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Frantz Fanon gilt als bedeutendster Theoretiker der Dekolonisierung und des Postkolonialismus, obwohl er in seinem kurzen Leben nur wenige Bücher veröffentlichte. Zwei seiner Klassiker vereint dieser Band: 1959 erscheint Aspekte der algerischen Revolution, das in Frankreich sofort verboten wird und im Untergrund kursiert. Fanon unterzieht darin die algerische Gesellschaft, den antikolonialen Kampf sowie die sich verändernde Rolle der Frau einer Analyse. 1961 folgt mit Die Verdammten dieser Erde die »Bibel der Dekolonisierung« (Stuart Hall). Fanon untersucht die gewaltvolle Beziehung zwischen Kolonialherren und Kolonisierten sowie ihre kulturellen und psychischen Auswirkungen auf die kolonisierten Subjekte, die ihr Menschsein gegen die rassistische koloniale Unterjochung erkämpfen.
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Der Algerienkrieg tritt bald in sein sechstes Jahr ein. Niemand von uns noch sonst jemand in der Welt hat im November 1954 ahnen können, daß es sechzig Monate dauern würde, bis der französische Kolonialismus seine Umklammerung zu lockern beginnt und die Stimme des algerischen Volkes hörbar werden läßt.
Nach fünf Jahren des Kampfes ist keine politische Änderung abzusehen. Die verantwortlichen Politiker Frankreichs verkünden weiterhin das französische Algerien.
Dieser Krieg hat das ganze Volk mobilisiert und gezwungen, seine verborgenen Energien konzentriert einzusetzen. Algerien hat sich keine Atempause gegönnt, denn der Kolonialismus hat ihm dazu keine Zeit gelassen.
Die Gegner der Algerischen Revolution behaupten, daß sie blutrünstig sei. Die Demokraten dagegen, deren Sympathien sie einst besaß, halten ihr vor, daß sie Fehler begangen hat.
Es ist tatsächlich vorgekommen, daß algerische Bürger gegen die Anordnungen der führenden Organe verstoßen haben und daß sich Dinge ereignet haben, die hätten vermieden werden müssen. Fast immer betrafen sie übrigens algerische Mitbürger.
Aber was hat die Revolution wirklich getan? Ist sie vor ihrer Verantwortung zurückgewichen? Hat sie nicht jene Handlungen bestraft, die die Wahrheit unseres Kampfes zu verfälschen drohten? Hat nicht Ferhat Abbas, der Präsident der Provisorischen Regierung, öffentlich die Maßnahmen erläutert, die von der Führung der Revolution getroffen wurden, um Übergriffe zu verhindern? Gleichwohl: Wer könnte nicht jene plötzlichen Ausbrüche der Gewalt gegen die Verräter und Kriegsverbrecher verstehen? Die Männer, die am Kampf der Ersten Französischen Armee teilgenommen haben, bewahrten monatelang den Abscheu gegenüber jenen Rächern der letzten Stunde, die ihre Waffen auf die Kollaborateure entluden. Diejenigen, die am Kampf auf Elba, am Feldzug in Italien und an der Landung in Toulon teilgenommen haben, waren empört über diese brudermörderischen Abrechnungen, die ungesetzlich und oft in schändlicher Weise vorgenommen wurden. Uns ist jedoch keine Verurteilung von Kämpfern aus 12dem Maquis bekanntgeworden, die summarische Hinrichtungen oder Folterungen an unbewaffneten Zivilpersonen durchgeführt hätten.
Die Nationale Befreiungsfront ist nicht müde geworden, in den Augenblicken, in denen das Volk den härtesten Schlägen des Kolonialismus ausgesetzt war, einige Aktionsformen zu ächten und die kämpfenden Einheiten an die Kriegsgesetze und das Völkerrecht zu erinnern. In einem Befreiungskrieg muß das kolonisierte Volk siegen; aber es soll die Barbarei, gegen die es aufgestanden ist, nicht mit Barbarei beantworten. Die Unterdrückten sollen, so heißt es, Fairneß üben, während ihr Gegner ruhigen Gewissens auf die Erprobung neuer Mittel der Schreckensherrschaft ausgeht.
Noch in der Gewalt seines Kampfes, so verlangt man, soll das geknechtete Volk beweisen, daß es sich selbst völlig in der Gewalt hat. Dies alles auf einmal zu erfüllen ist ziemlich schwierig.
Vor genau sechs Monaten sind in der Gegend von Mascara mehr als dreißig Kämpfer, die man eingekreist hatte und denen die Munition ausgegangen war, gefangengenommen und vor dem Dorf erschossen worden. Am selben Tag ließ ein algerischer Arzt in einem anderen Gebiet eine Abordnung an die Grenze schicken, damit sie ohne Aufschub Medikamente beschaffte, die zur Rettung eines kranken französischen Gefangenen unbedingt erforderlich waren; auf diesem Botengang wurden zwei algerische Kämpfer getötet.
