DIE FAMILIE METZGER
"Da rollt mächtig Speck an", hätte man meinen können, wenn man damals schon gewusst hätte, was auf die kleine Stadt am untersten Zipfel Niedersachsens an jenem finsteren Abend im Oktober zugerollt kam. Zuerst war es nur ein stürmischer Tag gewesen, doch dann, am späteren Abend, waren dunkle mächtige Wolken aufgezogen. Wie ein undurchdringlicher Schleier legte sich das Schwarz der Nacht über die Häuserdächer; aus den Wolken prasselte es unaufhörlich auf die kalten, kopfsteingepflasterten Straßen nieder.
Die Personen, die jetzt noch unterwegs waren, suchten Schutz unter den Vordächern der kleinen Läden in den beiden wichtigsten Einkaufsstraßen von Hannoversch Münden, der Lange Straße oder Burgstraße, oder sie kehrten in eines der gemütlichen Restaurants am Marktplatz ein, wie dem griechischen Restaurant Kreta oder der eher bodenständigen Rathausschänke.
Keiner wollte bei diesem Mistwetter noch auf den Straßen sein. Nicht einmal Berthold Wellhausen, der bei Weitem erfolgreichste Makler der Stadt, wollte an diesem Abend noch länger vor dem alten Anwesen am Entenbusch warten, da es dort keinerlei Möglichkeit gab, sich unterzustellen. Die Markisen vor den Fenstern hatte längst ein Unwetter vor knapp einem halben Jahr mit sich gerissen.
Aber Berthold Wellhausen wollte noch heute das Geschäft seines Lebens unter Dach und Fach bringen. Viel zu lang hatte er schon versucht, einen Käufer für das alte Anwesen im Entenbusch zu finden. Und umso überraschter war er gewesen, als er vor wenigen Tagen einen Anruf erhalten hatte und ein Interessent sofort auf seine Forderungen eingegangen war, dass man dieses Anwesen nur cash kaufen könne - ohne jahrelange Finanzierungsmöglichkeit. Schon vor zwei Stunden hatte sich Berthold Wellhausen auf den Weg zum Anwesen gemacht, allerdings zu Fuß, weil es da noch nicht so erbärmlich aus vollen Eimern goss. Sein recht sporadisch eingerichtetes Büro in der Burgstraße lag nur wenige Hundert Meter entfernt; und da er gern zu Fuß unterwegs war, lief er auch heute wieder, so wie fast an jedem Tag, mit seinen Unterlagen, Papieren, Verträgen und Katalogen über den Marktplatz, um zu sehen, aber auch um gesehen zu werden, denn nichts war ihm wichtiger als die Meinung der Bürger dieses kleinen Städtchens, wo es so viel Klüngelei gab, dass es ihm oft zuwider war, hier noch länger tätig zu sein.
Berthold Wellhausen, der schon jenseits von Gut und Böse war - sprich, er war über Fünfzig - war ein Mann, der sehr genau wusste, was er wollte und was nicht. Jeden Tag putzte er sich heraus, kleisterte sein Gesicht mit Kosmetika voll, als würde er von der königlichen Familie höchstpersönlich empfangen werden. Doch auf eine Einladung der Queen wartete er vergebens, auch wenn er den Traum eines royalen Titels noch nicht ausgeträumt hatte.
Heute trug er einen Armani-Anzug im dezenten Anthrazit und darunter schimmerte ein blaues Hemd, dass er gern offen trug - jedenfalls zwei bis drei Knöpfe weit. Seine Handgelenke und den Hals zierten breite, goldfarbene Ketten, wobei man bei Berthold Wellhausen nie sicher sein konnte, ob es nun billiger Modeschmuck oder seine teuersten Schätze waren. Seine längst ergrauten Haare hatte er nach hinten gekämmt und seine Hände verbarg er unter Gummihandschuhen, mit denen man ihn aber niemals außerhalb eines zu verkaufenden Objekts gesehen hätte.
Er war schon so früh unterwegs, weil er das alte Anwesen, bestehend aus einem Wohnhaus und einem Ladengeschäft, gründlich durchlüften wollte. Und auch eine zumindest oberflächliche Reinigung tat den meisten Zimmern gut. Den zu erwartenden Käufer sollte nicht gleich der modrige Gestank in die Nasenflügel steigen, den bereits zig Firmen versucht hatten, aus dem alten Fachwerkgemäuer zu tilgen.
Woher dieser Gestank kam oder was sein Ursprung war, konnte niemand - selbst ein Experte auf dem Gebiet der Gebäudereinigung - genau sagen. Er war nur da!
Und Berthold Wellhausen gab nicht auf, den vielen Gerüchten, die um das alte Anwesen im Laufe der Zeit immer groteskere Formen angenommen hatten, entgegenzuwirken. Ihm selbst war es zwar nicht geheuer, allein in diesem Haus zu sein, um den Käufer gebührend in Empfang zu nehmen, ihn in Hannoversch Münden als einen Zugezogenen willkommen zu heißen und die Schlüssel zu übergeben; aber es musste schon weitaus mehr geschehen als zuschlagende Türen, quietschende Scharniere oder knarrende Treppen, um ihn aus der Fassung zu bringen. Berthold Wellhausen tat dies immer mit seinem "Ach, so ein Quatsch!" ab; was übrigens einer seiner Lieblingsfloskeln war, wenn es darum ging, zähe Verhandlungen zu führen, wenn sein maskuliner Charme nicht mehr weiterhalf.
Entdeckten potenzielle Käufer eines Objektes beispielsweise Mängel, so folgte nicht selten sein "Ach, so ein Quatsch! Das lässt sich doch im Handumdrehen aus der Welt schaffen."
