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Die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen und die Aussicht, Verfolgung und Gewalt zu entkommen, gehören zu den wesentlichen Motiven grenzüberschreitender Migration und Flucht. Diese Treiber der Migration bilden grundlegende Ungleichheiten in den Lebensbedingungen zwischen den Herkunfts- und den Zielregionen ab. Migration ist eine von mehreren Möglichkeiten, auf die relativ dauerhafte ungleiche Verteilung von wichtigen materiellen Ressourcen wie Einkommen und symbolischen Ressourcen wie sozialer Status zu reagieren. Prinzipiell gibt es drei Antworten auf sich verschlechternde Bedingungen in Gruppen, Organisationen und Staaten: Abwanderung (Exit) sowie politischer Widerspruch (Voice) oder Loyalität (Loyalty) zur jeweiligen Organisation, Gruppe oder zum betreffenden Staat. Je geringer Loyalität und damit ein Zugehörigkeitsgefühl ausgeprägt ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für Abwanderung und desto geringer die Chance auf Widerspruch.[1]
Exit und Voice müssen im Zusammenhang mit vier Handlungsoptionen auf kollektiver und individueller Ebene gesehen werden, die bei Unzufriedenheit mit den Lebensverhältnissen zur Verfügung stehen. Auf kollektiver Ebene kann sich Widerspruch erstens im Streben nach politischer Stabilität und wirtschaftlichem Wachstum äußern und zweitens in der Umverteilung von materiellen Ressourcen wie Einkommen und Vermögen oder symbolischen Ressourcen wie Anerkennung und Status forcieren. Die Umsetzung beider Optionen benötigt allerdings viel Zeit und massiven sozialen Wandel. Auf individueller Ebene können Menschen als eine dritte Option in ihre Aus- bzw. Weiterbildung oder sonstige Formen der Anpassung vor Ort investieren oder viertens die Option Exit wählen. Exit ist diejenige Option, die für Einzelne und kleinere Gruppen in vielen Fällen am schnellsten umsetzbar ist und bei Verfolgung den Schutz von Leib und Leben verspricht.[2]
Exit und Voice als grundlegende Antworten auf wahrgenommene Verschlechterung von Lebensbedingungen bzw. bessere Verhältnisse andernorts stehen seit Langem im Mittelpunkt von Analysen zu sozialen Ungleichheiten. Zum einen haben Schriften in der Tradition von Karl Marx bis heute immer wieder Gruppen ausgemacht, die in Zeiten des sozialen Wandels oder gar der Transformation einer sozialen Ordnung als Träger von politischem Widerspruch agieren sollen. Diese Denktradition eröffneten Marx und Engels mit dem vielzitierten Beginn des Kommunistischen Manifests, einer kurzen Analyse der sozio-ökonomischen Entwicklung im 19. Jahrhundert: «Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus.»[3] Damit verwiesen sie auf die Klassenbasis der Politik sozialer Ungleichheiten zur Mitte des 19. Jahrhunderts und die damit aufgeworfene «soziale Frage». In Anlehnung an diese Aussage konstatierten 150 Jahre später der Literaturwissenschaftler Michael Hardt und der politische Philosoph Antonio Negri: «Während der gesamten Geschichte der Moderne haben die Mobilität und die Migration der Arbeitskräfte die Disziplinierungen, denen die Arbeiter unterworfen waren, gesprengt (.). Ein Gespenst geht um in der Welt, und sein Name ist Migration.»[4] Die Autoren sehen in Migration eine Form des spontanen Widerstands und damit einen politisch relevanten Widerspruch zum kapitalistischen Wirtschaftssystem. In dieser Sicht ist Exit eine politische Antwort auf Probleme sozialer Ordnung und die Verbesserung von Lebensbedingungen. Auch heute ist die globale Arbeiterschaft größer als je zuvor, und sie wächst vor allem in Regionen, die als «Entwicklungsländer» oder «globaler Süden» bezeichnet werden, also in Staaten außerhalb Europas und Nordamerikas. Allein von 1980 bis 2005 hat sich die Arbeiterschaft in Subsahara-Afrika und Lateinamerika verdoppelt.[5]
