Schweitzer Fachinformationen
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Da muss ich also wieder einmal Bürodienst versehen und die Geschäftsbücher durchgehen, während der Boss, mein Bwana, mit der ganzen Familie ausgegangen ist, um auf irgendeiner schicken Party in der Nachbarschaft die Rum-Cola-Gläser klirren zu lassen und den Schwabbelhintern zu schwenken. Früher hoffte ich immer, der Heilige Voodoo-Abend wäre der eine Tag im Jahr, an dem wir Versklavte auch freibekommen würden - aber weit gefehlt, es läuft alles wie gehabt.
Draußen vor dem Fenster sind die Palmen zu beiden Seiten der breiten Straße mit Girlanden in Gold und Silber geschmückt. Es sind hohe, schlanke Bäume mit der hochnäsigen Haltung jener, die von klein auf die kostbare Kokosmilch auf dem Kopf balancieren, und an ihren glänzend grünen Wedeln baumeln flackernde Öllichter in rot bemalten Kalebassen.
Die Reste des gestrigen Sandsturms wurden sorgfältig vom Kopfsteinpflaster gefegt, die Händler mit ihren Imbissangeboten bis auf Weiteres fortgejagt.
Frösche und Grillen sorgen für einen berauschenden nächtlichen Chor, zu dessen Klängen ein Kamelwagen nach dem anderen stinkreiche Partygäste vor den benachbarten Compounds absetzt. Die Männer tragen alle farbenprächtige Kaftane, und ihre glamourösen, beleibten Frauen tun ihr Bestes, einander mit pfauenfederbedruckten Turbanen zu übertrumpfen, die sie zu den ausgefallensten femininen Schleifen gebunden haben.
Sämtliche Häuser wurden frisch geweißelt, auf den Buntglasscheiben sind Abbilder der Götter zu sehen: Oshan, Shangira, Yemonja. Vor den Veranden halten steinerne Sphingen Wacht, die Eingänge sind von Fackeln auf hohen Marmorsockeln gesäumt, deren Flammen wie schlüpfrig-bläuliche Finger nach der klebrigen Nachtluft fassen.
Aus den Obergeschossen dröhnen die fiebrigen Elektrobeats der Jugend, aus den unteren dringen die weichen Klänge der Marimba durch das Gelächter und Geplauder von Menschen, die allen Grund dazu haben, das Fest der Liebe auch zu feiern, denn sie alle leben als freie Männer und freie Frauen mitten in der Gegend mit den höchsten Immobilienpreisen der uns bekannten Welt: Mayfah.
Mein eben erwähnter Bwana ist Chief Kaga Konata Katamba I. Sein Vermögen hat er im Bereich Import-Export gemacht, im berüchtigten transatlantischen Sklavenhandel, und sich schließlich ganz dem Leben in der besseren Gesellschaft verschrieben, als dauerabwesender Zuckermagnat, Teilzeitgatte, Freizeitvater, anständiger Mensch außer Dienst und, nicht zu vergessen, völlig verheerte Seele.
Außerdem ist mein Boss Vollzeitgegner des Abolitionismus und verbreitet in seinem persönlichen Sprachrohr Die Flamme - einer Flugschrift, die landauf, landab in Umlauf ist - kostenfreie Tiraden zugunsten der Sklaverei.
Trotz aller Abneigung blätterte ich gerade in der neuesten Ausgabe dieses Machwerks und spürte schon, wie sich mein Magen zusammenkrampfte und mir die Kehle eng wurde, da schob auf einmal eine Hand einen zusammengefalteten Brief durch das offene Bürofenster und war sofort wieder verschwunden, bevor ich erkennen konnte, zu wem sie gehörte.
Ich faltete den Brief auf, las die magischen Worte und meinte mit einem Mal, im eigenen Kopf zu ertrinken.
Wellen krachten und donnerten durch meinen Schädel.
Ich stieß den gewaltigsten aller stummen Schreie aus.
Dann verlor ich das Bewusstsein.
Wie lange, weiß ich selbst nicht, ein paar Minuten vielleicht, aber als ich wieder zu mir kam, saß ich noch immer auf meinem Stuhl, mein Kopf war nach vorn gesackt, und ich hielt den Brief in der Hand.
Durch einen wässrigen Schleier las ich ihn erneut.
Es stimmte, es war Wirklichkeit - ich sollte die Möglichkeit zur Flucht erhalten.
Großer Gott.
Nach so vielen Jahren auf der Warteliste hielt ich das in der Hand, was ich mir am sehnlichsten wünschte. Und trotzdem kam es plötzlich viel zu schnell. Ich saß da wie erstarrt. Meine Gedanken rasten vor tausend Wenns und Abers. Wenn ich versuchte, mein Leben seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückzugeben - nämlich mir selbst -, musste ich es auch aufs Spiel setzen. Und wenn ich unvorsichtig war oder Pech hatte, endete ich womöglich am örtlichen Schandpfahl oder auf dem Henkersblock.
Dann meldete sich mein Überlebenswille.
Mein Kopf klarte auf.
Ich war wieder ganz da.
Zerriss den Brief in winzige Fetzen.
Stand auf und wandte mich der Holzmaske mit den Zügen des Bwana an der Wand zu.
Und zeigte ihm hochherrschaftlich-vornehm den Mittelfinger.
Der Brief teilte mir mit, dass die Underground Railroad nach zwischenzeitlicher Unterbrechung aufgrund eines entgleisten Zugs den Dienst wieder aufgenommen habe. So etwas kam recht häufig vor, wenn es nicht gelang, genügend Triebkraft vom städtischen Versorgungswerk abzuzweigen, oder wenn ein Fahrzeug unter der Last zu vieler flüchtiger Versklavter zusammenbrach, die auf der langen Reise heim ins Mutterland eine sichere Fahrt aus der Stadt hinaus ergattern wollten.
