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"Eines Tages, es ist noch nicht lange her, kam ein Kind aus dem Wald gekrochen. Das arme Ding ..." | Der neue Roman des mehrfach preisgekrönten Kultautors Matias Faldbakkens Der einsame Waisenjunge Oskar arbeitet für Kost und Logis auf dem Hof von Aud und Olav Blum. Eines Tages entdeckt Oskar im Wald ein völlig verwahrlostes Kind, das er einfängt und mit nach Hause nimmt. Das Kind leidet an Wachstumsstörungen und kann kaum sprechen. Doch unter der Obhut von Oskar entwickelt es sich in rasantem Tempo zu einer hübschen jungen Frau, die die Ordnung auf dem Hof gehörig durcheinanderwirbelt. »Armes Ding« ist eine Liebesfabel und ein Bildungsroman, geschrieben mit großer Fantasie, sprachlicher Energie und einer unverwechselbaren Mischung aus Inbrunst und Ironie. Matias Faldbakken erweist sich einmal mehr als einer der originellsten und interessantesten Autoren unserer Zeit.
1.
Eines Tages, es ist noch nicht lange her, kam ein Kind aus dem Wald gekrochen. Das arme Ding. Es kletterte den Graben hinauf und stolperte den Feldweg entlang. Was für ein trauriger Anblick.
Das Kind war hässlich und schmutzig. Die verfilzten Haare hingen wie Würste herab, die Stirn war von tiefen Falten zerfurcht. Die Augen über den verkrusteten Nasenlöchern zuckten ängstlich hin und her. Die Lippen waren steif und blau, der Hals viel zu dünn. Das Kind trug Lumpen oder eine zerrissene Weste, unter der ein paar dürre Beine hervorlugten. Die Knie waren breiter als die Oberschenkel und Waden. Das Kind war barfuß, und die übergroßen Füße sahen aus wie nasse Wollsocken. Ab und zu schleiften die Fingerknöchel einer Hand über den Boden. Unter die Achsel hatte die gebeugte kleine Gestalt eine schäbige Mappe geklemmt, vielleicht auch ein Umschlag. Wie ein Tier, das aus dem Unterholz auftaucht, um eine Nachricht zu überbringen.
Oskar ging in die andere Richtung. Er hatte im Tal gearbeitet und war auf dem Weg zurück zum Hof. Jeden Nachmittag, wenn seine Schicht zu Ende war, nahm er denselben Feldweg. Wie immer war er allein. Nur noch drei Kurven und er war zu Hause, wo er sich den Abend lang ausruhen konnte. Da bemerkte er eine Bewegung vor sich, und es war das Kind, das auf allen Vieren hinkte - oder eher auf allen Dreien, einen Arm hatte es wegen der Mappe an die Seite gepresst. Als das Ding Oskar entdeckte, sprang es zurück in den Graben und kroch zwischen die Bäume. Aber Oskar hatte gesehen, was er gesehen hatte, und es war furchtbar. Er erstarrte. Nein, das konnte nicht sein. Hatte ihn die Einsamkeit verrückt gemacht?
Oskar trat an den Rand des Weges und spähte zwischen den Stämmen hindurch. Nach einigen angespannten Sekunden sah er die Gestalt, die in rasendem Tempo davonsprang. Oskar starrte mit offenem Mund hinterher und dachte, es müsse ein kleines Reh sein, ein Kitz. Aber was war mit den Lumpen und der Mappe . was mit dem Gesicht?
An diesem Abend saß Oskar schweigend am Tisch. Wie immer gab es mittwochs Fleischsuppe. Der Hausherr, Olav Blum, der einfach nur Blum genannt wurde, redete wie ein Wasserfall, nur ab und zu unterbrochen von seinen beiden halbwüchsigen Töchtern Karin und Guro, deren schrille Stimmen wie Laserstrahlen in das Gespräch fuhren. Alles war wie immer. Die Herrin des Hauses, Frau Blum, oder Aud, wie sie lieber genannt wurde, tadelte in regelmäßigen Abständen streng die unangemessene Sprache, den Unsinn und die Absurditäten, die Herr Blum und seine Töchter zuhauf von sich gaben. »Was für ein Blödsinn«, sagte sie dann. »Völliger Quatsch.«
Die besonnene Agnes, eine Magd in den Fünfzigern, brachte sie auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn es zu wild wurde; alle hörten auf sie. Und dann war da noch Annar, ein alter Mann, der länger auf dem Hof war, als irgendjemand zurückdenken konnte, ein liebenswerter alter Junggeselle. Er sprach nicht viel, konzentrierte sich in der Regel darauf, seine Suppe zu schlürfen und zu schlucken. Löffel für Löffel. Eine leberfarbene Katze schlich um seine Beine, eine grausame Kreatur, die alle auf dem Hof hassten.
