Schweitzer Fachinformationen
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SAMSTAG, 18. NOVEMBER
Emma holte tief Luft, bevor sie über die Steinplatten der Auffahrt zum Haus hochlief. Auf dem Weg hierher hatte sie sich drei Dinge geschworen. Sie würde sich auf keine Diskussionen einlassen, und sie würde weder über Niklas noch über ihr mangelndes Sozialleben sprechen. Ihr Blick fiel in den Garten. Die großen grünen Buchsbäume leuchteten auf dem Rasen, und bei den Apfelbäumen saßen Vögel im Futterhäuschen und pickten Körner. Als sie sich der Veranda näherte, blieb sie abrupt stehen. Ihre Mutter machte keine halben Sachen. Um das Geländer wand sich eine Lichterkette, und an der grau lackierten Eingangstür prangte ein riesiger Kranz aus Fichtenzweigen, Vogelbeeren und Tannenzapfen. Neben der Fußmatte stand eine Laterne mit einer brennenden Kerze darin, die Flamme flackerte leicht. Emma spürte, wie sich alles in ihr verkrampfte. Der Dezember war unleugbar im Anmarsch. Der Monat, den sie am liebsten überspringen würde. Sie nahm die letzten Schritte bis zur Tür des großen grünen Hauses, ihres Elternhauses. Bevor sie die Hand heben konnte, um anzuklopfen, wurde die Tür aufgerissen.
»Da bist du ja!« Emmas Mutter Yvette riss sie an sich und umarmte sie.
»Ich habe dein Lieblingsessen gemacht, Bouf Bourgignon.«
»Toll, danke«, sagte Emma und lächelte. Sie war wild entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Wenn ihre Mutter mitbekäme, dass es ihr gerade nicht gut ging, würde sie wahrscheinlich in nächster Zeit ständig nach dem Rechten sehen wollen, im Laden und bei ihr zu Hause. Und das war das Letzte, was Emma wollte. »Wo ist Papa?«
»Er sieht die Sportschau«, antwortete ihre Mutter, lächelte vielsagend und ging in die Küche. »Magda und die Kinder sind oben.«
»Magda ist auch schon da?«
»Sie ist vor ein paar Stunden gekommen. Die Kinder haben doch bei uns übernachtet.« Yvettes Gesichtsausdruck wurde ganz sanft und weich, wie immer, wenn sie über ihre Enkelkinder sprach. »Wir wollen heute Nachmittag Pfefferkuchen backen. Es wäre schön, wenn du mitmachst.«
Es war nicht weiter ungewöhnlich, dass man in Emmas Familie schon im November mit dem Pfefferkuchenbacken anfing. Traditionell wurde immer früh mit den Weihnachtsvorbereitungen begonnen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie sich ebenfalls immer eifrig bei der Planung beteiligt und wild diskutiert. Sie hatte sich mit den anderen leidenschaftlich darüber gestritten, wer in diesem Jahr für die Zubereitung der Fleischbällchen zuständig war und wer für die Auswahl der Trinklieder. Aber jetzt hatten die Vorbereitungen etwas Beklemmendes, Erstickendes.
»Ich weiß noch nicht, ob ich so lange bleiben kann«, antwortete sie so unbeschwert wie möglich. »Soll ich den Tisch decken?«
»Gerne. Nimm das weiße Porzellan mit dem blauen Muster. Dein Vater soll dir helfen.«
Emma verließ die Küche. Sie vernahm die Geräusche von oben und versuchte, das stechende Gefühl im Magen zu ignorieren, als sie das Glucksen der Zwillinge und Leos Lachen hörte. Auf der Schwelle zum Wohnzimmer blieb sie stehen und sah sich suchend um. Die Sonne schien durch die großen Sprossenfenster und tauchte den Raum in gleißendes Licht. Ihr Vater saß in einem der Sessel am Fenster. Er hatte sie noch nicht entdeckt, sondern war tief in ein Kreuzworträtsel versunken. Emma räusperte sich.
»Hallo, Papa. Mama findet, dass du mir beim Tischdecken helfen sollst.« Emma gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Sie dachte, du guckst Sportschau.«
»Ich habe ausgeschaltet, als klar war, dass Henrik Stenson gewinnt«, antwortete ihr Vater und lächelte seine Tochter liebevoll an, während er das Kreuzworträtsel auf die Fensterbank legte. »Wie schön, dich zu sehen.«
Emma erwiderte sein Lächeln. Sie hatte ihre Eltern schon sehr lange nicht mehr besucht und war nun froh, dass sie gekommen war.
»Ich habe gehört, dass ihr mit den Kleinen heute Nachmittag Pfefferkuchen backt?«
»Ja, die Weihnachtsvorbereitungen beginnen offensichtlich jedes Jahr ein bisschen früher.« Sein Gesichtsausdruck wechselte schlagartig, und er musterte Emma besorgt. »Wie geht es dir?« Er sah verlegen zu Boden. »Ich meine . wie fühlst du dich?«
Emma starrte auf die knisternden Holzscheite im Kamin. Ihm die Wahrheit zu sagen war unmöglich. Aber mit einer Lüge würde sie auch nicht durchkommen. Nicht bei ihrem Vater. Er würde sie sofort durchschauen.
»Mal so, mal so«, antwortete sie am Ende. »Wollen wir den Tisch decken?«
Ihr Vater nickte. Er wirkte fast erleichtert, nicht weiter über die seelische Verfassung seiner Tochter sprechen zu müssen. Und auch Emma war dankbar, dass sie das Thema vorläufig abgehakt hatten. Als sie im Flur an der Treppe ins Obergeschoss vorbeikamen, hörten sie Schritte. Dann kam Leo die Treppen heruntergestürmt.
