 dazu Zuflucht. Damit fühlten sie sich etwas geschützter vor sexuellen Belästigungen durch bewaffnete Jugendliche. Seit aber 2006 die Union islamischer Gerichte die Herrschaft über Mogadischu übernommen hat und ihre Auslegung der Scharia ausweitet, ist die Verschleierung ein Muß geworden. Frauen, die Hosen tragen oder etwas freizügigere Kleider, wie noch vor dem Bürgerkrieg, werden bestraft.
Sein Haar ist aschefarben und mit Locken geschlagen, deren kein Kamm Herr wird. Den wenigen Worten, die sie bisher vernommen hat, entnimmt sie, daß er noch nicht im Stimmbruch war. Dennoch ist sein Gesicht von jenen tiefen Furchen durchzogen, die sie mit den Hirten aus der Zentralregion assoziiert, wo die politischen Unruhen der letzten Zeit entstanden sind. Die Al-Schabaab, der Militärflügel der Union der islamischen Gerichte, versuchte, die Einwohner der Stadt bis zur Unterwerfung zu terrorisieren, und es sieht so aus, als wäre sie einigermaßen erfolgreich gewesen. Sie vermutet, daß er einer der Al-Schabaab-Rekruten ist, die den Auftrag haben, eines der Häuser hier in der Nachbarschaft zu »weihen«, genauer gesagt, zu beschlagnahmen, um von dort aus gemeinsam mit seinen Mitstreitern gegnerische Ziele anzugreifen. Cambara zeigt nach Süden, schickt ihn in die falsche Richtung, weit weg vom nordöstlichen Teil der Stadt, in dem sie wohnt.
Grünschnabel greift nach seiner Reisetasche und marschiert in die Richtung, die ihm die Frau gewiesen hat. Er verlagert die Last von einer Schulter auf die andere, atmet schwer durch die Nase und legt hin und wieder eine Pause ein. Er gibt sich stärker als er ist, versucht sich in beschwingtem Gang, aber es ist ganz offensichtlich, daß er Theater spielt; er schafft keine zwei Schritte, ohne ins Schwanken zu geraten. Das Gewicht der Tasche belastet ihn so, daß er sich nicht mehr an die Einzelheiten seiner Anweisung erinnern kann. Er kann sich zweifellos glücklich schätzen, daß er für diesen heiklen, geheimnisvollen Auftrag ausgewählt worden ist. Sein erster Einsatz. Er wird alles tun, um die Anführer der Zelle, deren vollwertiges Mitglied er jetzt ist, zu beeindrucken. Bei diesem Gedanken zieht ein Lächeln über sein Gesicht und für kurze Zeit wird sein Gang wieder dynamischer.
Schon beim bloßen Gedanken daran, wie er die Reisetasche abgeholt hat, verliert er das Gleichgewicht. Man hatte ihn zu einem bärtigen Mann geschickt, dessen Kampfname Garweyne, Vollbart, lautet. Ihm gehört auf dem Bakaaraha-Markt, einem Zufluchtsort, in dessen labyrinthischen Windungen die Rebellen häufig ihre Angriffe planen, einer der größten Computerläden. Wer sich in diesem riesigen Markt nicht auskennt, den verwirren die vielen Sackgassen, die von Buden und Ständen gesäumt sind, deren Aufbau einen halben Tag dauert, ihr Abbau lediglich ein paar Stunden.
In die Reisetasche hat Vollbart Minen, Granaten und andere Sprengkörper gepackt, Kleinwaffen, die, so vermutet Grünschnabel, dazu gedacht sind, im Fall eines äthiopischen Angriffs Löcher in Flugzeugrümpfe zu reißen. Tatsächlich hat Vollbart darüber kaum Worte verloren, und Grünschnabel weiß, daß es ihm nicht zusteht, Fragen zu stellen. Er darf seiner Neugier nicht nachgeben, jegliches Abweichen von seinen Anweisungen zöge eine schwere Strafe nach sich. Soviel ist ihm klar: Er bildet die Vorhut einer Kommandoeinheit, die den Boden vorbereitet, damit die Al-Schabaab sofort auf eine äthiopische Invasion Mogadischus reagieren kann. Normalerweise beschäftigt er sich mit Sprengstoffen, doch heute ist es seine Aufgabe, ein als sicher eingestuftes Haus zu »weihen«.
Das Aufgebot, dem Grünschnabel angehört, besteht aus einem ausgewählten Kreis von Kämpfern, die dem Befehl zweier Männer unterstehen. Einer der beiden trägt den Kampfnamen Dableh, Fußknecht. Bei Ausbruch des Bürgerkriegs war er Befehlshaber über das größte Waffenlager des Landes, vom damaligen Diktator Barre höchstpersönlich zum Oberst ernannt. Nach Ausbruch des Bürgerkrieges wechselte der Oberst die Seiten und gewährte dem Warlord StrongmanSouth uneingeschränkten Zugriff auf dieses Lager, versorgte dessen Clanmiliz mit Waffen und ermöglichte es ihr, das Staatsoberhaupt aus der Stadt zu jagen. Dableh hat sowohl den Bürgerkrieg als auch die Schicksalswirren seiner Herren überlebt. Nach StrongmanSouths Tod verlor Fußknecht keine Zeit, wechselte zur Union islamischer Gerichte und trug 2006 zu ihrem endgültigen Sieg über die Warlords bei. Seit ein paar Monaten verwendet er seine militärische Sachkenntnis auf die geplante Invasion Baidoas, dem Sitz der schwachen Übergangsregierung.
Der zweite Mann in der Hierarchie trägt den Kampfnamen Al-Xaqq, Die Wahrheit, einen der neunundneunzig Namen Allahs. Als bescheidener Mann gibt Al-Xaqq seinem Namen ein weltlicheres Gewicht und zieht es vor, VerkünderDerWahrheit genannt zu werden. Er ist Sprengstoffexperte und ein hochrangiges Mitglied der Union, ein gelehrter Mann, der über große Erfahrung in Menschenführung verfügt. Er ist stolz auf seine beeindruckende Fähigkeit, potentielle Selbstmordattentäter zu erkennen. Die jungen Männer werden von ihm ausgebildet. Al-Xaqq schläft und ißt gemeinsam mit ihnen – um ihre Hingabe zu testen, unterwirft er sie manchmal harten Strafen oder unangenehmen Prüfungen – und zementiert so die Treue der jungen Männer vor ihrem Einsatz. Manchmal ist er der einzige, der die Einzelheiten eines Einsatzes kennt, stimmt diesen genau auf den von ihm handverlesenen Märtyrer ab. Als Grünschnabel vor ein paar Monaten den Anforderungen eines Selbstmordattentäters nicht gerecht wurde, schlug VerkünderDerWahrheit vor, er solle sich bei den Sprengstoffen einarbeiten, und stellte ihn zu Fußknechts Einheit ab.
Grünschnabel kennt den Ablauf: Vollbart wird sowohl an Fußknecht als auch an VerkünderDerWahrheit eine Bestätigungs-SMS geschickt haben, daß Grünschnabel die Reisetasche abgeholt hat. Besondere Ereignisse erfordern besondere Rituale, die häufig wiederholt werden – jedesmal, wenn einer der Rebellen von den Anführern des Aufstands Waffen oder Geld erhält.
Vom Herumschleppen der Tasche erschöpft, legt Grünschnabel eine längere Verschnaufpause ein, bezweifelt, daß er sich auf dem richtigen Weg befindet. Laut dem Fahrer hätte das...
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