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Wenn es Gott gab, hatte er diesmal einen Fehler begangen. Dieser gotteslästerliche Gedanke stand allen sechs Tonnaroti ins Gesicht geschrieben, die sich in der Bar Peppe Vino e Cucina zu dieser späten Stunde eingefunden hatten, als hätte sie jemand gerufen, aber so war es nicht. Die Thunfischfänger waren aus eigenem Antrieb hergekommen, durch die dunkle Nacht, selbst auf die Gefahr hin, sich einen Fuß oder das Kreuzbein zu brechen. In der allgemeinen Fassungslosigkeit mussten sie miteinander reden und Trost suchen. Der Fehler war geschehen, der große Fehler, und es gab kein Mittel dagegen.
»Es gibt gegen alles ein Mittel«, sagte jedoch Nicola Valenti, hüllte sich enger in seine Wolljacke und strich sich über den Bart. Er war der Älteste von ihnen, und alle hörten auf ihn, ganz besonders an jenem unglückseligen Abend, als niemand wusste, wie es weitergehen sollte.
»Er ist ausgeblieben. Er hätte nicht ausbleiben dürfen, aber er ist ausgeblieben. Nach vierhundert Jahren. Was für ein Mittel soll es dagegen geben?«, wandte Saro Vitale ein, der zu jung war, um mit Don Nicola in diesem Ton zu sprechen, aber es war eben eine außergewöhnliche Nacht, und deshalb musste man ihm die Unhöflichkeit verzeihen, dachten alle.
»Raìs heiratet bestimmt nicht noch einmal, und seine Tochter, wie alt ist seine Tochter? Zweiundvierzig, dreiundvierzig, also ist das heute Abend schon ein Wunder gewesen«, fuhr Saro Vitale fort, dann schüttete er ein ganzes Glas Wein auf einmal in sich hinein; noch nie in seinem Leben hatte er so lange am Stück geredet und musste sich deshalb erst mal davon erholen.
»Dann wird man wohl Martoranas Sohn nehmen«, platzte Agatino Spanò heraus, der immer laut aussprach, was er dachte, und es hinterher immer bereute.
»Und warum den Sohn von Martorana und nicht meinen?«, wollte Michele Santangelo wissen, der nie zurückstand, wenn er auch nur entfernt eine Möglichkeit witterte, mit jemandem zu streiten.
»Weil dein Sohn ein Trottel ist«, blaffte Toni Spagnolo, der von Natur aus ruppig war und sich nie ändern würde.
»Jetzt mal ruhig, ihr beiden, so kommen wir zu keiner Lösung«, sagte Nicola Valenti und erstickte den Streit schon im Entstehen. »Es muss jemand von seinem Blut sein.«
»Also der Fehler ist da«, erwiderte Tommaso Martinez, »diesmal hat sogar der Herr einen Fehler gemacht.«
Bei diesen Worten, die gefährlich an Blasphemie grenzten, legte sich Stille über den Raum. Die Fischer schwiegen eine Weile nachdenklich, mit gesenkten Köpfen, die Augen auf ihre Gläser und gleichermaßen auf die tragischen Aussichten einer trüben Zukunft gerichtet.
Es war ein Fehler, und zwar ein gewaltiger. Welchen Grund hatte Gott, sie so zu strafen? Schon Monate vor der Geburt hatten ihre Frauen so viele Kerzen angezündet, dass die Kirche taghell erleuchtet war, und so viele Rosenkränze gebetet, dass man daraus, hätte man sie aneinandergereiht, ein ganzes Netz für den Schwertfischfang hätte machen können. Und sie selbst hatten, wie Modegecken elegant in Samt gekleidet, die Trage mit der Statue des Allerheiligsten Gekreuzigten auf den Schultern die Stufen hoch- und runtergetragen, durch alle Gassen, dass ihre Rücken krumm wurden, und der Pfarrei drei riesige Thunfische geschenkt. Deshalb konnte der Herr nicht zornig auf sie sein. Und so war es bestimmt kein böser Wille gewesen, sondern ein Fehler. Plötzlich riss Don Nicola mit großer Geste sein Glas hoch.
»Trinken wir auf diese Geburt, auf die wir alle gewartet haben. Trinken wir darauf!«
Nach einem ersten Moment der Unsicherheit wurden weitere Gläser erhoben. Darauf schloss sich Peppe Vino e Cucina eilig dem allgemeinen Trinkspruch an.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Don Nicola mit einem Blick durch den Raum, der demjenigen, der ihm zu widersprechen wagte, alles Unglück der Welt verhieß.
»Herzlichen Glückwunsch«, wiederholte er noch einmal feierlich, »auch wenn es ein Mädchen ist.«
Die Nachricht brach noch vor der Morgendämmerung über das Dorf herein. Sie senkte sich von oben darauf herab wie ein göttlicher Fluch, der sie alle bedrohte und jedem durch Mark und Bein bis ins Herz fuhr. »Er ist ausgeblieben«, hieß es am Hafen, auf den Booten, im Postamt, im Tabakladen und beim Sechs-Uhr-Rosenkranz. »Er ist ausgeblieben, diesmal ist er ausgeblieben«, hallte es von den Felsen, durch den Wind und die Wellen und sogar bis zu den Kieseln am Strand. »Er ist ausgeblieben«, raunte man überall auf der Insel mit einem Hauch von Bitterkeit und Unsicherheit, denn selbst wenn niemand Schuld daran hatte, trugen sie doch alle den Schaden davon.
