Schweitzer Fachinformationen
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Wenn es überhaupt Dinge gibt, die ich mag, dann sind das saubere Fingernägel und Marzipankartoffeln. Ich bin fünfzehn und mein Leben ist die Hölle. Zwei ältere Brüder und eine dauerflennende, stinkfaule Mutter sind einfach nervig ohne Ende.
Mein Name ist Marvin. Außer ein paar Lehrern hat mich aber noch nie jemand so genannt. Für alle anderen bin ich Locke. Seit meiner Geburt. Vermutlich kann man sich denken, warum das so ist. Aber zurück zu meinem Leben, denn das ist nicht nur die Hölle, sondern auch todlangweilig. So langweilig, dass ich am Wohnzimmerfenster hocke und Elvira wieder einmal dabei zuschaue, wie sie sich unten auf der Straße für den Novak zum Affen macht. Es ist jedes Mal dasselbe, und es ist erbärmlich. Immer wenn eine neue Öllieferung kommt, macht sie sich schön. Soweit das eben in ihren Möglichkeiten steht. Sie duscht dann ausgiebig, zieht tatsächlich mal was anderes an als ihre blöde Jogginghose und kämmt sich die Haare. Die wilden Locken wollen natürlich nicht so, wie sie sollen, und stehen in alle Richtungen ab. Das macht sie noch nervöser, als sie ohnehin schon ist. Wenn also der Öltank endlich voll ist, bezahlt Elvira mit zittrigen Händen und wartet auf ihre Quittung. Und da steht sie dann wie verloren vor diesem riesigen Laster, mit feuerrotem Kopf und krausen Haaren, und starrt dem Novak direkt ins Gesicht. Doch der, der würdigt sie keines Blickes. Steht bloß da in seinen grünen Gummistiefeln und mit den dreckigen Fingernägeln und zählt das Geld nach. Bis auf den letzten Cent. Wie gesagt, es ist ziemlich erbärmlich, echt. Aber wegschauen kann ich irgendwie auch nicht. Ich könnte mir ja das Ganze auch ersparen, weg vom Fenster und alles ist gut. Aber stattdessen schaue ich raus, beobachte das traurige Spektakel und schäme mich. Ob für mich selber oder für die beiden da unten, das kann ich nicht recht sagen. Aber ich bin froh, als der blöde Öllaster endlich wegfährt und in der Ferne verschwindet. Elvira bleibt wie angewurzelt stehen und blickt ihm nach wie ein Hund seinem Herrchen. Eine ganze Weile sogar. Bis irgendwann schließlich mein älterer Bruder Kevin über die Straße kommt und sie unterhakt. Er bringt sie nach oben, packt sie auf die Couch und kocht ihr einen Tee. Tee mag sie aber jetzt nicht. Zumindest nicht ohne Schnaps drin. Also kippt Kevin ein volles Schnapsglas in die heiße Tasse und stellt sie vor Elvira auf dem Tisch ab. Dann füllt er das Glas erneut und schüttet es in seine Kehle. Das ist total ungewöhnlich für Kev. Er hasst Alkohol eigentlich in jeglicher Form.
Elvira sitzt da, und abwechselnd nimmt sie einen Schluck und starrt wieder in ihre Tasse. Der heiße Dampf und wahrscheinlich auch der Alkohol färben ihre Wangen rosa und die Nase rot. Sie schnäuzt sich ausgiebig, schnieft noch ein paarmal, reibt sich die Augen, bis die ganze Wimperntusche verschmiert ist, und nickt schließlich ein. Vom Teedampf und der Feuchtigkeit draußen sind ihre Locken heute noch viel wilder gekräuselt als sonst. Ich kenne das, habe ja die gleichen. Aber ich binde sie mir meistens mit einem Gummi zusammen, weil alles andere eh keinen Sinn macht. Wahrscheinlich komme ich wohl sowieso ziemlich nach meiner Mutter. Elvira.
