Schweitzer Fachinformationen
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Mein Onkel Dr. Géza Weil, Kreisarzt von Majcichov2, danach von Nové Zámky3 und später Arzt im Kibbuz Kfar HaChoresch4, war mein Ersatzvater. Er hat mich sehr beeinflusst. Als ich zwanzig war, behandelte er mich schon wie eine Erwachsene. Dabei bin ich nie richtig erwachsen geworden.
In meinem Buch Die Seele der Dinge schreibe ich, dass es für jemanden, der aus Auschwitz-Birkenau zurückgekommen ist, zwei Leben gibt: ein Leben vor Auschwitz und ein Leben danach.
Mein erstes Leben endete, als ich am 29. April 1944 aus der Tür meines Elternhauses in der Szoboszló Straße 15 in Debrecen trat, auf dem Weg in das Ghetto. Ich war damals achtzehn Jahre und fünf Monate alt. Noch heute, mit über neunzig Jahren, suche ich nach meiner Mutter, weil ich mich nicht damit abfinden kann, dass die Suche nach ihr vergeblich bleiben soll. Und noch heute warte ich auf die Rückkehr meiner kleinen Schwester, obwohl mein Verstand weiß, dass das unmöglich ist. Aber mein Gefühl? Mein Gefühl weiß das nicht.
Heute ist mir klar, dass ich mein Leben nach Auschwitz in dem Gefühl lebe, mir stünde alles zu und ich hätte auf alles ein Anrecht. Ja, uns Auschwitz-Überlebenden steht alles zu!
Man kann uns nicht entschädigen. Durch nichts in der Welt. Weder durch materielle Dinge noch durch die Empathie Außenstehender. Nur wir selbst, die wir überlebt haben und zurückgekommen sind, verstehen einander wirklich. Und dies nicht durch Worte. Es reicht ein Blick, um uns über eine gemeinsame Erinnerung zu verständigen - an eine Geste, an den Knall der Peitsche, als der Unmensch von der SS den Wasserkübel brachte und demjenigen, der etwas Wasser ergattert hatte, das Gefäß aus der Hand schlug.
Als der Krieg vorbei war, war die Welt voll von Menschen, die ziellos und entwurzelt umherirrten und nach Halt suchten - wie die Fäden der Spinnweben, die im Herbst in der Luft schweben. Auch ich gehörte dazu. Géza und seine Frau Hédi fanden meinen Namen schließlich auf einer Liste von Überlebenden deutscher Konzentrationslager, die auf dem Heimweg nach Ungarn waren. Wie wäre es mir wohl ergangen, wenn sie mir nicht in ihrem Haus in Érsekújvár5 Asyl gewährt und mich, das einzige überlebende Mitglied meiner Familie, nicht bei sich aufgenommen hätten? Die ersten zwei Jahre nach meiner Rückkehr verbrachte ich nur im Bett. Alles erschien mir sinnlos.
Ich liebte meinen Ersatzvater Géza sehr. Er war ein wunderbarer Mensch, aber er war nicht glücklich. Ich bin es ihm schuldig, meine Erinnerungen an ihn niederzuschreiben und damit zu bewahren.
Weiß heute noch jemand, wie viele Dörfer es in der großen österreichisch-ungarischen Monarchie gab - mit höchstens tausend Einwohnern, deren Häuser fast alle an der Hauptstraße lagen? Oft bestand das Dorf nur aus dieser Hauptstraße. Abgesehen von den Wohnhäusern gab es meist noch eine Kirche mit einem Kirchturm, eine Schule mit vier Klassenzimmern, ein Notariat, eine Kneipe und einen Krämerladen.
In so einem Dorf lebten Ungarn und Slowaken friedlich nebeneinander. Zumindest vertrugen sie sich an normalen Wochentagen. Die Slowaken aßen ihre Mohnklöße mit Honig und kochten Kohlrouladen mit Tomaten, die sie mit einer Mehlschwitze andickten. In der Fastenzeit gab es geräucherten Hering. Sie lebten jedoch immer so enthaltsam, dass man sich fragte, worauf sie während des Fastens überhaupt verzichteten. In den meisten Haushalten gab es Fleisch sowieso nur zur Kirchweih oder an Festtagen.
Welche spezifischen Sakramente die Slowaken hatten, war allenfalls zur Kirchweih Thema, dann nämlich, wenn ein angetrunkener slowakischer Bursche sich in das übernächste Dorf traute, weil er sich unsterblich in die schwarzen Augen eines dort lebenden ungarischen Mädchens verliebt hatte. In einem solchen Fall ging man natürlich - ganz im Namen der christlichen Nächstenliebe - mit dem Messer auf ihn los.
Aber ob Ungar oder Slowake - ansonsten spielte das keine Rolle. Das gemeinsame Elend verband sie. Das Wort »Lebensstandard« kam in ihrem Vokabular nicht vor. Sie mochten noch so viel schuften, sie schafften es gerade eben, von einer Ernte bis zur nächsten zu überleben.