»Der Herr ist gnädig, aber denkt daran, Aberglauben ist eine Todsünde!«, sagte Don Cosimo, der Pfarrer der Kirche Santissimo Crocifisso, in seiner Hilflosigkeit gegenüber den bestürzten Gesichtern der Fischer, die zu ihm in die Kirche gelaufen kamen wie noch nie zuvor. Man verlangte nach einer Erklärung, suchte seinen Rat, und so hatte die Geburt von Eleonora Greco wenigstens etwas Gutes.
Eleonora war ein nicht eingelöstes Versprechen; sie war das Kind, das als Junge zur Welt hätte kommen sollen, und das war ihr nicht gelungen. Eleonora war ein lebender Vorwurf; sie war das Kind, das man trotzdem lieben musste, aber das fiel nicht leicht. Eleonora war eine Mogelpackung; sie war das Kind, das sich an die Stelle eines anderen geschoben und das niemand gerufen hatte. In jener Februarnacht, in der sie geboren wurde, hatten die Tonnaroti erkannt, dass selbst Gott nicht unfehlbar war, an Eleonora klebte der Fluch der Insel, und niemand konnte etwas dagegen tun. Die Mutter Maria Lombardo, verehelichte Greco, hatte vor ihr bereits zwei Töchter bekommen. Die erste hatte man noch mit allgemeinem Wohlwollen begrüßt, schließlich blieb ja noch reichlich Zeit, die zweite schon mit Misstrauen, denn allmählich eilte es doch, und von da an wartete die gesamte Insel Katria jahrelang gespannt darauf, dass Maria Lombardo ein weiteres Mal schwanger würde. Jeder ihrer Stimmungswechsel wurde beobachtet, die Größe ihrer Brüste und die Breite ihrer Hüften wurden taxiert und Kerzen vor jedem Heiligen angezündet, auch vor solchen, die nicht für Empfängnis und Geschlecht eines Kindes zuständig waren, bis endlich die erlösende Nachricht die Runde machte, dass das Wunder geschehen sei, ganz sicher ein doppeltes, schließlich war Maria Lombardo schon zweiundvierzig, und, da Gott in Sachen Wunder bekanntlich keine halben Sachen machte, es diesmal ein Junge werden musste. Aber es kam anders.
Die Tochter des Raìs ließ zwei Monate ins Land gehen, ehe sie Eleonora taufen ließ, als könne man mit dem Aufschieben der Zeremonie auch das endgültige Eingeständnis der Niederlage hinauszögern.
»Für einen Jungen ist es jetzt zu spät«, sagte sie immer wieder zu den Verwandten, den Nachbarinnen, den Frauen der Insel, als ob sie durch unablässige Selbstbezichtigung wenigstens einen Teil ihrer Schuld abbüßen könnte. Die Frauen trösteten sie zwar, aber tief im Innern vermochten sie Maria nicht zu verzeihen, dass sie Unheil über ganz Katria brachte, indem sie ein Kind in die Welt gesetzt hatte, das ein für alle Mal ein Mädchen war. Als der Pfarrer ihr sagte, man müsse jetzt aber endlich eine Christin aus diesem Kind machen, denn Aberglauben mochte man ja noch hinnehmen, aber keine Heidenkinder, wurde als Patin eine ledige alte Cousine gewählt, die nicht mehr ganz richtig im Kopf war, anstelle des Raìs, dem eigentlich vorgesehenen Paten, wäre Eleonora ein Junge geworden. Dem gesamten Dorf blieb daher der Mund offen stehen, als Andrea Lombardo an jenem Tag im Sonntagsstaat die Kirche betrat, seiner dritten Enkeltochter das Kettchen mit dem goldenen Madonnenbildnis um den Hals legte und die gesamte Familie zum Festschmaus ins Peppe Vino e Cucina einlud, ganz so, wie es seine Pflicht als Taufpate gewesen wäre. Während an der Tafel das Körbchen mit dem rosa Taufkonfekt herumging, wandte er sich an seine Tochter, und zwar so laut, dass alle Anwesenden ihn hören mussten.
»Sobald das Kind keine Mutter mehr braucht, bring es zu mir, wie es beschlossen ist.«
»Ich soll es zu dir bringen? Aber es ist doch ein Mädchen.« Der Raìs von Katria sah daraufhin seine Tochter an, seine einzige, schöne und innig geliebte Tochter, die sich für einen Quell ewiger Enttäuschungen hielt, weil sie selbst eine Frau war und ihm zudem nur drei Mädchen geboren hatte, und verkündete: »Es steht fest, dass der Raìs von unserem Blut sein muss, aber dass es keine Frau sein darf, hat niemand gesagt.«
Dank Peppes geschwätziger Frau, die ebenso verblüfft war wie alle anderen Anwesenden, machten die Worte des Raìs bereits eine Stunde später die Runde. Keiner wagte, sich dazu zu äußern,...
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