Oskar war neunzehn, ein stiller Kerl mit drahtigem blondem Haar. Ja, die Haare hingen schnurgerade herunter, nur vorne an der Stirn standen sie ab. Als Knecht leistete er ordentliche Arbeit auf dem Hof der Blums. Ein »Knecht« zu sein, war sein täglich Brot, alle nannten ihn »Bursche« oder »der Bursche«. Oskar machte nie viel Wind um sich und es kam nicht selten vor, dass er einfach nur stumm dasaß, aber Olav Blum, ein großer Mann von fünfzig Jahren, ließ sich davon nicht täuschen. Er sah, dass der Bursche sich an diesem Abend noch tiefer als sonst in sein Schneckenhaus zurückgezogen hatte und noch weniger als sonst sagte. In einer Gesprächspause stellte Blum sein Glas ab und machte von seiner scharfen Zunge Gebrauch.
»Was geht dir durch den Kopf, Bursche?«
»Ach, nicht viel«, sagte Oskar.
Blum setzte sich aufrecht hin und zog die Schultern zurück. »Du grübelst doch über etwas nach, das dir unangenehm ist«, sagte er mit zusammengekniffenen Augen.
Oskar räusperte sich und sah ihn verwirrt an.
»Na ja«, sagte Blum. »Du brauchst nur zu fragen, wenn du Hilfe brauchst.«
Damit wandte er sich wieder seinen Töchtern zu.
Schon am nächsten Tag war der Bursche wieder im Tal und arbeitete wie immer. Ohne seine Arbeit war er nichts. Er schuftete unter der heißen Sonne, der Schweiß rann ihm den verbrannten Nacken hinunter. Aber mit seinen Gedanken war er heute nicht da, er war nicht bei der Arbeit, er war wieder auf dem Feldweg, wo er einen Blick auf das schreckliche Wesen erhascht hatte.
Verdammt, das war wirklich seltsam, dachte er.
Als der Abend nahte und seine Arbeit beendet war, legte er das Werkzeug nieder und machte sich auf den Weg zum Hof, wobei er diesmal besonders langsam ging. Er machte kurze, leise Schritte. Er spähte durch die Baumstämme, aber der Wald war still, nichts lauerte hinter den Fichten. Doch dann: ein plötzliches Knacken, ein dumpfer Aufschlag auf dem Waldboden. Oskar blieb wie angewurzelt stehen. Er starrte auf die Stelle, einen moosbewachsenen Stein, eine Wurzel und einen Erdhügel, die sich ineinander verhakt hatten. Er hatte nur zwei der drei Brötchen gegessen, die er für die Mittagspause mitgenommen hatte, und nun fischte er mit klopfendem Herzen und zitternden Händen lautlos das letzte heraus. Er riss es in zwei Hälften und warf die eine Hälfte an die besagte Stelle vor sich, wobei die Wurst wie ein Diskus zur Seite flog. Mit jugendlicher Geschmeidigkeit ging er im Dreck in die Hocke und verharrte wie eine Statue. Nichts. Die Minuten verstrichen. Allmählich spürte er ein Brennen in den Knien und Schmerzen im Rücken. Nein, es war bestimmt nur ein Vogel gewesen. Oskar warf die zweite Hälfte des Brötchens ein Stück weiter zwischen die Bäume und wartete, aber wieder geschah nichts. Pff. Er musste los, bevor sie sich wunderten, wo er blieb. Es war Donnerstag, und Donnerstag war Fleischtag - dazu war noch nie jemand zu spät gekommen.
