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Eine einfache, eine ganz gewöhnliche Geschichte, sagt Helen Melzer, die ihren Sohn ans häusliche Krankenbett gerufen hat. Urs Faes folgt in Sommerwende behutsam den Erzählungen dieser alten Frau. Ihre Erinnerungen führen zurück in den Spätsommer 1941, als die Lebensträume der damals Achtzehnjährigen von zwei Ereignissen erschüttert und zerstört werden. Helens Mutter wird niedergestochen, und bald darauf werden die jüdischen Familien heimatlos gemacht. Darunter ist Simon Levy, der Geliebte von Helen. Zwei scheinbar zufällige Geschehnisse, die »ein und derselben Geschichte« zugehören, denn der Mörder und antisemitische Brandstifter Alfred König ist selbst nur ein Opfer, verhetzt und irregeleitet von einer jener schweizerischen Frontistenorganisationen, die mit dem nationalsozialistischen Deutschland paktierten.
Mit leiser, sein Thema einkreisender Sprache, der alles angestrengt Forcierte fremd ist, spiegelt der 1947 geborene Schweizer Autor Urs Faes in Sommerwende ein Stück brisanter Schweizer Geschichte in Lebensgeschichten - heute aktueller denn je.
Komm nach Hause, bitte.
Sie hatte nur diese Worte geschrieben, und darunter mit der etwas ungelenken Schrift einer alten Frau: Mutter.
Melzer hatte sich im Lauf der Jahre an Mutters Wohlbefinden gewöhnt. Ihr Ruf kam überraschend.
Melzer rief den Arzt an.
Der Befund klang wenig dramatisch. Eine Alterskrankheit, kaum gefährlich.
Der kurze Brief irritierte Melzer.
Er konnte nicht sagen, warum. Vielleicht wollte sie ihn auch bloß wieder einmal sehen.
Wer weiß das schon.
Melzer entschied sich zu fahren.
Das Haus: noch dieselben Gerüche im Korridor, ein Gemisch aus Öl, Leder und Fett, aus verrauchten Vorhängen und Schimmel, der sich als pelzige Haut über die feuchten Wände zog. Er setzte sich in den Schränken fest und war stärker als Putzmittel und Farbe.
Das Haus lag nah am Fluß, der Feuchte preisgegeben, Nebel und Regen; der Putz blätterte schon nach wenigen Jahren, wurde immer wieder notdürftig ausgebessert, verkam zum Flickteppich.
Eigenbau eben, dachte Melzer. Eher improvisiert denn bewußt geplant, das Material hatte kostengünstig sein müssen.
Ein eigenes Haus, unser Zuhause, hörte er Mutter sagen. Etwas schief duckte es sich hinter die Buchsbaumhecken - mehr Hütte als Haus, sagte Mutter. Aber das kümmerte sie nicht.
Die Nachricht erreichte Melzer im Ausland.
Sie hatten einander geschrieben, Mutter und er, nicht häufig, aber doch regelmäßig. Mutters Briefe waren immer kurz. Alltägliches teilte sie mit, einen Todesfall in der Nachbarschaft, oder sie erwähnte ein Buch, das ihr gefiel; vom Schnee schrieb sie, vom Frost und den ersten Krokussen im Frühling.
Selten ein Satz über sich selbst.
Wozu Aufhebens machen von unsereins, pflegte sie immer zu sagen und wischte mit den Händen so energisch durch die Luft, als wolle sie ein lästiges Insekt vertreiben.
Er fand sie hochgebettet im elterlichen Schlafzimmer. Sie hatte ausdrücklich abgelehnt, ins Spital zu gehen. Alle Versuche des Hausarztes und ihrer Schwester Clarissa, sie umzustimmen, verwarf sie mit dem störrischen Trotz ihres Alters; so ließ man ihr den Willen. Nun lag sie im Bett, in dem sie seit ihrer Heirat, von wenigen Nächten abgesehen, immer geschlafen hatte; auch während der schlimmsten Krankheitstage ihres Mannes, als sein Stöhnen sie längst nicht mehr schlafen ließ, harrte sie neben ihm aus. An ihrer Seite war er auch gestorben.
