Viertes Kapitel.
Fridolin entdeckt die köstliche Pflanze Süßwachs, entgeht schlafend vielen Gefahren und begründet auf dem Baumwerder ein neues Heim.
Der Dachs Fridolin verbrachte den langen, langen Tag und den größten Teil der Nacht in dem dunklen Winkel hinter dem Holz, sehr belästigt von all den Gerüchen, die ihn peinigten. Denn außer Ratten- und Mäusedreck und Hühnermist, der hier haufenweise lag, drangen alle möglichen fremdartigen Gerüche auf ihn ein, am meisten von diesen Zweibeinen, aber auch von Schweinen, Kühen, Katzen, von Bratkartoffeln und von Kinderwäsche. Mehr denn je war Fridolin davon überzeugt, daß er in die schlechteste aller Welten geraten war und daß der Schöpfer sie grade, um Fridolin zu ärgern, so schlimm eingerichtet hatte.
Erst als es tiefe Nacht geworden war, als alle Menschen schliefen und als sogar die Kettenhunde ihr Gebell eingestellt hatten, kroch Fridolin aus seinem Winkel hervor. Wohin er sich nun wenden sollte, darüber war er ganz ungewiß, eines nur war sicher: in den Hullerbusch wollte er nicht wieder zurück, denn der stänkernde Fuchs Isolein war wohl doch das Schlimmste gewesen, was ihm widerfahren war.
Er lief zuerst zur Rechten, aber das rauschende Wasser des Dorfflusses, die enge Brücke über ihn fort und die vielen Häuser des Dorfes scheuchten ihn wieder zurück. So wandte er sich nach links, folgte erst der Straße und geriet dann in Ditzens Kartoffelfeld. Da gefiel es ihm schon besser, es roch nicht mehr so zweibeinig, und zu seiner Rechten rauschte das Schilf, und die schmale Mondsichel streute Millionen von Silberfunken in den Carwitzer See. Das mutete ihn nach all den Häusern und nach der wüsten, sandigen Einöde der vergangenen Nacht schon ganz heimatlich an.
Nach einem kurzen Weg über den Kartoffelacker stieß Fridolin auf einen Drahtzaun, der ihm aber wenig Beschwer machte. In einem Augenblick hatte er sich darunter durchgegraben und befand sich nun in einem saubergehaltenen Gemüsegarten, der so groß war, daß man den Hullerbuschgarten dagegen für einen reinen Dreck erachten konnte. Auch die Güte der Gemüse befriedigte Fridolin, und als er gar unten am Seeufer, an den dieser Gemüsegarten grenzte, noch ein paar fette Tauwürmer fand und gleich darauf einige Frösche fing, war Fridolin für seine Griesgram-Verhältnisse fast ganz zufrieden.
»Das haben die Zweibeine mal ganz ordentlich eingerichtet«, sprach er zu sich. »Für Zweibeine sind die gar nicht so dumm. Die Rüben hätten etwas zarter sein können, und am Erbsenbusch hingen überhaupt keine Schoten mehr. Aber wo in dieser verkehrten Welt findet man alles Gute beisammen? Dumm ist es natürlich wieder, daß sie diesen Steinbau von einem Hause so nahe an den Garten gesetzt haben; aber das muß ich wieder loben, daß hier kein blöder Kettenhund lärmt. Wirklich ein hübscher Freßplatz; die Erdbeeren haben mir natürlich auch hier die Leute alle abgefressen, aber im ganzen bin ich zufrieden. Wenn ich nur bloß eine passende Wohnung in der Nähe fände!«
Damit machte sich Fridolin wieder auf den Weg, immer dem Seeufer folgend. Er stieß auf einen andern Drahtzaun und kurz darauf auf einen dritten, unter denen er sich hindurchgraben mußte. Aber nicht einmal das ärgerte den Dachs. Er fand es im Gegenteil lobenswert, daß die Leute »seinen« Garten so gut gegen fremde Eindringlinge gesichert hatten.
Recht schön satt bereits setzte Fridolin seinen Weg fort, nun über einen langen am See hingestreckten Acker, auf dem die verschiedensten Feldfrüchte wuchsen. Und hier hatte Fridolin plötzlich das größte Erlebnis seines Daseins, er begegnete einem Gewächs, das bestimmt war, sein ganzes Leben und vielleicht sogar seine Todesart zu beeinflussen - aber das letztere wissen wir noch nicht.
Wie vom Blitz getroffen blieb Fridolin plötzlich sitzen und roch an einer Pflanze, von der viele, viele Geschwister auf einem unendlich langen Beet standen. Schon der Geruch dieser bisher nie erlebten Pflanze war Fridolin so angenehm, daß sein Glaube, er sei in die verkehrteste aller Welten geraten, zu wanken anfing. Er schnupperte an der Pflanze, der saftige, volle Stengel streifte sanft seine empfindliche Schnauze, er nahm die ganze Nase voll, er wurde fast närrisch vor Entzücken. Wonneschauer durchbebten seinen Leib - daß es so etwas Herrliches auf dieser schlimmen Welt gab! In diesem Augenblick war Fridolin sogar dem stinkenden Fuchs Isolein dankbar, daß er ihn aus der heimatlichen Höhle und damit aus dem Hullerbusch vertrieben hatte, um dieses Prachtgewächs zu entdecken!