Während meine zwei Brüder sehr groß sind und schlank, bin ich eher klein. Jedenfalls im Vergleich zu den beiden. Zum Glück hab ich nicht auch noch Elviras Gewicht geerbt.
»Früher, in eurem Alter, da war ich auch nicht so dick«, sagt sie immer. »Aber bringt ihr doch erst mal drei Kinder zur Welt, dann geht ihr auch auseinander wie ein Hefeteig.«
Gut, dieses Risiko kann ich für mich persönlich wohl eher ausschließen.
»Ist irgendwas?«, frage ich Kevin aus meinem Sessel heraus, lege die Maus beiseite und höre kurz auf, virtuelle Soldaten zu töten.
Er schüttelt den Kopf.
»Nein, was soll sein.«
Weil ich ihn aber seit meiner Geburt kenne, weiß ich, dass er lügt. Das heißt, er lügt natürlich nicht. Kevin lügt nie. Er verschweigt höchstens etwas. So wie jetzt. Er hat ein Geheimnis, das merk ich genau. Ich vermute mal, dass es was mit seiner Tussi zu tun hat. Und das … das macht mich extrem neugierig.
Angefangen hat alles vor etwa einem halben Jahr. Da nämlich hat sich Kevin ausgerechnet in eine Türkin verliebt. Man verliebt sich nicht in eine Türkin! Das ist ein großer Fehler und bringt bloß Ärger. Kevin kann mittlerweile ein Lied davon singen. Dass gerade ihm so was passiert, gerade ihm, der niemals einen Fehler macht, hab ich anfangs noch echt lustig gefunden. Kevin, der Obermacker mit Schulnoten, die jeden Studienrat niederknien lassen. Der in seiner Freizeit unsere gammelige Wohnung putzt. Und der als Einziger ab und zu unsere Mutter in die Arme nimmt. Unsere Mutter, dieses jämmerliche, ungepflegte, dauerheulende Wesen.
Depressionen, sagt Kev.
Erschwerend kommt noch hinzu, dass sie wirklich dumm ist. Leider. Na, jedenfalls nimmt er sie in die Arme und sagt: »Wein doch nicht, Elvira. Alles wird gut!«
Natürlich wird nichts gut, wie auch?
Wir haben Elvira noch nie Mutter genannt. Ich weiß nicht warum, vermute aber, es liegt an ihrem Alter. Als Kev kam, war sie erst sechzehn. Und mit sechzehn Mutter genannt zu werden, ist wohl nicht so der Brüller. Eineinhalb Jahre später kam dann auch schon Robin. Und mit knapp achtzehn fühlt man sich wahrscheinlich noch immer nicht sehr mütterlich. Kev und Rob sind übrigens farbig. Also nicht so richtig natürlich, weil Elvira ja auch nicht farbig ist. Aber eben ziemlich dunkel. Der Vater der beiden, der kommt aus Jamaika und war Elviras ganz große Liebe. Und für eine ganze Weile lief wohl alles ziemlich rund. Zumindest erzählt sie das immer wieder mal so, wenn sie ihren Moralischen hat. Doch eines schönen Tages hatte dieser Typ vermutlich die Nase gestrichen voll von happy family und Tralala.
»Du, Baby«, hat er damals zu ihr gesagt. »Gib mir doch einfach mal deine restlichen Kröten, und damit flieg ich kurz rüber nach Jamaika und bau uns dort eine ganz tolle Zukunft auf!«
Ja, wie gesagt, dumm ist sie eben auch. Und so war er weg mitsamt ihrer mickrigen Kohle.
Wer mein eigener Vater ist, weiß eigentlich niemand. Oder besser gesagt, es wird nicht drüber gesprochen. Ich selber bin mir schon relativ sicher, wer es sein muss. Allein schon wegen diesem Muttermal. Ein kleines, dreieckiges Muttermal knapp unter dem rechten Auge. Genau so eines hat der Novak nämlich auch. Die gleiche Form, die gleiche Größe und sogar die gleiche Farbe. Da kann man an Zufall wirklich kaum glauben. Auch wenn mich dieser Gedanke alles andere als stolz macht.