Auf die Frage nach ihrem Befinden ging sie nicht lange ein. Eine Krankheit eben, das wird sich geben, sagte sie, so leicht bin ich nicht unterzukriegen.
Sie lachte.
- Aber etwas muß ich dir noch erzählen.
Eigentlich habe sie es aufschreiben wollen.
Doch Schreiben war nicht ihre Sache. Das wußte Melzer. Ihre Briefe - sie hatte jeweils lange nach Worten suchen müssen und sich geschämt, ihm soviel Nichtssagendes zu berichten, so weit in die Welt hinaus.
Das sei nicht einmal das Porto wert.
Die Reise, sagte sie zögernd und erklärte plötzlich bestimmt: Von der Reise muß ich dir erzählen, mit meinen Schwestern, Clarissa und Myrtha.
Mutter schmunzelte.
- Was machst du nun für ein Gesicht.
Melzer staunte.
Geheimnisvoll hatte sich seine Mutter nie gegeben.
Zu dritt sind sie gefahren, damals, sogar Myrtha haben sie zur Reise überreden können. Sie hat zwar ständig Valium geschluckt und gejammert, aber mitgekommen ist sie.
Melzer blickte in die anbrechende Dämmerung hinaus, in die vom Herbstwind zerrauften Bäume und Sträucher; hoch ragte der Kamin der stillgelegten Fabrik in den bläulich verschwimmenden Horizont hinaus, wo das hügelige Land abflachte, in die Ebene des Tales sich ergoß. Ein kühler Wind strich um die Häuser, wirbelte Laub auf, kräuselte die hellen Pfützen in den Gartenwegen. Im nahen Fluß stand das Wasser noch immer hoch, war schmutzig braun und führte Aste und Laub mit sich. Dämmriges Grau über dem Tal, dessen bewaldete Hügel sich als schwarze Linien in der Ferne kreuzten. Mutter, in einem Nachbardorf aufgewachsen, hatte das Tal kaum je verlassen. Man schlägt halt Wurzeln, wo man aufgewachsen ist und seine Toten hat, sagte sie.
Wie schon in der Stadt hingen auch hier im Quartier überall Wahlplakate für die Parlamentswahlen; viel von Grün und Umwelt in den Parolen, aber auch vom Kampf gegen Überfremdung und Asylantenströme: Bewahrt die Eigenart unseres Landes.
Melzer folgte mit den Augen dem Weg, der hinaus in die Felder und zum Fluß führte, vorbei an den langen Reihen der Hasel- und Holunderbüsche; und weit draußen das Gehöft des Saumhofbauern, dem er als Kind bei der Heuernte geholfen hatte und beim Rübenschneiden im Herbst.
Vieles hatte sich verändert im Dorf.
In der Landschaft der Kindheit.
Vom Kirchturm schlug es sechs. Die Schläge waren ihm schon immer lang und schleppend vorgekommen.
Melzer wandte sich vom Fenster ab.
Still lag Mutters Gesicht im Kissen.
Geschlossene Augen.
Es sei ihr nicht recht, daß er ihretwegen die lange Reise habe auf sich nehmen müssen, begann Mutter.
Nicht die Krankheit war der Anlaß ihres Schreibens.
Reden wollte sie.
Eine kleine Beichte, sagte sie, wenn dir das nicht zu übertrieben klingt.