Käufer, die erst gar nicht zu einer Besichtigung kamen, und stattdessen ein Objekt über das Internet erwarben, gehörten zu Berthold Wellhausens auserkorenen Lieblingskunden. Den sogenannten Blindkäufern bot er nicht selten jene Objekte an, die sich vor Ort nur schwer veräußern ließen. Und zu solch einem Objekt gehörte selbstverständlich auch das alte Anwesen an der Mühlenstraße.
Niemand aus Hannoversch Münden wollte es nach all den Skandalen haben, kaufen oder geschweige denn betreten. Selbst bis nach Kassel und Göttingen waren all die Gerüchte vorgedrungen und machten jetzt in ganz Südniedersachsen und Nordhessen ihre Runden. Dabei kam es immer wieder vor, dass einzelne Leute das Aufgegriffene mit ihrem ganz eigenen Gusto anreicherten, so dass aus den anfangs eher harmlosen Geschichten gar grauenvolle wurden.
Wir könnten fast glauben, unter ihnen hätte es eine Art Wettstreit gegeben, wer sich die wohl übelste Geschichte über dieses alte Anwesen einfallen ließ. Wäre das Haus ein Mensch - dieser Mensch wäre fortan wie ein Aussätziger behandelt worden, der nicht einmal in die Nähe der anderen kommen dürfte; so sehr fürchteten sich die Leute der Stadt mittlerweile vor diesem heruntergekommenen Etwas, dessen Farbe und Glanz täglich mehr an Ansehen verlor.
Einst war dieses Haus der Mittelpunkt der Straße gewesen; ein Anziehungspunkt für Einheimische und Touristen gleichermaßen, ein Treffpunkt für Jung und Alt. Aber diese Zeiten lagen schon weit zurück, und Berthold Wellhausen dachte im Traum nicht daran, dem neuen Eigentümer des Anwesens dessen gesamte Vorgeschichte zu offenbaren, obwohl er stets seiner Maklertätigkeit pflichtbewusst nachkam und bauliche Defizite offenlegte, ohne es jedoch zu übertreiben, wie die Mündner Bürger. Dafür war er viel zu sehr Geschäftsmann, als dass er einen solventen Kunden mit Horror- und Schauergeschichten vertreiben wollte, die für seinen Geschmack ohnehin an den Haaren herbeigezogen waren.
Die Leute in der kleinen Fachwerkstadt hatten schon immer zu Übertreibungen geneigt, die Berthold Wellhausen schon so manches Geschäft vermiest hatten. Und dabei waren die Leute der Stadt alles andere als zurückhaltend oder gar zugeknöpft, wenn es darum ging, einen Neuen in ihrem Kreis aufzunehmen. Das war schon damals so und sollte auch heute wieder so sein.
Kaum, dass Berthold Wellhausen auf der Straße vor dem Anwesen gesichtet wurde - jetzt natürlich ohne diese hässlichen Gummihandschuhe - streckten sich auch schon die ersten neugierigen Hälse aus den Fenstern der umliegenden Häuser. Sie wollten einen Blick auf jenen Käufer erhaschen, der es doch tatsächlich gewagt hatte, nicht nur nach Hannoversch Münden zu ziehen, sondern ausgerechnet in die Mühlenstraße mit der Hausnummer 13.
Aberglaube hatte sich hier im mittelalterlichen Fachwerkstädtchen lange behaupten können, was nicht zuletzt damit zu tun hatte, was bereits alles in dieser Stadt, aber vor allem in der Mühlenstraße mit der Hausnummer 13 vorgefallen war. Dieses Haus war gebrandmarkt, und viele glaubten, gar zu wissen, dass das alte Gemäuer voller grässlicher und unaussprechlicher Flüche steckte, die einst ihre Vorbesitzer ausgestoßen hatten, unmittelbar vor ihrer panischen Flucht in eine ungewisse Zukunft. Doch auch dies lag schon weit zurück, und so war Berthold Wellhausen erleichtert, als ein Ehepaar mit einem fünfzehnjährigen Jungen aus dem entfernten hohen Norden den Zuschlag für dieses Haus erhalten hatte.
Jetzt mussten sie nur noch angerollt kommen!
Die Warterei an diesem verregneten Abend trübte Berthold Wellhausens Stimmung ungemein, auch wenn es sonst eher schwierig war, ihn in eine Gemütslage zu bringen, die er mehr als alle anderen hasste. Doch Geschäft war nun einmal Geschäft, und das Warten auf einen Kunden gehörte zu den weniger schönen Aufgaben seines Maklergewerbes.
Unter dem Regenschirm stand jetzt ein Mann, der sich viel lieber vor dem heimischen Kamin sah oder, wenn es denn schönes Wetter gewesen wäre, wie es der Wetterbericht eigentlich vorhergesagt hatte, vor oder gar in seinem Pool im blumenüberwucherten Garten hinter dem unscheinbaren Haus in der Burgstraße, der von einem Nachbarsjungen umsorgt wurde, da ihm der grüne Daumen einfach nicht mit in die Wiege gelegt worden war.
Aber seit zwei Tagen brachen sich bereits die Wolken über der Region am Reinhardswald und den drei Flüssen, die Hannoversch Münden erst zudem gemacht hatten, was es heute war, und der Regen schien nach kurzen Pausen erneut alles unter Wasser zu spülen, was sich ihm in den Weg stellte. Die Rinnsale der Straßen füllten sich und rissen alte Zeitungen mit sich davon. Schlagzeilen der ortsansässigen HNA, die keiner mehr lesen wollte,...