Ich konnte nur hoffen, dass die Nachricht auch vertrauenswürdig war, denn die Widerstandsbewegung wurde nur allzu oft von Schläfern unterlaufen, die unvermittelt ganze Zellen von Aufständischen verrieten.
Tief im Innern war mir klar, dass jene, die mit Versklavten Handel trieben, diese Geldquelle niemals aufgeben würden. Schließlich handelte es sich dabei um den lukrativsten internationalen Wirtschaftszweig aller Zeiten, der nicht zuletzt groß angelegte Menschentransporte umfasste: Millionen von uns Waißen wurden vom Kontinent Europa auf die sogenannten Westjapanischen Inseln verschifft, die so genannt wurden, weil der ach so große Entdecker und Abenteurer Chinua Chikwuemeka sie auf seiner Suche nach einem neuen Seeweg nach Asien gefunden und geglaubt hatte, er sei auf den sagenumwobenen Inselstaat Japan gestoßen.
Da saß ich nun also, im Vereinigten Königreich von Großambossanien (VK oder GA sind die gängigen Abkürzungen), das zum Kontinent Aphrika gehört. Das Festland liegt gleich jenseits des Ambossa-Kanals und ist auch als Sonniger Kontinent bekannt, weil es hier immer so brüllend heiß ist.
Großambossanien selbst ist im Grunde nur eine nicht sonderlich große Insel, die eine ständig wachsende Bevölkerung zu ernähren hat, ihre gierigen Langfinger deshalb über den ganzen Erdball streckt und sich komplette Länder und Bevölkerungen zusammenraubt.
Einschließlich mir. Ich gehörte zu den Geraubten.
Darum war ich hier.
Die Nachricht ließ mir nur eine Stunde Zeit, um zum stillgelegten Bahnhof Paddinto zu kommen, und enthielt genaue Anweisungen, wo ich im Gestrüpp das Einstiegsloch finden würde, durch das ich unbemerkt in den U-Bahn-Schacht hinunterkäme. Dort würde mich ein Mitglied des Widerstands erwarten und mich durch die nasskalten unterirdischen Tunnel führen. So wurde es mir versprochen und hoffentlich nicht gebrochen, denn sonst wäre es aus mit mir.
Das versklavte Leben hatte mich gelehrt, dass kein Versprechen je mit einer Geld-zurück-Garantie kam und eine Beschwerde beim Kundenservice bloß eine Meldung bei der Geschäftsführung zur Folge hatte, und wenn das geschah, bekam man so richtig eins aufs Dach.
Trotzdem glaube ich fest an die Hoffnung. Schließlich bin ich ja noch am Leben.
Die Untergrundbahnen der Stadt Londolo hatten vor vielen Jahren offiziell den Betrieb eingestellt, weil immer mehr Tunnel unter dem Gewicht der oberirdischen Gebäude einstürzten. Seither griff die Stadt wieder auf langsamere, dafür aber deutlich zuverlässigere Transportmittel zurück: Pferdewagen und -karren, Kamele, Elefanten, Postkutschen und, für besonders versessene Fitnessfanatiker, Velozipede. Das einzige Fortbewegungsmittel, das uns Versklavten zur Verfügung stand, war bekannt unter dem Namen Schusters Rappen.
Aber eines Tages hatte irgendein heller Kopf in der Widerstandsbewegung den Geistesblitz, die stillgelegte U-Bahn wieder zu nutzen, und ermöglichte damit vielen von uns, aus der schwer bewachten Stadt Londolo heraus bis zu den Docks zu gelangen, von wo aus die lange, gefahrvolle Reise zurück nach Europa angetreten werden konnte.
Zum ersten Mal, seit ich fortgeholt worden war, konnte ich mir ernsthaft den Gedanken erlauben, vielleicht nach Hause zurückzukehren. War das überhaupt möglich? Ich hatte noch so lebhafte Erinnerungen an meine Eltern, an meine drei Schwestern, an unser kleines Steinhaus auf dem Anwesen und an Rory, meinen geliebten Cockerspaniel. Aber falls meine Familie den Überfall der Männer aus den Borderlands, die mich seinerzeit entführt hatten, lebend überstanden haben sollte, waren sie inzwischen wahrscheinlich längst alle tot.
Hier in Großambossanien unterteilten sie uns in »Stämme«, dabei waren wir viele verschiedene Nationen mit jeweils eigener Sprache und überlieferten Sitten und Gebräuchen, wie beispielsweise in den Borderlands, wo alle Männer karierte Röcke und darunter keine Unterwäsche trugen.
Hier in Großambossanien nannten sie Europa auch den Grauen Kontinent, weil der Himmel dort immer wolkenverhangen ist.
Aber ach, wie sehnte ich mich nach diesem grauen Himmel.
Nach dem unablässigen Nieselregen und dem rauen Wind, der mir um die Ohren brauste.
Nach meiner mollig warmen wollenen Winterwäsche und den robusten Holzpantinen.
Nach Mams saftigen Sandwiches und ihrer sämigen Kürbisbrühe.
Nach dem knisternden Feuer im Kamin und den Liedern, die wir dort alle zusammen sangen.
Wie sehnte ich mich nach der Gegend im äußersten Norden, aus der ich fortgeholt worden war.
Wie sehnte ich mich nach England.
Wie sehnte ich mich nach zu Hause.
Ich kann voller Stolz verkünden, dass...
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