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Vorsichtig verlagerte Vespasian sein Gewicht auf den linken Fuß. Er versuchte, möglichst leise über den Waldboden zu gehen, der von welkem Laub, Zweigen und Schneeflecken übersät war. Mehrere Dutzend Schritte hatte er schon nahezu geräuschlos zurückgelegt. Die ausgeatmete Luft verdampfte vor seinem Gesicht, und nach der langen Hetzjagd pochte sein Herz rasend schnell. Er war allein. Seine beiden Jagdgehilfen, zwei Sklaven, die er sich aus den königlichen Ställen ausgeliehen hatte, hatte er zurückgelassen. Sie sollten mit den Pferden langsam folgen, während er dem waidwunden Hirsch zu Fuß nachsetzte. Er hatte ihn mit einem Pfeil am Hals getroffen und eine Wunde geschlagen, die heftig blutete. An den frischen Spuren erkannte er, dass er dem geschwächten Tier sehr nahe war. Er legte einen Pfeil auf, spannte den Bogen und spürte die Befiederung des Pfeils an der Wange. Kaum wagte er zu atmen, pirschte weiter und spähte durch die Lücken der Bäume auf der Suche nach der lohgrauen Beute inmitten der erdbraunen und rostroten Farben des Winterwalds.
Eine kleine Bewegung am rechten Blickfeldrand ließ ihn erstarren. Er hielt die Luft an und wandte sich der Stelle zu, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Knapp zwanzig Schritt entfernt, halb verdeckt vom Dickicht, stand der Hirsch, bewegungslos und mit blutverschmiertem Widerrist, den Blick klagend auf seinen Jäger gerichtet. Als Vespasian sein Ziel ins Auge fasste, sackte das Tier in sich zusammen. Vespasian fluchte, verärgert darüber, um den genugtuenden Todesstoß betrogen worden zu sein. Es kam ihm wie ein Gleichnis für die vergangenen dreieinhalb Jahre vor, die er in Ausübung seiner Garnisonspflichten in Thrakien seit der Niederschlagung des Aufstands hatte zubringen müssen. Bislang war jede Aussicht auf ein Gefecht im Sande verlaufen; stets war er frustriert ins Lager zurückgekehrt, das Schwert ohne Blut, aber die Füße wund von der Jagd auf ein paar Banditen. Die bittere Wahrheit war, dass im römischen Klientelkönigreich Thrakien Frieden herrschte und er sich langweilte.
Anfangs, im ersten Jahr, hatte er noch durchaus interessante Tage erlebt. Nachdem die Rebellen vernichtend geschlagen waren, hatte sich Pomponius Labeo mit der Legio V Macedonica, einem Großteil der IIII Scythica und den Alae der Kavallerie samt Hilfskohorten auf den Rückmarsch zu ihrem Stützpunkt an den Danuvius in Moesien gemacht. Publius Iunius Caesennius Paetus, der Präfekt der illyrischen Kavalleriekohorte, war als Kommandant der Garnison zurückgeblieben. Vespasian hatte nominell den Oberbefehl über die zwei restlichen Kohorten der Legio IIII Scythica, die zweite und fünfte, war aber de facto dem Centurio Lucius Caelus, dem amtierenden Präfekten des Lagers, unterstellt. Der tolerierte ihn zwar, ließ aber keinen Zweifel daran, was er von jungen Aufsteigern hielt, die ihre Führungsposition einzig und allein ihrer gesellschaftlichen Stellung verdankten.
Immerhin hatte Vespasian einiges von Caelus und den anderen Centurien gelernt, die ihre Männer mit Manövern auf dem Feld, mit dem Bau von Straßen und Brücken und mit der Wartung ihrer Ausrüstung und des Lagers beschäftigten. Aber das waren Pflichten in Friedenszeiten, und nach einer Weile war er ihrer überdrüssig. Er sehnte sich nach dem Kitzel des Kriegs, den er bislang allzu selten erfahren hatte, nur in den ersten zwei Monaten seines Aufenthalts in Thrakien. Doch der Krieg kam nicht zurück, allenfalls als schaler Vorgeschmack in Form endloser Paraden und militärischen Drills.
Häufiger als es seinem Bauchumfang guttat, musste er im Palast an Festgelagen mit Königin Tryphaina und verschiedenen regionalen oder aus Rom angereisten Würdenträgern teilnehmen. Seine Versuche, der Königin oder ihren Gästen Neuigkeiten aus Rom zu entlocken, fruchteten kaum - selbst in der Ferne zögerte man, seiner Meinung frei Ausdruck zu verleihen oder auch nur anzudeuten, wie angespannt die Lage in der Stadt war. Seianus war immer noch Prätorianerpräfekt und ein Günstling Tiberius', der sich offenbar in seinem selbst gewählten Exil auf der Insel Capreae eingerichtet hatte. Wie es seiner Herrin Antonia in ihrem politischen Streit mit Seianus um die legitime Herrschaft über Rom erging, wusste er nicht. Schon so lange abgestellt im Hinterhof der Macht, kam sich Vespasian vor wie eine vergessene Figur am Rand des Spielfelds. Er sehnte sich nach Rom zurück, wo er Antonia wieder dienen und mit ihrer Hilfe weiter Karriere machen könnte. Hier gab es für ihn nur Stillstand.
Das einzig Gute seiner Zeit in Thrakien war, dass er nun fließend Griechisch sprach, die Lingua franca des Ostens. Auch den thrakischen Dialekt beherrschte er inzwischen. Nicht aus Neigung hatte er ihn erlernt, sondern weil es von ihm verlangt worden war. Vergnügen bereitete ihm nur noch die Jagd, doch auch die hatte, wie an diesem Morgen, ihre Tiefpunkte.