In diesem Augenblick bemerkte er hinter dem Erdhügel eine ruckartige Bewegung, ein knochiger Körper blitzte kurz auf. Trotz eines Ekelanfalls stürzte Oskar vor, entschlossen, den kleinen Kerl zu fangen.
Es folgte ein wilder Sprint durch die Nadelbäume. Oskar war keine lahme Ente - er war neunzehn, in der Blüte seiner Jugend, mit explosiver Kraft in Waden und Schenkeln -, aber würde das reichen, um das kleine Ding zu fangen? Es jagte in einem Höllentempo zwischen den Bäumen hindurch, eher auf vier als auf zwei Beinen, oder eher auf drei als auf vier, weil es die Mappe unter den Arm geklemmt hatte. Mithilfe von Ober- und Unterkörper, oder besser gesagt Vorder- und Hinterläufen, bewegte es sich im Zickzack zwischen den Stämmen hindurch. Oskar hechtete mit Schwung über den Rand des Straßengrabens und stieß sich von den Wurzeln und Pflanzenbüscheln ab, aber nach fünfzehn Sekunden Sprint wusste er, dass es aussichtslos war. Er hatte keine Chance. Er wurde langsamer und ließ den Vogel fliegen, das Kind rennen, galoppieren, w ie auch immer man es bezeichnen wollte, und es verschwand zwischen den grauen Zweigen in Richtung Osten, wie schon am Tag zuvor. Oskar verstand gar nichts mehr. Ein Kind? Es war doch ein Kind, oder? Wäre er irgendwo anders auf der Welt gewesen, hätte er es für einen Affen gehalten, aber er war noch nie irgendwo anders gewesen, und hier gab es keine Affen. Nein, in Norwegen gibt es keine Tiere mit flachen Gesichtern und nach vorne gerichteten Augen. Das war ein Kind, und das Kind war wild.
Im Bauernhaus, dessen weißer Putz von der Fassade blätterte, hatte sich die ganze Bande zum Essen niedergelassen, das Fleischgericht wurde serviert. Nur Oskar fehlte. Der Bursche hatte sich heimlich, ohne Erlaubnis, in das spartanische, nicht beheizbare Zimmer des alten Annar geschlichen, das sich neben seinem eigenen und zwei Türen von dem der zuverlässigen Agnes entfernt in der kleinen, engen, den Hilfskräften vorbehaltenen Hütte auf einem flachen Hügel hinter dem Hof befand. Er nahm ein Buch aus Annars Regal.
Der alte Annar war wirklich alt. Er war aus einer anderen Zeit und behauptete, 1880 geboren zu sein. Würde diese Geschichte im Jahr 1980 spielen, wäre Annar hundert Jahre alt. Nicht, dass es 1980 gewesen wäre, insofern ist es unmöglich, genau zu sagen, wann es war. Aber sollte es 1980 gewesen sein, wäre Annar hundert Jahre alt gewesen. Im Alter von zehn Jahren, also 1890, hätte Annar selbst einen Hundertjährigen treffen können. Und das war auch der Fall, zumindest hatte es Oskar so gehört, was wiederum bedeutete, dass der alte Mann, den Annar angeblich damals getroffen hatte, im Jahr 1790 geboren war. Jedes Mal, wenn Oskar Annar ansah und dieser mit seinen glasigen Augen zu ihm aufblickte, dachte Oskar daran, dass diese Augen einst in ein Augenpaar aus dem achtzehnten Jahrhundert geblickt hatten. Der kleine Annar hatte dem Dorfältesten damals höflich seine kleinen Patschehändchen gereicht und seine Finger um eine Hand geschlossen, die sich Ende des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal geöffnet hatte. Auch daran musste Oskar immer wieder denken, wenn er Annars Hände sah oder in seine hellblauen Augen blickte.
Die Finger des alten Fossils waren inzwischen arthritisch gekrümmt, seine Beine langsam und seine Augen schwach. Das wusste Oskar, deshalb hatte er es gewagt, sich in Annars eiskaltes Zimmer zu schleichen, zu dem wackeligen Metallregal; die Gefahr, erwischt zu werden, war gering. Annars Bücherregal...
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