Wir wohnen übrigens im einzigen Mietshaus weit und breit, wo noch immer mit Ölkannen hantiert wird. Und jedes Jahr wieder, wenn’s draußen kalt wird, gibt’s bei uns daheim Streit, wer runter muss in den verdammten Keller, um diese Scheiß-Kanister hochzuschleppen. Robin macht das nie, allein schon, weil er eh kaum zuhause ist. Elvira nur unter Tränen, was noch viel nerviger ist als die blöde Schlepperei. Meistens können wir auf Kevin zählen. Wenn der aber schlechte Tage hat, und die häufen sich im Moment, dann muss ich eben ran. Ich hasse unseren Keller. Weil er schimmlig ist und muffig und von Ratten und Mäusen bewohnt. Obendrein gibt’s dort noch nicht mal Strom. Es gibt Tage, da würde ich fast lieber erfrieren, als dort hinunterzugehen. Aber natürlich bleibt mir gar keine Wahl. Und so mach ich es eben, auch wenn ich es noch so verabscheue. Die feinste Adresse ist es sowieso nicht, da, wo wir wohnen. Die Wohnungen sind alt und es wurde noch nie was erneuert. Im Höchstfall wird mal etwas repariert, und selbst da muss man echt lange drum kämpfen. Außerdem, oder vielleicht auch deswegen, wohnen jede Menge Spinner hier. Und nicht nur die von der harmlosen Sorte.
»Hör mal, Locke«, sagt Kev jetzt plötzlich und stößt mit dem Fuß gegen meinen Stuhl. »Ich muss gleich noch mal kurz weg. Du bleibst zuhause, kapiert, und passt auf Elvira auf. Kümmere dich ein bisschen um sie. Ihr geht’s heute nicht gut.«
»Hast du ’nen Vogel, oder was?«, frag ich, weil ich überhaupt keine Lust habe, hier den Babysitter abzugeben.
»Bitte! Es dauert auch nicht lang«, sagt er mit Nachdruck und schnappt sich dabei die Jacke vom Haken.
»Nur, wenn du mir sagst, was überhaupt los ist«, bohr ich nach.
»Verdammt, es ist nichts los. Was soll denn schon los sein?«
Will der mich verarschen?
»Gehst du zu Aicha?«
Er nickt. Aber auch das tut er anders als sonst.
»Also nicht weggehen, Locke, verstanden? Und Augen auf, wenn Robin kommt.«
Ich greife nach der Maus und spiele weiter. Sagen tu ich nichts mehr.
Als Augenblicke später die Wohnungstür ins Schloss fällt, schaue ich erst mal rüber zum Sofa. Elvira schläft tief und fest. Und sie schnarcht auch ein bisschen. Halb sitzend, halb liegend, und ihr Kopf baumelt schwer über der Brust. Ich geh hin, bring sie in die Horizontale und decke sie zu. Sie blinzelt.
»Ist was, Locke?«, brummt sie leise, schläft aber gleich wieder ein.
Manchmal, nur ganz selten, nennt Elvira mich »Marvi«. Damals zum Beispiel, als ich mir das Bein gebrochen hatte. Unten auf der Kellertreppe beim Ölkannenschleppen. Vorausgegangen war wieder eine dieser Endlosdiskussionen, bei der ich schließlich den Kürzeren gezogen hatte. Einfach, weil Robin mich irgendwann anbrüllte.
»Wenn du jetzt nicht sofort deinen faulen Arsch in Bewegung setzt!«, hat er geschrien. »Dann werde ich morgen der ganzen Schule erzählen, was für ein verdammtes Weichei du bist und dass du dich noch nicht mal in unseren popeligen Keller runtertraust!«
Da bin ich natürlich los. Bin die Treppen runtergestampft...
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