Schweitzer Fachinformationen
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Viktor schaute zu seiner Mutter hinüber. In ihrem eleganten Kleid aus Crêpe de Chine und dem leichten Mohairmantel nahm sie sich auf der grob gezimmerten Holzbank zart und zierlich aus. Martha hatte die Augen geschlossen und das Gesicht erwartungsvoll zum bewölkten Himmel erhoben. Plötzlich tauchte ein göttlicher Lichtstrahl sie in weiße Glut.
Dieses Bild seiner Mutter sollte Viktor im Gedächtnis bleiben: Es war, als würde nicht sie die Sonne genießen, sondern als hätte die Sonne sich in diesem Moment eigens gezeigt, um sie zu bescheinen.
Viktor drehte sich zu Felix um. »Spielen wir Fußball?«, rief er und kickte den Ball auffordernd zu seinem Bruder. Er verfehlte Felix um ein Haar und flog ein Stück weiter ins Gebüsch.
Felix hatte nichts davon bemerkt. Er kauerte auf bloßen Knien im Gras und starrte, das Gesicht dicht über dem Boden, durch seine Lupe, ein Exemplar von Zeiss mit Bakelitgriff. Viktor ging hin, kniete sich neben ihn, und gemeinsam beobachteten sie, wie mehrere Ameisen sich mit einem toten gepanzerten Käfer abmühten. Dann stand Viktor auf, um den Ball zu holen, hielt aber inne, als er jenseits des Gebüschs laute Stimmen hörte. Rasch bahnte er sich einen Weg hindurch.
Vier kräftige Jungen hatten sich vor einem mageren Kleinen mit krummen Beinen und einem klobigen Schuh aufgebaut. »Du stinkst, elender Drecksjude mit deinem Teufelshuf«, sagte der Größte mit drohendem Unterton. »Du musst dringend baden.« Und er versetzte dem Jungen einen Schubs. Die drei anderen johlten vor Vergnügen und riefen im Chor: »Stinkjude! Stinkjude! Stinkjude!«
Kaum hatte der Kleine sich wieder aufgerappelt, stieß der Anführer ihn um, diesmal mit solcher Wucht, dass er rückwärts in den Teich fiel.
Wie ein Geschoss sauste Viktor auf den Großen zu und warf sich mit seinem vollen Gewicht auf ihn, sodass beide mit lautem Platschen im Wasser landeten.
Der Große fuchtelte panisch mit den Armen. »Hilfe! So helft mir doch!«
Mit ein paar Zügen hatte Viktor den Kleinen erreicht, dessen Kopf halb unter Wasser war. Er packte ihn um die Mitte und schwamm mit ihm zum Ufer. Dort kletterte er aus dem Wasser und half dann dem prustenden Jungen heraus. Triefend und keuchend standen sie voreinander und schauten sich an.
»D-du b-b-blutest«, stammelte der Kleine zähneklappernd.
Mit seinem weißen Hemdsärmel wischte Viktor sich über das Gesicht. »Ist nicht schlimm, bloß Nasenbluten. Komm mit, wir müssen hier weg.« Und schon lief er los.
»Warte!«
Viktor drehte sich um. Mit langsamem Wackelgang versuchte der Kleine, ihm durch das Gebüsch zu folgen.
»Ich kann nicht so schnell . «
»Kein Wunder, bei den Schuhen.«
»Ich bin ja froh, dass ich sie habe. Ohne Schuhe wär's noch schlimmer.«
Sie erreichten den Weg, noch immer leicht keuchend, und blieben stehen.
»Bubi«, sagte der Kleine.
»Viktor. Angenehm.«
»Danke auch noch. Warum hast du mir eigentlich geholfen?«
Viktor zuckte mit den Schultern. »Meine Beine entscheiden sich oft schneller als mein Kopf. Weil meine Instinkte gut funktionieren, sagt mein Onkel Ernst. Er ist Arzt, das heißt Zahnarzt. Er hat einen Bart und weiß alles über die Natur. Er ist der Bruder meines Vaters und mein Lieblingsonkel. Von ihm habe ich schwimmen gelernt.«
»Ich habe keinen Vater und auch keine Onkel«, sagte Bubi.