»Tante Emma!«, schrie er und warf sich in ihre Arme. Es war reines Glück, dass sie nicht beide umfielen. »Ich wusste, dass du kommst. Mama hat gesagt, dass du es dir vielleicht noch anders überlegst, aber ich wusste einfach, dass das nicht stimmt.« Leo ließ Emma wieder los, aber bevor sie etwas sagen konnte, purzelten die Worte aus ihm heraus. »Warum kommst du uns nie besuchen? Hast du keine Lust mehr, mit uns zu spielen?«
Leo hatte recht, dass sie Besuche bei der Familie ihrer Schwester vermieden hatte. Aber das konnte sie einem Siebenjährigen nicht erklären, dessen Leben sich vor allem um seinen Computer und Fußball drehte.
»Natürlich habe ich immer noch Lust, mit euch zu spielen. Ich hatte nur so viel zu tun«, sagte sie. »Und heute Nachmittag backt ihr?«
Leo nickte, ließ sich jedoch nicht ablenken, sondern bohrte weiter. »Aber wenn du wieder mehr Zeit hast, dann kommst du uns ganz oft besuchen, ja? Und Weihnachten feierst du auch mit uns, oder? Mama hat zu Papa gesagt, dass sie nicht glaubt, dass du kommst.«
»Wir werden sehen .«
»Leo, kannst du Oma beim Essenmachen helfen? Ich glaube, sie braucht Hilfe mit dem Gemüse«, sagte Magda, die in diesem Moment die Treppe herunterkam.
Bevor Leo protestieren konnte, hörten sie Yvette schon aus der Küche rufen, dass sie sich sehr über seine Unterstützung freuen würde. Und er könne auch gleich das Tablett vom Servierwagen mitbringen. Emma spürte Tränen in ihren Augen brennen, als sie ihre Schwester mit den Zwillingen im Arm sah. In wenigen Wochen wurden sie ein Jahr alt, und sie waren unglaublich gewachsen, seit Emma die beiden das letzte Mal gesehen hatte. Clara trug ein hellblaues Kleidchen mit weißen Strumpfhosen und Oscar eine kurze Latzhose zu einem marineblauen Pullover. Mit großen Augen sah er Emma an, die seine dicke kleine Hand mit einem Finger streichelte. »Hallo, mein Kleiner«, sagte sie leise.
»Kannst du Oscar mal eben nehmen? Mein Rücken bringt mich um«, stöhnte Magda und hielt Emma den Jungen hin.
Unbeholfen nahm sie Oscar auf den Arm. Sie spürte den warmen kleinen Körper und schloss die Augen. Nahm ein paar tiefe Atemzüge, um sich zu beruhigen. Oscar reagierte verwirrt und sah zwischen Emma und Magda hin und her. Dann streckte er seiner Mutter die Arme entgegen.
»Er will lieber zu dir.«
»Sieht so aus. Na ja, mit dir hat das aber nichts zu tun. Er hat gerade eine sehr extreme Mamaphase.« Magda setzte Clara auf den Boden und nahm Oscar in den Arm. »Papa, kannst du bitte auf Clara aufpassen?«, sagte sie, woraufhin ihr Vater hinter dem kleinen Mädchen herjagte, das bereits in hoher Geschwindigkeit über die Orientteppiche davonkrabbelte. »Clara ist unmöglich, sie steckt sich alles in den Mund, was sie in die Finger bekommt.« Magda gab Oscar einen Kuss. »Du dagegen bist ein kleiner Angsthase, was?«
Emma begann, in ihrer Tasche zu kramen, um Magda und Oscar nicht beim Kuscheln zusehen zu müssen. Genau das war der Grund, warum sie ihre Schwester nicht besuchte. Sie ertrug dieses Familienglück nicht. Nicht, nachdem sie selbst alles verloren hatte. Emma versuchte, die dunklen Wolken aus ihrem Kopf zu vertreiben. Ihr Psychologe hatte ihr zwar gesagt, dass diese düsteren Gedanken ganz natürlich seien, aber ihr leider nicht verraten, wie lange sie sich mit ihnen herumschlagen müsste. Und fragen konnte sie ihn nicht mehr, weil sie die Therapie schon nach wenigen Sitzungen abgebrochen hatte.
Emma holte einen Hefter aus der Tasche. »Ich habe dir die Umsatzzahlen von dieser Woche mitgebracht, um die du mich gebeten hast«, sagte sie. »Obwohl ich nicht verstehe, warum du sie ausgerechnet jetzt haben willst.«
»Weil ich mir Sorgen mache, die letzten Wochen waren ja nicht so berauschend.« Magda griff nach dem Hefter und setzte dann Oscar ebenfalls auf den Boden. »Jetzt bleibst du mal einen Augenblick da unten«, sagte sie mit fester Stimme. Oscar klammerte sich an ihr Bein und wollte sie nicht loslassen. Emma ging in die Hocke und redete mit ihm, während Magda die Unterlagen studierte.
»Was machst du morgen?«
Emma sah hoch. »Ähm . ich habe noch was zu erledigen .«
Ihre Schwester sah sie über den Rand des Hefters an und hob eine Augenbraue. »Mit anderen Worten, du hast nichts Besonderes vor.«
Emma wollte etwas erwidern, aber Magda kam ihr zuvor. »Wir treffen uns um zehn Uhr im Laden und machen Inventur. Das ist dringend mal nötig.«
»Aber . das machen wir doch nie vor Weihnachten?«
»Stimmt, aber ich will mir einen Überblick verschaffen«, erwiderte Magda und tätschelte Emma an der Schulter. »Wenn wir uns ranhalten, schaffen wir das in ein paar Stunden.«
Emma wusste, dass Widerstand zwecklos war. Wenn sich Magda etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnten sie nur ganz wenige Dinge davon abbringen. Da...
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