In dem Dorf, in dem mein Onkel Géza aufwuchs, gab es ein Lehrerehepaar, das zwei Jahrgänge gleichzeitig in einem Raum unterrichtete. In den beiden ersten hatten sie meistens noch Schüler. Im dritten oder vierten Schuljahr ließen die Dorfbewohner ihre Kinder schon lieber Ziegen oder Schweine hüten. Es gab auch einen Notar. Er und der Dorfausrufer galten als die Obrigkeit im Dorf. Für den Erhalt der Ordnung war ein Gendarm in Paradeuniform auf einem tadellos gestriegelten Pferd zuständig.
Die Krämerläden waren zur Zeit der Monarchie entstanden und hatten quasi als dörfliche Institution überlebt. Man konnte dort alles bekommen, von Petroleum bis Zucker, von der »Pick«-Salami bis zum Zwirn und zum »Frank«-Ersatzkaffee. Petroleum wurde literweise verkauft und mithilfe eines Dezilitermaßes in eine mitgebrachte Flasche gefüllt. Es war sehr wertvoll - das Dorf hatte keinen Strom, und auf der Post, beim Fräulein vom Amt, existierte lediglich ein Kurbeltelefon. Zucker gab es damals schon in verschiedenen Sorten: als Kristall-, Puder- oder Würfelzucker, hauptsächlich aber in der Form eines Zuckerhuts. Den zerkleinerte der Krämer zunächst mit einem Hammer. Dann faltete er aus altem Zeitungspapier eine Tüte, die er leer in die größere Schale seiner Waage legte. In die kleinere kam ein Wägestück. In die leere Tüte füllte er so lange von dem zerkleinerten Zucker, bis beide Zungen der Waage nebeneinanderstanden. Zur Kontrolle hielt er diese auch noch einmal kurz mit der Hand fest. Bewegten sie sich beim Loslassen nicht mehr, war dies das Zeichen dafür, dass das Wägestück dem Gewicht der Ware entsprach. Alle Welt konnte nun sehen: Die beiden Waagschalen befinden sich auf gleicher Höhe, hier, bitte schön, geht alles ehrlich zu.
Unvergesslich und unverwechselbar war der Geruch so eines Krämerladens. Nicht, dass ein Geruch dominiert hätte, vielmehr bildeten alle Gerüche zusammen eine Harmonie. Der Geruch des Petroleums vermischte sich mit dem des leicht ranzigen Specks, der Dunst des Essigfasses mit dem des Sohlenleders, der beißende Geruch der Kaliseife mit dem ätzenden des Kupfersulfats und dem Gestank der Heringe.
Nicht nur in dieser Hinsicht ähnelten sich die Krämerläden, sie glichen sich auch in ihrer Einrichtung und in der Anordnung ihrer Räume. Wenn man sich in dem einen auskannte, fand man sich auch in einem anderen leicht zurecht. Der Eingang des Ladens lag immer auf der Straßenseite, auf der Hofseite befanden sich ein Parkplatz und die vom Laden abgehende Wohnung. Sie war aber auch direkt vom Hof her über die Küche zugänglich. Ein Krämerladen wurde von der ganzen Familie betrieben und hatte immer geöffnet zu sein. Die Ehefrau des Besitzers saß meistens an der Kasse. Wenn ihr Wissensdurst sie nicht an das städtische Gymnasium band, übernahmen die heranwachsenden Kinder nach und nach immer größere Aufgaben im Geschäft.
Den Namen des Dorfes, in dem mein Onkel Géza aufwuchs, habe ich leider vergessen, aber an den Krämerladen seines Vaters kann ich mich gut erinnern. Im Dorf hatte man sich seit Langem an Gézas Vater gewöhnt, man nannte ihn nur »Onkel Weil« - die Anrede »Herr« gebührte einem Juden auch hier nicht - und die Bezeichnung »stinkender Jude« wurde im Wesentlichen dann verwendet, wenn irgendwelche Wahlen anstanden. Zum Glück gab es ja auch noch die Slowaken, die man als »stinkend« bezeichnen konnte.
Nach dem 8. Mai 1945 kam das Attribut »stinkend« unter verändertem Vorzeichen erneut auf die Tagesordnung. Die Verwaltung lag jetzt nicht mehr in ungarischer, sondern in tschechoslowakischer Hand, und die Amtssprache war je nach örtlicher Verwaltung entweder Tschechisch oder Slowakisch. Daraus folgte ganz logisch, dass man Géza, den Sohn des Krämers, mittlerweile Kreisarzt von Nové Zámky, ganz im Sinne der Tradition auf der Straße anspuckte. Anders war nur, dass aus dem »stinkenden Juden« aufgrund der veränderten politischen Lage ein »stinkender Ungar« geworden war. Dabei war in Nové Zámky noch wenige Tage zuvor Ungarisch die Amtssprache gewesen. Und jeden Tag hatte beim Einlaufen des Schnellzuges aus Budapest eine Zigeunerkapelle gespielt.
Noch während seiner Grundschulzeit wandte sich das Lehrerehepaar, das Géza unterrichtete, an seinen Vater:
»Onkel Weil, Sie sollten Ihrem Sohn unbedingt eine Ausbildung ermöglichen. Es wäre eine Sünde gegen Gott, wenn Sie das nicht täten. Er hat einen so scharfen...
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