»Mein Vater ist schon eine ganze Weile fort. Er kämpft gegen die Serben. Beim Abschied hat er meinem Bruder Felix eine Lupe geschenkt und mir einen Ball. Wenn sie gesiegt haben, kommt er nach Hause, dann ist er wieder ganz normal Anwalt.«
»Meine Mutter ist auch nie zu Hause. Aber nicht, weil sie kämpfen muss. Sie muss arbeiten. Glaube ich jedenfalls.«
In der darauf folgenden Stille warf Bubi Viktor einen schrägen Blick zu. »Nicht dass du denkst, ich hätte vorhin Angst gehabt.«
»Kannst du denn schwimmen?«
»Nein, aber das braucht es auch nicht, weil sich für Juden immer das Wasser teilt. Dann kann man einfach über den Grund zum anderen Ufer gehen. So wie Moses«, sagte Bubi und fügte, als er Viktors bedenkliche Miene sah, rasch hinzu: »Das hat der Rabbiner selbst gesagt.«
»Na ja, ich weiß nicht so recht«, sagte Viktor. »Ich bin auch Jude, aber ich muss ans andere Ufer schwimmen.«
»Vielleicht lebst du nicht fromm genug«, überlegte Bubi. »Hast du Unterricht bei einem Rabbiner?«
»Ich habe Klavierunterricht.«
»Ich finde das Thorastudium interessant, aber den Rabbiner mag ich nicht leiden.«
»Ich meinen Klavierlehrer auch nicht.«
»VIKTOR!«
Seine Mutter erschien, mit Felix an der Hand, auf dem Weg. Sie ließ den Jungen los und eilte in ihren hochhackigen Schuhen auf Viktor zu.
»Du warst auf einmal weg! Wieso bist du nass? Und wo kommt das Blut her?«
Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und säuberte damit notdürftig Viktors Gesicht. »Hier, das Tuch hältst du dir an die Nase«, sagte sie. »Wo um Himmels willen hast du gesteckt?«
»Mein Ball ist . «, begann Viktor und hielt dann erschrocken inne. »Der Ball, Mutter! Ich muss Vaters Ball noch holen!«
Martha wollte protestieren, aber Viktor war bereits losgelaufen.
Seufzend griff sie nach Felix' Hand, erst dann schien sie den fröstelnden Bubi zu bemerken. Die grauen Augen entsetzt auf sein schmales, hohlwangiges Gesicht gerichtet, fragte sie: »Ja, wer bist denn du, Junge?«
Bubi verlagerte sein Gewicht vom kürzeren auf das längere Bein.
»Ich heiße Jitschak, gnä' Frau, aber alle sagen Bubi zu mir. Ich bin schon acht.«
»Bubi . und wie weiter?«
Der Junge zuckte mit den Schultern und sagte: »Einfach nur Bubi, gnä' Frau.« Er grinste breit. »Viktor hat mich aus dem Wasser gerettet. Wie Moses aus dem Nil.«
Martha musterte Bubi eingehend. »Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«
»Vielleicht gestern Abend, gnä' Frau.«
Sie knipste ihre Handtasche auf und entnahm ihr ein Päckchen. »Hier, mein Junge . «
Bubi sah sie mit seinen großen dunklen Augen an. Dann wickelte er das gesüßte Brot aus dem Papier und stopfte es mit beiden Händen in seinen Mund.
Martha schüttelte nachsichtig den Kopf.
»Ich habe ihn.« Viktors Stimme klang erleichtert. Den Ball unter dem einen Arm, legte er den anderen um Bubis nasse Schultern: »Mutter, das hier ist Bubi. Er hat keinen Vater und keine Onkel, seine Mutter arbeitet vielleicht, und er mag seinen Rabbiner nicht leiden. Wir sind Freunde.«
»Danke, Viktor. Wir haben uns schon bekannt gemacht.« Und als Bubi die letzten Krümel von seinen schmutzigen Händen geleckt hatte, fuhr sie energisch fort: »Jetzt aber rasch nach Hause, Kinder, ihr nehmt noch ein warmes Bad. Hier entlang, die Kutsche steht an der Hauptallee.« Sie setzte sich in Bewegung, verhielt aber nach wenigen Metern und sah sich um: »Hast du nicht gehört, mein Junge?«
Bubi, der nach wie vor dastand und bibberte, sah sich ebenfalls um, richtete dann den Blick wieder auf Martha und fragte: »Meinen Sie mich, gnä' Frau?«
»Wen sonst? Nun komm aber, sonst werdet ihr beide noch krank.«
»Mamutscherl, du bist die allerliebste Mutter auf der Welt«, flüsterte Viktor.
Martha warf ihm einen Seitenblick zu. »Mit dir, junger Mann, habe ich noch ein Wörtchen zu reden. Einfach fortlaufen und sich wie ein Wildfang aufführen! Wie du nur aussiehst!«
Der Kutscher betrachtete erst Viktor, der das blutige Taschentuch an die Nase presste, dann den abgerissenen Bubi und sagte schließlich zu Martha: »Gnädige Frau, die Polster . «
Sie lächelte. »Felix, du darfst heute auf den Bock. Und ihr setzt euch zu mir, Bubi und Viktor . Viktor?« Sie sah sich suchend um.
In ein paar Schritten Entfernung bei der Pferdetränke hatten die beiden Jungen einen Eimer randvoll gefüllt und trugen ihn nun zusammen heran. Bubis humpelnder Gang ließ das Wasser überschwappen.
Die zwei Pferde neigten dankbar die Hälse, als der Eimer vor ihnen stand. Viktor klopfte ihnen auf die Flanken, und der Kutscher schmunzelte unter seinem...
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