Dominik Windgätter
Cloudart
Sonnenstrahlen fielen durch die Fensterscheiben auf das Fußende ihres Bettes. Akura lag bereits seit zwei Stunden wach. Vor lauter Aufregung hatte sie kaum schlafen können. Trotzdem blieb sie so lange wie möglich liegen, um noch etwas Energie zu tanken. Normalerweise hätte sie um diese Uhrzeit schon lange auf dem Feld stehen und ihrer Mutter bei der Reisernte helfen müssen. Doch heute ruhten die Arbeiten, selbst hier im ehemals östlichen Teil von Kiritimati.
Das Licht erreichte ihren linken Fuß. Langsam begann die Wärme durch ihren Körper zu fließen. Als sie die Decke zurückschlug, schossen ihr immer wieder dieselben Worte durch den Kopf: »Heute ist es so weit!«
Sie griff nach der in die Jahre gekommenen Atemmaske, die auf ihrem kleinen Holznachttisch ruhte. Ihre Atmung ging schwer und unruhig, als sie die Maske um ihren Kopf schlang und ihre Nase in wohlige Wärme eintauchte.
Akura hatte erst vor zwei Jahren gelernt, ohne die Maske zu schlafen, und manchmal bereitete es ihr immer noch Probleme, vor allem wenn ihr Atem vor lauter Aufregung unruhig zu pulsieren begann. Während sie sich ihr weites Langarmshirt überwarf, betrachtete sie sich in dem leicht verstaubten Spiegel. So sehr sie die Atemmaske auch hasste, so kam sie doch nicht drum rum, sie jedes Mal aufs Neue zu bewundern.
Der schwarze diamantförmige Luftfilter, der sich von ihrem Nasenbein bis zu ihrem Kinn erstreckte. Die feinen lilafarbenen Schläuche, die sich von der Mitte der Maske bis hinter ihren Kopf schlängelten. Und das schwarze Band, das ihren Kopf fest im Griff zu halten schien. Ihr verstecktes Lächeln erreichte ihre Augen.
»Akura!« Die Stimme ihrer Mutter drang gedämpft durch die halb geschlossene Tür ihres Schlafzimmers hindurch.
»Ich komme schon!« Auf einem Bein hüpfend, sprang Akura geschickt die Treppen hinunter und schwang sich in ihre braune, mit Löchern übersäte Hose.
Ihre Mutter fuhr ihr durch die schwarzen verwuschelten Locken, während sie ihr Müsli auf den Tisch stellte. In die freundlichen Gesichtszüge ihrer Mutter mischte sich ein besorgter Blick, als sie die müden Augen von Akura sah.
»Ich hoffe, du bist fit genug und übernimmst dich heute nicht. Es ist schließlich dein erstes Mal, du musst dort niemandem etwas beweisen.«
»Mach dir keine Sorgen, ich fühle mich voller Energie!«
»Wie immer also.« Ihr Lächeln hatte wieder die Oberhand gewonnen, und sie widmete sich den Vorbereitungen des Mittagessens. Akura legte ihre Atemmaske beiseite und führte den Löffel zum Mund.
»Wo ist Nina?« Ihre Worte verschwanden fast vollständig in den sich aufbäumenden Milchwogen in ihrem Mund.
»Die ist heute schon früh los. Sie wollte sich noch etwas Inspiration holen, bevor Tabwakea komplett überrannt wird. Was ist mit Seline? Weißt du, wo sie steckt? Ich habe sie gestern Abend nicht nach Hause kommen hören.«
Dieses Mal konnte Akura ihr schelmisches Grinsen nicht verbergen, als sie mit einem unschuldigen »keine Ahnung« antwortete.
»So, so.« Das Lachen ihrer Mutter erhellte den Raum, und Akuras Aufregung begann langsam sich in pure Vorfreude zu wandeln. Sie warf die Frühstücksschüssel in die Spüle, schnappte sich die Maske und trat hinaus auf die Terrasse vor ihrem Haus. Der Anblick, der sich ihr darbot, versetzte sie jedes Mal wieder ins Staunen.
Vor dem Haus breitete sich der Himmel in alle Richtungen aus. Egal wohin sie schaute, sprang ihr das helle Blau förmlich entgegen. Immer wieder schwammen weiße Wolkenfetzen an ihr vorbei. In einiger Entfernung konnte sie eine kleine Wolkenburg ausmachen. Das Weiß strahlte so flauschig, dass sie am liebsten mit einem großen Sprung hineinfallen würde. Der Wind war erstaunlich still heute, der Himmel endlos.
»Perfekte Bedingungen«, murmelte sie vor sich hin, bevor sie zum Geländer ging. Sie beugte ihren Oberkörper leicht nach vorne und schaute in den Abgrund. Würde sie jetzt fallen, würde sie acht Kilometer in die Tiefe stürzen. Und doch konnte ihr Blick die ca. tausend Meter entfernte menschengemachte Wolkendecke unter ihr nicht durchdringen. Hätte sie die damnterliegende Welt nicht bereits auf alten Fotografien gesehen, hätte sie nie geglaubt, dass es noch mehr Land unter den fliegenden Inseln gab. Immer wieder drang ein leichtes lilafarbenes Flimmern durch die Wolken unter ihr hervor und gab dem Himmel darüber eine gefährlich schimmernde Aura.
