Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
In jenen frühen Morgenstunden nahm Paolo Cesari die Welt intensiver wahr als jemals zuvor. Die harzig duftende Macchia, über die kürzlich der erste Regen niedergegangen war. Die aufgeweichte Erde, die nach Oregano und Rosmarin roch. Sowie die Kastanien, deren süßlich moderndes Laub an manchen Stellen eine rutschige Bodenschicht gebildet hatte. All das war in seiner Intensität gleichsam vertraut wie beunruhigend. Vor allem vor dem Hintergrund, dass es vielleicht das letzte Mal war, dass er diese Luft atmen durfte.
Er wischte mit dem Handrücken den Schweiß von seiner Stirn. Ihm war warm geworden. Während die sternklaren Nächte und frostigen Morgenstunden bereits einen Vorgeschmack des Winters in sich trugen, kam später am Tag der Sommer zurück. Dann ließen einen die erhitzten Felsen, die plätschernden Bäche und schweren Kräuteraromen vergessen, dass die dunkle Jahreszeit bereits ihre dürren Finger ausstreckte.
Paolo sog die Luft ein und öffnete den Mantel. Das schwere Tuch war feucht vom Schweiß. Hinter dem stahlblauen Himmel erhob sich scharf und kantig das Profil des Monte Cintu, des Königs der Berge, in dessen Schatten Paolo sein ganzes Leben verbracht hatte. Er, seine Frau sowie seine beiden Söhne, die bald keinen Vater mehr haben würden. Ghjuvanni, mit seinen pechschwarzen Strubbelhaaren, der breiten Zahnlücke und den sanften braunen Augen. Er würde nächsten Monat dreizehn werden. Fast schon ein Mann. Um ihn machte sich Paolo keine Gedanken. Er würde es verstehen.
Es war Saveriu, der seine Hilfe brauchte. Der Kleine hing an ihm wie die Klette am Wollpullover. Mit seinen neun Jahren war er noch ein Frischling. Wer, wenn nicht sein Vater, würde künftig mit ihm die kleinen Ziegen an die Zitzen der Mütter zurücktreiben, die halbwilden Schweine mit Kastanien bewerfen oder die Wälder nach Pilzen durchstreifen? Wer würde ihm abends Geschichten erzählen und ihm zeigen, wie man mit der Schleuder umging - seine Frau? Gewiss, Ghjulia war wunderbar. Sie war seine Geliebte, seine Vertraute, die beste Köchin der Welt. Aber sie war eben nur eine Frau. Und ab morgen würde sie Witwe sein. Sie würde ihre farbigen Kleider gegen das traditionelle Schwarz tauschen und selbst darin umwerfend aussehen. Sie würde ihren Söhnen erzählen, was geschehen war, und damit etwas in Gang setzen, was auf Korsika seit Jahrhunderten Tradition hatte: die Blutfehde, auch Vendetta genannt. Söhne rächten ihre Väter, Enkel ihre Großväter. Ein immerwährender Kreislauf, der nicht deswegen endete, weil Menschen sich anschickten, den Mars zu erobern oder das Atom in noch kleinere Bestandteile zu spalten. In der großen weiten Welt mochte das von Bedeutung sein, hier auf Korsika aber zählten andere Dinge. Jungs brauchten ihren Vater. Einen Mann, zu dem sie aufschauen konnten. Der ihnen das Jagen beibrachte, der sie lehrte, wie man mit dem Messer umging und einen Hund abrichtete. Sie brauchten jemanden, der sie in den Umgang mit anderen Männern einwies und sie den strengen Ehrenkodex lehrte, der den Korsen seit Jahrhunderten in Fleisch und Blut übergegangen war. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Bei dem Gedanken an seine Söhne wurde ihm schwer ums Herz. Am liebsten wäre er zurückgegangen, hätte sie in den Arm genommen und gesagt: Tut es nicht. Lasst nicht den Wunsch nach Rache euer Leben überschatten. Befleckt nicht eure Hände mit Blut, das ihr nie wieder abwaschen könnt.
Aber dafür hätte er den Lauf der Gestirne ändern müssen. Solange die Sonne im Osten aufging, würde sich hier nichts ändern.
Er zuckte zusammen. Über den nördlichen Hügeln sah er Silhouetten. Aufgereiht wie auf einer Perlenschnur. Da waren sie. Die Füße in schweren Lederstiefeln, gekleidet in Tarnjacken und Hosen, Gewehre über den Schultern und Schirmmützen auf dem Kopf, standen sie mit mindestens zwanzig Meter Abstand zueinander. Sie alle hatten nur ein Ziel: ihn.
Als Paolo sie von Vallica hatte herabkommen sehen, war ihm klar geworden, dass seine Zeit abgelaufen war. Sie würden ihn nicht entkommen lassen. Der Clan hatte beraten, der Clan hatte entschieden.
Paolo senkte den Blick und streichelte Lumio über den Kopf. Der Atem des Cursinu kondensierte zu weißen Wölkchen. Aus dem feuchten Fell stieg Dampf auf. Die gelben und braunen Streifen waren mit Tautropfen bedeckt. Sein Hund war der Letzte, der jetzt noch zu ihm stand.
»Komm«, sagte Paolo. »Machen wir uns auf den Weg.«
Der Pfad war kaum mehr als ein verwitterter Fußsteig, der während der Sommermonate von Hirten und Schafen benutzt wurde. Jetzt, Ende September, traf man hier oben kaum noch jemanden. Die Herden waren bereits seit zwei Wochen unten im Tal, und die paar Wanderer, die sich während der Nachsaison von dem spektakulären Anblick der Berge verzaubern lassen wollten, bevorzugten den westlich gelegenen GR 20.
