Schweitzer Fachinformationen
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Das Gehöft von Bernat Estanyol
Navarcles, Principado de Cataluña
In einem unbeobachteten Moment blickte Bernat in den strahlend blauen Himmel hinauf. Die milde Septembersonne fiel auf die Gesichter seiner Gäste. Er hatte so viel Zeit und Mühe auf die Vorbereitung verwendet, dass nur schlechtes Wetter das Fest hätte verderben können. Bernat lächelte in den Herbsthimmel, und als er wieder nach unten blickte und das muntere Treiben sah, das auf dem gepflasterten Hof vor den Stallungen herrschte, lächelte er noch mehr.
Die etwa dreißig Gäste waren bester Dinge, denn die Ernte war dieses Jahr außerordentlich gut gewesen. Alle, Männer, Frauen und Kinder, hatten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gearbeitet, zunächst bei der Weinlese, dann beim Keltern, ohne sich einen Tag Ruhe zu gönnen.
Erst wenn der Wein in den Fässern und die Traubenmaische eingelagert war, um während der Wintertage Schnaps daraus zu brennen, feierten die Bauern ihre Herbstfeste. Und Bernat Estanyol hatte beschlossen, in dieser Zeit zu heiraten.
Bernat beobachtete seine Gäste. Sie hatten bereits im Morgengrauen aufstehen müssen, um zu Fuß den für einige von ihnen sehr weiten Weg von ihren Gehöften zu jenem der Estanyols zurückzulegen. Sie unterhielten sich angeregt, vielleicht über die Hochzeit, vielleicht über die Ernte, vielleicht auch über beides. Einige, wie etwa das Grüppchen, bei dem seine Vettern Estanyol und die Familie Puig standen, lachten schallend und warfen ihm vielsagende Blicke zu. Bernat merkte, wie er errötete, und ging nicht darauf ein. Er wollte sich nicht einmal vorstellen, was die Ursache der Heiterkeit war. Auf dem Hof verstreut erkannte er die Fontaníes, die Vilas, die Joaniquets und natürlich die Familie seiner Braut, die Esteves.
Verstohlen betrachtete Bernat seinen Schwiegervater Pere Esteve, der sich immer wieder über seinen gewaltigen Bauch strich, während er mit einigen Leuten redete, um sich dann unversehens einer anderen Gruppe zuzuwenden. Als Pere mit fröhlicher Miene in seine Richtung winkte, nickte Bernat ihm zum wiederholten Male zu. Dann schaute er sich nach den Brüdern seiner Braut um und entdeckte sie unter den Gästen. Vom ersten Moment an hatten sie ihn mit einem gewissen Argwohn behandelt, sosehr sich Bernat auch bemüht hatte, sie für sich zu gewinnen.
Er sah hinüber zu seinem Hof, dann wieder zu den Leuten, und verzog ein wenig den Mund. Plötzlich kam er sich trotz des heiteren Treibens alleingelassen vor. Es war noch kein Jahr her, dass sein Vater gestorben war, und was seine Schwester Guiamona anging, die seit ihrer Hochzeit in Barcelona lebte, so hatte sie nicht auf die Nachrichten geantwortet, die er ihr geschickt hatte - obwohl er sie so gerne wiedergesehen hätte. Sie war die einzige nahe Angehörige, die ihm nach dem Tod seines Vaters geblieben war.
Ein Todesfall, der den Hof der Estanyols für die ganze Gegend interessant gemacht hatte. Ein nicht enden wollender Strom von Kupplerinnen und Vätern mit Töchtern im heiratsfähigen Alter setzte ein. Vorher hatte sie nie jemand besucht, doch der Tod des Vaters, dem seine aufrührerische Art den Beinamen »der verrückte Estanyol« eingetragen hatte, weckte wieder die Hoffnungen jener, die ihre Töchter mit dem reichsten Bauern der Region verheiraten wollten.
»Es wäre an der Zeit für dich, zu heiraten«, sagten sie zu ihm. »Wie alt bist du?«
»Siebenundzwanzig, glaube ich«, war seine Antwort.
»In diesem Alter solltest du beinahe schon Enkel haben«, warfen sie ihm vor. »Was willst du alleine auf diesem Hof ? Du brauchst eine Frau.«
Bernat nahm die Ratschläge geduldig entgegen, wohl wissend, dass sie unweigerlich von dem Vorschlag einer Kandidatin gefolgt wurden, die stärker war als ein Ochse und schöner als der unglaublichste Sonnenuntergang.
Das Thema war nicht neu für ihn. Schon der verrückte Estanyol, der seit Guiamonas Geburt Witwer war, hatte versucht, ihn zu verheiraten. Doch sämtliche Väter mit heiratsfähigen Töchtern hatten den Hof unter Verwünschungen wieder verlassen, denn niemand konnte die Forderungen des verrückten Estanyol bezüglich der Mitgift erfüllen, welche die zukünftige Schwiegertochter mitbringen sollte. So hatte das Interesse an Bernat nachgelassen. Im Alter war der Vater noch schlimmer geworden, und seine Tobsuchtsanfälle hatten sich in Raserei verwandelt. Bernat hatte sich ganz der Bestellung des Landes und der Pflege seines Vaters gewidmet, und dann plötzlich, mit siebenundzwanzig Jahren, war er auf einmal allein und wurde förmlich belagert.
Der erste Besuch jedoch, den Bernat erhalten hatte, als er den Toten noch nicht begraben hatte, war der des Verwalters des Herrn von Navarcles gewesen, seines Feudalherren. »Wie recht du doch hattest, Vater!«, dachte Bernat, als er den Verwalter mit mehreren berittenen Soldaten kommen sah.