Hier oben war dies das einzige Anzeichen, das noch von dem längst vergangenen Krieg zeugte. Als damals die Welt in Flammen aufging, war die Zeit der fliegenden Inseln gekommen, und die sechs neuen Nationen offenbarten sich der Welt.
Dominica konnte sich schnell als modernste Stadt über den Wolken etablieren, während die Philippinen den Großteil der letzten Menschen beherbergten. Von Bangladesch konnte nach den großen Überschwemmungen durch den Klimawandel nur die Hälfte gerettet werden, und so hatte sich dort nur ein kleiner Teil der Menschheit niedergelassen. Die Malediven behielten ihren Status als Paradies auf Erden auch hier im Himmel, und Hawaii wurde zum Größten Teil der Natur überlassen, da sich die Tiere dort am überlebensfähigsten zeigten und man die alten Fehler nicht wiederholen wollte. Kiritimati hingegen wurde vor allem für den Anbau von Nahrung genutzt, alles verlief in ruhigen Zügen. Lediglich die Hauptstadt Tabwakea hauchte der Insel etwas Leben ein. Akura hob noch einmal den Blick und ließ ihn schweifen, bevor sie sich wieder dem Haus zuwandte.
Neben der Eingangstür lehnte ihr Cloudboard. Akura schnappte sich das Board ohne Rollen, startete die Schubdüsen und schwang sich auf das eine Handbreit über dem Boden schwebende Brett. Sie nahm einen tiefen Atemzug durch den Luftfilter und schoss über den steinigen Weg Richtung Tabwakea.
Auf dem Board durchquerte sie den kleinen Wald aus Samtblatt-Bäumen, der am »Rand« gepflanzt wurde, um den ersten Himmelsmenschen eine gewisse Sicherheit zu geben und sie langsam an die Höhe zu gewöhnen. Mittlerweile waren sie völlig überflüssig, doch die Nostalgie verbot es den Menschen, die Bäume zu fällen. Dahinter erstreckten sich die Reisfelder ihrer Mutter, und bei dem Gedanken an die morgige Arbeit lief ihr ein unangenehmer kleiner Schauer über den Rücken. Ihr Weg führte weiter durch Felder, vorbei an einzelnen Holzhütten, der Rand stets verborgen durch den niedrigen Gebirgskamm aus Samtblatt-Bäumen.
Drei Kinder spielten sich gegenseitig einen Ball zu, der nach jeder Berührung kleine Wolken ausstieß. Freudig winkte ihr einer der Jungen zu: »Hey, Maskenmädchen! Machst du uns eine Rose?« Noch bevor der Junge die Worte ausgesprochen hatte, verlagerte Akura ihr Gewicht auf das hintere Bein, schoss in die Höhe und drehte sich um die eigene Achse. Ihr Cloudboard zog dabei einen weißen Schweif hinter sich her, der präzise jeder noch so kleinen Bewegung des Boards folgte. Als sie genug Höhe erreicht hatte, vergrößerte sie den Strahl und begann bogenförmige Pirouetten zwischen den höchsten Bäumen zu drehen.
Akura stoppte das Board mitten in der Luft, breitete ihre Arme aus und ließ sich rücklings gen Boden fallen. Elegant landete sie auf ihren Händen und verharrte mit dem Brett über ihren Füßen im Handstand. Stolz betrachtete sie die aus Wolken geformte, makellose Rose.
Sie griff das Board mit einer Hand und brachte es wieder knapp über den Boden. Mit einem High Five verabschiedete sie die erfreuten Kinder.
Das Board setzte sich durch den leichten Druck ihres vorderen rechten Fußes in Bewegung, während das Wort »Maskenmädchen« noch in ihrem Kopf nachklang. Es gab nicht mehr viele Menschen, die hier oben noch eine Maske zum Atmen benötigten, die menschliche Spezies hatte sich schnell an die Bedingungen in dieser Höhe angepasst.
Als die neuen Nationen ihre Inselantriebe das erste Mal in Gebrauch nahmen, um sich und ihre Inseln über die Wolken zu erheben, brauchte noch jeder Mensch eine Atemmaske. Niemand hätte sie damals seltsam angeschaut oder Maskenmädchen genannt.
Sie schüttelte die Vergangenheit ab und richtete ihren Fokus wieder auf das bevorstehende »Fest des Inselflugs«, bei dem sie ihr Cloudart-Können endlich allen unter Beweis stellen würde.
Doch zuerst musste sie ihre Schwester Seline abholen, und sie hatte schon eine Ahnung, wo sie sie finden würde.
Das zerfallene Rollfeld breitete sich vor ihr aus. Die Pflanzen hatten bereits vor Ewigkeiten begonnen, die Startbahn und das Flugzeugwrack zurückzuerobern. In einer Welt, in der Energie aus Wolken gewonnen werden konnte, brauchte man die Maschinen der Vergangenheit schon lange nicht mehr.
Als sie bei dem Wrack ankam, hörte sie bereits die Stimme ihrer Schwester.
»Oh fuck, schon so spät. Petru, wirf mir mal meine Klamotten rüber!«
Seline kam aus dem Flugzeugwrack gesprungen. Als sie Akura sah, lief sie rot an und murmelte: »Tut mir leid, hab...