Gereizt wie er war, schoss Vespasian einen Pfeil auf das leblos am Boden liegende Reh. Der durchbohrte seinen Hals und nagelte es am Waldboden fest. Sogleich aber bereute er, seiner Wut freien Lauf gelassen und keinen Respekt gegenüber dem Tier gezeigt zu haben, das ihm so tapfer widerstanden hatte. Er drang durch das Dickicht zu seiner Beute vor, murmelte ein an Diana, die Jagdgöttin, gerichtetes Dankgebet, zückte sein Messer und machte sich daran, den noch warmen Körper auszuweiden. Es tröstete ihn der Gedanke, dass seine vierjährige Militärzeit endlich vorbei war. Der März ging zu Ende, und die Schifffahrtslinien würden nach dem Winter ihren Betrieb wieder aufnehmen. Bald käme Ersatz für ihn an. Er würde nach Rom zurückkehren mit der Aussicht auf Beförderung in den Rang eines Magistratus Minores; er würde vielleicht das Amt eines Vigintivir bekleiden und, was ihn besonders freute, Antonias Sekretärin Caenis endlich wiedersehen. Während er mit der Klinge die Decke des Hirschs aufbrach, hatte er ihr Bildnis vor Augen, ihre vollen, feuchten Lippen und die strahlend blauen Augen, die, als sie ihm Lebewohl gesagt hatte, voller Liebe gewesen waren, ihren schlanken Körper, im schwachen Licht einer einzigen Öllampe, nackt in der ersten und einzigen Nacht, in der sie miteinander geschlafen hatten. Er wollte sie wieder in die Arme schließen, ihren Duft in sich aufsaugen und sie ganz für sich haben. Aber wie sollte das möglich sein? Sie war Sklavin und konnte dem Gesetz nach frühestens im Alter von dreißig Jahren freigelassen werden. Ohne seine Arbeit am Kadaver zu unterbrechen, sann er über die Vergeblichkeit dessen, was ihn erwartete, nach. Selbst wenn sie frei wäre, könnte er sie nicht heiraten, wie er es sich als Sechzehnjähriger in seiner Naivität erträumt hatte. Für einen Mann in seiner Position und mit seinen Ambitionen war es ausgeschlossen, eine Freigelassene zur Frau zu nehmen. Sie konnte allenfalls seine Konkubine sein, aber was würde sie davon halten? Nun, sie müsste sich damit abfinden, beschloss er und schabte das restliche Gekröse aus der Bauchhöhle.
«Ich hätte in der Zeit, die ich hier nun schon herumsitze, gut und gern ein Dutzend Pfeile auf Euch abschießen können.»
Vespasian fuhr herum und schnitt sich dabei mit dem Messer in den Daumen. In zwanzig Schritt Entfernung thronte Magnus grinsend auf seinem Pferd und hielt seinen Jagdbogen auf ihn gerichtet.
«Beim Hades, hast du mich erschreckt», rief Vespasian und schüttelte die verletzte Hand.
«Schlimmer würde es Euch jetzt ergehen, wenn ich ein thrakischer Rebell wäre und Euch einen Pfeil in den Hintern verpasst hätte.»
«Na ja, bist du aber nicht und hast es auch nicht getan», erwiderte Vespasian und lutschte an seinem Daumen, auf dem sich sein Blut mit dem des Hirsches mischte. «Wie kommst du überhaupt dazu, dich hinterrücks anzuschleichen?»
«Ich habe mich nicht angeschlichen, im Gegenteil, ich habe so viel Lärm gemacht wie eine Centurie von Rekruten, die sich von ihren Müttern verabschieden.» Magnus senkte den Bogen. «Ihr wart offenbar ganz und gar in Eurer eigenen Welt versunken und habt mich nicht bemerkt. Verdammt gefährlich ist das, wenn ich Euch darauf aufmerksam machen darf.»
«Ja, ich weiß, dumm von mir. Aber mir geht so einiges durch den Kopf», gestand Vespasian und erhob sich.
«Bald wird Euch noch mehr durch den Kopf gehen.»
«Wieso?»
«Ihr habt Besuch. Heute Vormittag ist Euer Bruder in der Garnison angekommen.»
«Was?»
«Was ich sage.»
«Sabinus? Was will er hier?»
«Das würdet Ihr wohl gern wissen? Vermutlich ist er den weiten Weg nicht gekommen, um sich nett mit dem Brüderchen zu unterhalten. Er hat mir aufgetragen, nach Euch zu suchen und Euch so schnell wie möglich ins Lager zu bringen. Also los. Wo ist Euer Pferd?»
Als die Jagdgehilfen eingetroffen waren und die Beute auf sein Pferd gebunden hatten, war es schon weit nach Mittag. Dichte Wolken sorgten für eine frühe Dämmerung im Wald, und sie waren gezwungen, die Pferde am Zaumzeug zu führen, um im Dunkeln nicht zu stürzen. Vespasian ging an Magnus' Seite und fragte sich, was seinen Bruder bewogen haben mochte, Hunderte von Meilen zurückzulegen, um mit ihm zu sprechen. Ihm schwante Schlimmes. Vor zwei Jahren hatte sein Vater geschrieben und ihn von dem nicht unerwarteten Tod seiner geliebten Großmutter Tertulla unterrichtet. Immer noch schmerzte es ihn, wenn er daran dachte, wie sie wohl ihren letzten Trunk aus dem silbernen Becher genommen hatte, der ihr lieb und teuer gewesen war.
Es musste wohl ein Elternteil gestorben sein, dachte er und hoffte, dass es nicht der Vater war. «Was für einen Eindruck macht er auf dich, Magnus? Ist...
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