Fridolin lehnte sich mit der Schulter gegen die Pflanze, mit einem leisen krachenden Geräusch brach sie ab und fiel, rauschend mit den Blättern gegen ihre Geschwister streifend, zu Boden. Er biß in den Stengel, der reichlich strömende Saft erfüllte des Dachsen Maul - nie hatte er noch in seinem ganzen Leben etwas so Delikates geschmeckt! Dies ging weit über Ringelnattern, über junge Karotten, ja, dieser Saft übertraf sogar an Güte die Erdbeere und den süßen Bienenhonig. Es war ein einfach himmlischer Geschmack, besonders vom Schöpfer für die Dachse erschaffen!
Fridolin war wie berauscht, in einem Wonnetaumel stürzte er sich auf die nächsten Maisstauden, er brach sie um, er biß in den Stengel; vor Entzücken fast vergehend ließ er den Saft durch die Kehle rinnen, in den Magen hinein, der ihn mit erfreutem Gluckern empfing. Und bei diesem trunkenen Umbrechen machte der Dachs noch eine zweite Entdeckung, die seine erste fast in den Schatten stellte: es gab noch etwas viel, viel Besseres als den Saft aus dem Stengel dieser Pflanze! Etwa in der halben Höhe des Stengels saß ein dickes, spindelförmiges Gebilde, ein kräftiger Kolben, in viele feine Blätter gehüllt, die nach innen zu immer zarter und wohlschmeckender wurden. Aber am besten schmeckte doch das Innerste dieses Kolbens, die Spindel selbst, die mit vielen Kernen besetzt war, größer als junge Erbsen und viel süßer und zarter schmeckend. Dies konnte man nicht nur schlürfen wie den Saft der Stengel, dies konnte man auch kauen, essen, fressen, damit konnte man den Wanst bis zum Platzen füllen - und das tat der Dachs auch!
Pflanze auf Pflanze fiel unter seinem gierigen Stoß. Schon kümmerte ihn nicht mehr der eben noch gepriesene Geschmack der Stengel, nur das Zarteste nahm er: die Spitze der Kolben. Als der Dachs endlich seine Freßgier gestillt hatte, war in dem langen, langen Maisbeet ein freier Platz, groß wie eine geräumige Stube entstanden. Auf ihm lagen die niedergebrochenen Pflanzen in wildem Durcheinander, wie von einem Sturmwind verheert. Schon begannen sie zu sterben, die welkenden Blätter strömten einen wehen, bitterlichen Geruch aus. Im Licht der schmalen Mondsichel leuchteten geisterhaft die weißlichen Lieschblätter, die zuinnerst die Körner tragende Spindel umhüllt hatten!
Der Dachs Fridolin aber ließ einen glücklichen Blick über das lange, lange Beet streifen, auf dem noch Maisstaude neben Maisstaude in vollem Saft stand. Da war Nahrung - und mehr als Nahrung, da war Genuß für viele, viele Nächte, für eine Ewigkeit, für ein ganzes, endloses Dachsenleben, wie Fridolin meinte, der sich nicht vorstellen konnte, daß sein Leben je enden würde.
Vor Rührung und Glück und zu vielem Gefreß bekam der Dachs den Schluckauf, und von vielen, kräftigen Rülpsern unterbrochen, sprach er also: »Köstliche Pflanze Süßwachs, die allein für mich erschaffen wurde, meinen Wanst mit süßem Safte zu füllen - ich lobe dich! - Widerwärtig riechendes Zweibein, dessen Spuren ich überall um dieses schöne Beet erschnobere - auch dich lobe ich diesmal, weil du dieses Beet für mich angelegt, bestellt und gepflegt hast! - Und auch dich lobe ich, Schöpfer aller Tiere! Unerträgliches hast du uns Dachsen auferlegt, viel Schweres müssen wir durchmachen: den harten Winter mit den langen Fastentagen, die mühsame Nahrungssuche, den viel zu kurzen Schlaf. Wir müssen die widerlichen Gerüche von Hunden, Zweibeinern und Füchsen ertragen, und du hast in deiner Gedankenlosigkeit übersehen, uns wenigstens die stolze, brandrote Rute eines Isolein zu verleihen. Aber ich verzeihe dir heute alle diese Ungerechtigkeit, Schöpfer, und ich lobe dich sogar, denn du hast als Entschädigung für all diese Unbilden den Dachsen die köstliche Pflanze Süßwachs verliehen. Um des Süßwachs willen soll dir verziehen sein!«
Als der Dachs Fridolin so seinen Lobgesang beendet hatte, lief ein leiser Wind über die Maisstauden dahin. Ihre Blätter rieben sich mit einem leichten Rascheln aneinander, zugleich fingen alle Silberflecke unten auf dem See zu tanzen an.
Auch den Dachs durchschauerte es geheimnisvoll: er hatte das Gefühl, als sei ihm der große Schöpfer ganz nahe und werde gleich zu ihm aus dem Mais hervortreten. Es war aber nur ein einzelner Windstoß gewesen. Das Rascheln der Blätter verstummte, und ruhig blinkten wieder die glitzernden Mondlichtflecken auf dem See.
Mit einem Seufzer wandte sich der Dachs, um seine Wanderung fortzusetzen. Vorher aber sprach er noch folgende Worte: »Freilich, ich sehe es schon: in dieser verkehrten Welt werde ich die allergrößten Schwierigkeiten haben, mich dieser schönen, doch allein für mich erschaffenen Pflanze Süßwachs zu erfreuen. Es wird gleich wieder mit der Wohnungsnot losgehen, bestimmt finde ich in der Nähe dieses Gartens kein passendes Quartier. Es ist eben eine verkehrte Welt, und ich als Dachs hätte sie bestimmt vernünftiger eingerichtet!«
Damit schüttelte der Dachs griesgrämig den Kopf...