Es existiert aber auch die gegenteilige Ansicht: Exit führe nicht zu Voice und habe Widerspruch als dominante Antwort auf vielfältige Ungleichheiten abgelöst. In dieser Perspektive leben wir in einer Welt, die weit von den Verhältnissen entfernt ist, die Karl Marx im 19. Jahrhundert beobachtete. Ein prominenter Vertreter dieser Denkrichtung ist der Ökonom Branko Milanovic. Er wendet ein Modell an, das zwei Merkmale von Verschiedenheit zwischen Individuen berücksichtigt, nämlich Klasse und Staatsangehörigkeit. Wenn man die globale Einkommensverteilung betrachtet, so war um 1820 die Klassenposition - verstanden im Marx'schen Sinne als Zugehörigkeit entweder zum Proletariat oder zur Bourgeoisie - der wichtigste Bestimmungsfaktor für das Einkommen von Individuen. Dabei trug die Klassenzugehörigkeit etwa 50 Prozent zur Stellung in der globalen Einkommenshierarchie bei, während der Wohnsitz bzw. die Staatsangehörigkeit nur ca. 20 Prozent ausmachten. Im Jahr 2000 hatte sich dieses Verhältnis fast umgekehrt. Heutzutage macht demnach der Staat, in dem eine Person lebt, um die 50 Prozent aus, während Klasse nur etwa 20 Prozent zum Unterschied beiträgt.[6] Grenzüberschreitende Migration ist demnach eine folgerichtige Antwort, um bessere Lebensbedingungen zu erzielen. Obwohl diese Befunde aufgrund der mangelhaften Daten in vielen Teilen der Welt mit größter Vorsicht zu interpretieren sind, erscheint die Umkehrung der Bedeutung von Klasse und Staatsangehörigkeit bzw. Wohnort und damit eine gesteigerte Relevanz von Migration auf den ersten Blick plausibel. Dies ist auch auf dem Hintergrund populärer Interpretationen zu sehen, die von einem «Zeitalter der Migration», von «Welten in Bewegung» und von «Welten der Mobilität» sprechen.[7] Eine globale Betrachtung von sozialen Ungleichheiten, in diesem Falle Einkommensungleichheiten, ist auch deshalb von Bedeutung, weil diese Unterschiede auf globaler Ebene sogar noch viel höher sind als in Nationalstaaten mit sehr ungleichen Einkommensverteilungen wie den USA oder Brasilien. Der Gini-Koeffizient, ein gebräuchlicher Maßstab zur Messung von Einkommensungleichheiten, lag in den USA im Jahre 2007 bei 41,[8] während er weltweit im Jahre 2008 etwa 71 betrug.[9]
Sicherlich kann nicht von einer einfachen Entwicklung von Voice hin zu Exit gesprochen werden. Denn schon auf den ersten Blick ist offensichtlich, dass Exit in manchen Fällen Widerspruch aus dem Exil bzw. aus einer Diaspora heraus überhaupt erst ermöglicht. Anhaltspunkte dafür bieten etwa nationsbildende Projekte wie die kurdischer oder tamilischer Organisationen.
Die Verknüpfung von Exit und politischem Widerspruch wird insbesondere in der sozialen Frage sichtbar, also der Politik, die soziale Ungleichheiten betrifft. Die soziale Frage berührt die für die betroffenen Menschen nicht akzeptablen Situationen menschlichen Leidens und Lebensverhältnissen, die auf soziale Ungleichheiten zurückzuführen sind. Migration ist ein Feld, in dem die soziale Frage deutlich hervortritt. Zwei Beispiele unter vielen verweisen darauf, dass Exit einmal ein Ausgangspunkt für Voice unter Migrant:innen selbst sein kann und zum anderen Exit zu gesellschaftlichen Konflikten um Emigration und Immigration führt.
Erstens engagieren sich manche Migrant:innen und Flüchtlinge in Organisationen, die sich um Belange in ihren Herkunftsländern kümmern. Eine weit verbreitete Praxis zielt darauf, finanzielle Rücküberweisungen für Infrastrukturprojekte in ihren (ehemaligen) Heimatorten zu organisieren, von Schulen und Gesundheitseinrichtungen bis hin zur Wasserversorgung.[10] Auch die immer weiter um sich greifenden Versuche von Herkunftsstaaten, Emigrant:innen das Wahlrecht aus dem Ausland heraus zu gewähren,[11] doppelte Staatsangehörigkeit zu tolerieren oder über Investitionsanreize für Emigrant:innen im Ausland deren Loyalität zu erneuern, weisen in diese Richtung.[12]
Zweitens erheben in den Herkunftsländern nicht nur Migrant:innen selbst, sondern auch andere Gruppen und Organisationen ihre Stimme, um etwa die Emigration von Hochqualifizierten zu verhindern bzw. zumindest eine Entschädigung dafür zu erlangen. Dafür steht die seit den 1960er-Jahren andauernde Debatte um die Abwanderung von Hochqualifizierten (brain drain) in den Herkunftsländern.[13] Und in den Zielländern haben sich in den letzten Jahrzehnten die Debatten um offene oder geschlossene Grenzen intensiviert und durch rechtspopulistische Tendenzen weiter politisiert.[14] Entzündet haben sich derartige Konflikte in neuester Zeit etwa an der humanitären ...
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