Ein Brief -
Sie erkannte die Schrift nicht gleich, nach so vielen Jahren - aber sie zitterte, als sie beim Lesen merkte, wer der Absender war: Alfred -
Ein Spätsommertag des Jahres 41 -
Noch völlig verstört durch die Nachricht von diesem gräßlichen Tod, dieser schlimmsten von allen Todesarten, geht sie langsam, widerstrebend, auf das Elternhaus zu, die Sonne in den Bäumen, trocken die Erde auf den Blumenbeeten vor dem Haus, dahinter die Felder, die in der Hitze zittern. Sie bleibt am Tor stehen und blickt nur auf den Garten, die Sträucher, die Hecken der Straße entlang, verfilztes Gestrüpp. Die Düfte des Gartens steigen ihr in die Nase; süßlich und schwer, eindringlich, die Düfte der Tollkirschenblüte, der Rosmarin- und Thymianblätter, körperlich beinah, ein dünnes Gewebe über diesen Garten ausgespannt. Gierig saugt sie diese Düfte ein, steht da, reglos, die Hände auf den Steinsockel des Gartentores gelegt, sie spürt die Kühle des leicht bröckligen Gemäuers auf den Handflächen, langsam schweifen ihre Blicke über den Garten hinweg zu den Fenstern des Hauses. Die Hängegeranien auf den Simsen schon fast blütenlos, beinahe bleich das Grün, matt glänzend in der Sonne; und unter dem Fenster die Holzbank, auf der die Eltern verweilten. Und immer eindringlicher, betäubender diese Spätsommergerüche, daran muß sie auch später immer zuerst denken.
Immer werden es diese Sommerdüfte sein, die über dem Tag stehen, sagte Mutter und richtete sich ein wenig in den Kissen auf. Auch beim Lesen von Alfreds Brief, schon nach wenigen Zeilen, dachte sie wieder an das Bild des Gartens an diesem Spätsommertag -
Ein Mädchen von achtzehn Jahren, das unschlüssig am Gartentor steht, zum Haus aufsieht, zu seinen Fenstern, dem Spalierobst, das die Fassaden überwächst. Und in der Ecke die Sommerlinde, schon leicht verfärbt die Blätter, ungeordnet, wild verwachsen die Zweige, in deren Schatten sie oft sitzt, liest oder einfach vor sich hinträumt.
Hingeträumt hat, damals.
Betäubt verharrt sie am Tor, alles sträubt sich in ihr, wendet sich gegen den einen Gedanken. Dieses Haus ist ein Totenhaus, in einem der Räume liegt der verstümmelte Leib der Mutter, schon erstarrt - und mit ihm alles, was ihr lieb gewesen ist.
Langsam öffnet sie das Gartentor, tastet sich mit den Händen die Sträucher entlang, spürt die leise Berührung des Laubs auf der Innenfläche der Hand. Mit jedem Schritt durch den Garten auf das Haus zu wächst die Angst, ein Zögern, ein Stocken geht durch ihre Glieder, als verklumpe sich etwas in ihr. Eine Schwere, die sie nie zuvor gekannt hat. Nicht einmal beim Tod ihres Vaters. Und ihr ist, als komme eine Verdüsterung über diesen Garten, ein dunkler Schleier, vermischt mit dem fauligen Geruch der Jauche, der vom Hof herüber dringt, ein säuerlich-bitterer Gestank; und noch einmal, nah der Haustür, blickt sie zurück in den Garten, flehend beinah, als müsse irgendeine Antwort aus diesen Hecken und Büschen kommen, müsse etwas sich regen in diesen Zweigen und Blättern. Doch nichts bewegt sich, nur das matte Spätsommerlicht, laubig gefiltert, mustert mit ausgefransten Schatten die Erde.
Sie wendet sich ab, drückt die Türklinke.
Ich bin ins Haus gegangen, sagte Mutter.
Sie setzte sich im Bett auf, öffnete die Schublade ihres Nachttischchens und klaubte einen Brief heraus. Sie legte ihn vor sich auf die Bettdecke, strich mit den Händen über das Papier, drückte die verkrümmten Ecken nach unten.
Sie hielt den Brief in den...
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