Die französischen Minister Lacoste und Soustelle haben in der Absicht, unsere Sache zu verleumden, Bilder veröffentlicht. Manche der Fotos zeigen Vorfälle, für die Mitglieder unserer Revolution verantwortlich sind. Andere Fotos dokumentieren einige der ungezählten Verbrechen, deren sich Bellounis und die von der französischen Armee bewaffneten Harkis schuldig gemacht haben. Schließlich und vor allem gibt es Zehntausende von Algeriern und Algerierinnen, die den französischen Truppen zum Opfer gefallen sind. Nein, es ist nicht wahr, daß die Revolution ebenso weit gegangen sei wie der Kolonialismus. Doch wir rechtfertigen deshalb nicht die spontanen Reaktionen unserer Landsleute. Wir verstehen sie, aber wir können sie weder entschuldigen noch verwerfen.
Weil wir ein demokratisches und erneuertes Algerien wollen; weil wir der Meinung sind, daß man nicht in einem Bereich sich erheben und befreien kann und sich zugleich in einem anderen 13gehenlassen darf, verurteilen wir jene, die sich in die revolutionäre Aktion mit der fast physiologischen Brutalität gestürzt haben, die aus einer Jahrhunderte währenden Unterdrückung gespeist wird.
Die Leute, die uns kritisieren oder uns die Randerscheinungen der Revolution vorhalten, verkennen den grauenvollen Konflikt, in dem sich ein Funktionär befindet, welcher gegen einen Landsmann vorgehen muß, der sich schuldig gemacht hat, beispielsweise ohne Befehl einen Verräter oder, was schlimmer ist, eine Frau, gar ein Kind getötet hat. Dieser Mann, über den ohne geschriebenes Gesetz gerichtet werden muß - allein aufgrund des Bewußtseins, das jeder hat von dem, was getan werden und was verboten bleiben muß -, ist kein Neuling in der Kampfgruppe. Er hat Monate hindurch unbestreitbare Beweise von Selbstverleugnung, von Patriotismus, von Mut erbracht. Über ihn muß jedoch gerichtet werden. Der verantwortliche Funktionär, der örtliche Vertreter des Führungsorgans, muß sich an die Richtlinien halten. Er muß der Ankläger sein, wenn die anderen Mitglieder der Einheit es nicht auf sich nehmen wollen, den Beschuldigten vor dem Revolutionsgericht anzuklagen. - Es ist nicht leicht, mit einem Minimum von Fällen des Versagens den Kampf eines hundertdreißig Jahre lang geknebelten Volkes zu führen, und zwar gegen einen so entschlossenen und so grausamen Feind wie den französischen Kolonialismus.
Frau Christiana Lilliestierna, eine schwedische Journalistin, hat sich in einem Lager mit einigen der Tausende algerischer Flüchtlinge unterhalten. Hier ein Auszug aus ihrem Bericht: »Der nächste in der Reihe ist ein siebenjähriger Junge. Er ist von tiefen Wunden gezeichnet, die ihm durch einen Draht zugefügt worden sind. Mit diesem Draht war er festgebunden worden, als französische Soldaten seine Eltern und seine Schwestern mißhandelten und umbrachten. Ein Leutnant hatte ihm mit Gewalt die Augen offengehalten, damit er es sieht und sich noch lange daran erinnert. Dieses Kind wurde von seinem Großvater fünf Tage und fünf Nächte getragen, bevor sie das Lager erreichten. Das Kind sagt: >Ich habe nur einen Wunsch, einen französischen Soldaten in Stücke zu schneiden, in ganz kleine Stücke.<«
Glaubt man wohl, daß es leicht sein wird, dieses Kind dazu zu bringen, seine Verletztheit zu vergessen? Wird diesem Kind, das in einer Atmosphäre des Weltuntergangs aufwächst, die französische 14Demokratie als einzige Botschaft die Ermordung seiner Eltern hinterlassen?
Niemand hat vermutet, daß Frankreich fünf Jahre lang Fußbreit um Fußbreit seinen schamlosen Kolonialismus verteidigen würde, der auf diesem Kontinent das Gegenstück zu jenem Südafrikas bildet. Man erwartete auch nicht, daß das algerische Volk sich mit solcher Entschlossenheit in der Geschichte seinen Platz schaffen würde.
Deshalb sollte man sich besser alle Illusionen aus dem Kopf schlagen. Die nachrückenden Generationen sind weder nachgiebiger noch müder als diejenigen, die den Kampf aufgenommen haben. Da ist im Gegenteil eine Verbissenheit festzustellen, ein Wille, auf der Höhe der »geschichtlichen Aufgabe« zu stehen, die Sorge, Hunderttausende von Opfern nicht billig zu verkaufen. Und auch die Ausmaße des Konflikts, die Freundschaften und die Solidarität, die Interessen und die Widersprüche des kolonialen Herrschaftssystems werden sehr genau eingeschätzt. »Ein Gewehr zu besitzen und Mitglied der Nationalen Befreiungsarmee zu sein ist die einzige Chance, die dem Algerier bleibt, um seinem Tod einen Sinn zu geben. Das Leben unter der...
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