Das lang gestreckte Tal südlich von Vallica war menschenleer. Wer hierherkam, der hatte etwas zu erledigen.
Paolo schulterte sein Gewehr und setzte den Abstieg fort. Nieselregen hatte eingesetzt, machte die Steine schlüpfrig. Das schroffe, karge Antlitz des Monte Cintu wirkte abweisend - als habe sich der Berg von ihm abgewendet.
Lumio trabte voraus, stieß schnuppernd die Nase in den einen oder anderen Busch und vergewisserte sich, dass er kein Kaninchen übersah. Er bellte nicht, er winselte nicht, stattdessen war er aufmerksam und lauschte. Plötzlich hielt er an. Er hob den Kopf und hielt witternd seine Nase in die Höhe. Seine Haltung verriet Anspannung.
Kein Zweifel, da war etwas.
Oder jemand.
Paolo nahm das Gewehr von der Schulter, prüfte Munition und Visier, dann entsicherte er die Waffe. Er war ein guter Schütze, einer der besten hier im Tal. Er konnte mehrere Schüsse abgeben, ehe sie ihn erwischten. Und kampflos würde er sich nicht ergeben.
Er spürte, wie Hitze unter seinem Mantel emporwallte. Das Adrenalin pulste durch seine Adern. Alle seine Sinne waren geschärft. Seine klammen Finger umschlossen Schaft und Abzug, während er langsam weiterging.
Nebel kroch vom Tal herauf, hüllte Bäume und Felsen in geheimnisvolles Zwielicht. Sonnenfinger tasteten durch den Dunst. Wie schnell das Wetter doch umschlagen konnte. Nach nur wenigen Minuten hatte sich die Sicht auf unter fünfzig Meter verringert. Oben am Hang hörte er das Kläffen der Hunde. Die Jäger waren also auf dem Abstieg.
Vorsichtig ging er weiter.
Nach einer Weile blieb er stehen und sah sich um. Wo steckte Lumio? Es war jetzt etliche Minuten her, dass er ihn zuletzt gesehen hatte. Er stieß einen leisen Pfiff aus. Mehr wagte er nicht, um den Verfolgern seine Position nicht zu verraten.
Voraus im Nebel hörte er das Prasseln von Steinen.
»Lumio?« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Komm zurück.«
Er hielt den Atem an und lauschte. Der Nebel antwortete mit Schweigen. Täuschte er sich oder bewegte sich dort etwas? Paolo meinte, einen menschlichen Umriss zu erkennen, der seitlich gegen einen mächtigen Felsblock gelehnt war und zu ihm herüberblickte. Er schien zu warten.
Beim Näherkommen erkannte er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Da war jemand. Ein Mann. Breitschultrig und hochgewachsen. Schwarzer Mantel, Wollmütze, das Gesicht von einem Dreitagebart umrahmt. In der Hand hielt er ein Messer. Als er Paolo kommen hörte, hob er den Kopf.
»Grüß dich, mein Freund. Lange nicht gesehen.«
Paolo blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Er erkannte eine mehrfach gebrochene Nase und sanfte braune Augen, in denen sich Bedauern spiegelte. Ein Gesicht, das man nicht vergaß. Paolo war nicht überrascht. Er hätte sich denken können, dass sie ihn schicken würden.
»Mateu.«
»Ich bin erfreut, dass du mich noch kennst. Du scheinst ja in letzter Zeit etwas Probleme zu haben, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden.«
Mateus Stimme war dunkel, besaß aber dieses leichte Lispeln, das für die Santini so typisch war.
»Wer sagt, dass ich nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden könnte?«
»Oh, das zwitschern die Spatzen von den Dächern«, erwiderte Mateu. »Man kann es überall hören. Du musst nur mal die Ohren spitzen. Paolo hat uns verraten, pfeifen sie. Er hat seine Seele verkauft.«
»Man sollte nicht alles glauben, was die Spatzen von den Dächern pfeifen.« Paolo kniff seine Augen zusammen. Es war merkwürdig, dass Lumio gar nicht mehr zurückkam. Es sei denn . »Wo ist mein Hund?«
Mateu löste sich aus dem Schatten des Felsens und trat ihm entgegen. Er besaß weder ein Gewehr noch eine Pistole.
Der Lauf von Paolos Waffe wanderte hinauf zu Mateus Brust. »Was hast du getan?«
Der groß gewachsene Mann breitete die Arme aus. Die Geste mochte auf jemanden, der ihn nicht kannte, entschuldigend wirken, doch Paolo wusste es besser. Der Sohn des Clanchefs entschuldigte sich nicht. Bei niemandem. Vielmehr bedeutete die Geste: Schau her, ich habe keine Angst vor dir. Jetzt sah Paolo, dass auf der Messerklinge ein roter Schimmer lag.
»Du weißt, dass ich ihn nicht am Leben lassen konnte«, sagte Mateu. »Er hätte niemals zugelassen, dass ich seinem Herrn etwas antue.« Er senkte seine Arme. »Ein Jammer. So ein schönes Tier. Korsisch, durch und durch. So ganz anders als du.«
»Ich bin mehr Korse, als du es je sein wirst, du Monster«, stieß Paolo aus. »Was ich getan habe, habe ich für meine Familie getan. Aber das wirst du niemals verstehen.« Der Lauf der Waffe zitterte.
Mateu kam einen Schritt auf ihn zu.
»Stehen bleiben«, zischte Paolo. Sein Finger krümmte sich um den Abzug. »Bleib stehen, oder ich werde dich erschießen. Gleich hier und...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.