»Wenn ich sterbe«, hatte der Alte in seinen klaren Momenten immer wieder gesagt, »werden sie kommen. Dann musst du ihnen das Testament zeigen.«
Und mit diesen Worten hatte er auf den Stein gedeutet, unter dem, in Leder eingeschlagen, das Schriftstück mit dem letzten Willen des verrückten Estanyol lag.
»Warum, Vater?«, wollte Bernat beim ersten Mal wissen.
»Wie du weißt, besitzen wir dieses Land als Erbpacht. Aber ich bin Witwer, und wenn ich kein Testament gemacht hätte, hätte der Grundherr bei meinem Tod ein Anrecht auf die Hälfte unseres gesamten Hausrats und des Viehs. Dieses Recht nennt sich Intestia. Es gibt noch viele andere solcher Rechte zugunsten der Herren, und du solltest sie alle kennen. Sie werden kommen, Bernat, sie werden kommen, um mitzunehmen, was uns gehört, und nur wenn du ihnen das Testament zeigst, kannst du sie loswerden.«
»Und wenn sie es mir wegnehmen?«, fragte Bernat. »Du weißt ja, wie sie sind . . .«
»Selbst wenn sie es täten - es ist in den Büchern registriert.«
Der Zorn des Verwalters und des Grundherrn hatte sich in der ganzen Gegend herumgesprochen und den Sohn noch attraktiver gemacht, der den gesamten Besitz des Verrückten erbte.
Bernat erinnerte sich sehr gut an den Besuch, den ihm sein jetziger Schwiegervater vor dem Beginn der Ernte abgestattet hatte. Fünf Sueldos, eine Matratze und ein weißlinnenes Hemd, das war die Mitgift, die er für seine Tochter Francesca bot.
»Was soll ich mit einem weißlinnenen Hemd?«, wollte Bernat wissen, während er weiter das Stroh in der ebenerdigen Scheune des Hofes verteilte.
»Schau doch«, antwortete Pere Esteve.
Auf die Heugabel gestützt, blickte Bernat zum Eingang hinüber, zu dem Pere Esteve deutete. Das Gerät fiel ihm aus der Hand. Im Gegenlicht stand Francesca. Sie trug das weißleinene Hemd, und ihr gesamter Körper zeichnete sich darunter ab.
Ein Schauder war Bernat den Rücken hinabgelaufen, und Pere Esteve hatte gelächelt.
Bernat war auf das Angebot eingegangen, gleich dort im Heuschober, ohne sich dem Mädchen auch nur zu nähern. Aber er hatte kein Auge mehr von ihm gewendet.
Es war eine überstürzte Entscheidung gewesen, das wusste Bernat, aber er konnte nicht behaupten, dass er sie bereute. Dort drüben stand Francesca, jung, schön, stark. Sein Atem beschleunigte sich. Noch heute . . . Was das Mädchen wohl dachte? Empfand sie genauso wie er? Francesca beteiligte sich nicht an der fröhlichen Unterhaltung der Frauen. Sie stand schweigend und mit ernstem Gesicht neben ihrer Mutter und quittierte die Scherze und das Gelächter der anderen mit einem gezwungenen Lächeln. Ihre Blicke begegneten sich für einen Moment. Sie errötete und sah zu Boden, doch Bernat beobachtete, wie sich ihre Brüste unruhig hoben und senkten. Die Erinnerung an das weißleinene Hemd und den darunter durchschimmernden Körper beflügelte erneut Bernats Phantasie und Verlangen.
»Herzlichen Glückwunsch!«, hörte er hinter sich, während ihm jemand kräftig auf den Rücken klopfte. Sein Schwiegervater war zu ihm getreten. »Gib gut auf sie acht«, setzte er hinzu, während er Bernats Blick folgte und auf das Mädchen deutete, das nicht mehr wusste, wohin es schauen sollte. »Möge das Leben, das du ihr bietest, wie dieses Fest sein . . . Es ist der beste Festschmaus, den ich je gesehen habe. Mit Sicherheit kommt nicht einmal der Herr von Navarcles in den Genuss solcher Köstlichkeiten!«
Bernat hatte seine Gäste gut bewirten wollen und siebenundvierzig Laibe Weißbrot aus Weizenmehl vorbereitet - keine Gerste, kein Roggen oder Dinkel, wie sie die Bauern für gewöhnlich aßen. Helles Weizenmehl, weiß wie das Hemd seiner Frau! Mit den Laiben beladen, war er zur Burg von Navarcles gegangen, um sie im Backhaus des Grundherrn zu backen, in der Annahme, dass zwei Laibe wie sonst auch als Bezahlung ausreichen würden. Beim Anblick der Weizenbrote waren die Augen des Bäckers groß wie Teller geworden, um sich dann zu zwei schmalen Schlitzen zu verengen. Diesmal hatte der Preis sieben Laibe betragen, und als Bernat die Burg verließ, hatte er laut auf das Gesetz geflucht, das es ihnen untersagte, Backöfen in ihren Häusern zu haben.
»Gewiss«, antwortete er seinem Schwiegervater, während er die unangenehme Erinnerung beiseiteschob.
Die beiden blickten über den Hof. Man mochte ihm einen Teil des Brotes gestohlen haben, dachte Bernat, aber nicht den Wein, den seine Gäste nun tranken - den besten, den sein Vater abgefüllt hatte und der jahrelang gereift war -, nicht das gepökelte Schweinefleisch, den Gemüseeintopf mit Huhn und natürlich auch nicht die vier Lämmer, die, ausgenommen und auf Stangen gespießt, langsam über dem Feuer brieten und einen unwiderstehlichen Duft verbreiteten.
Plötzlich kam Bewegung in die...
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