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Manchmal wacht man morgens auf und weiß genau, dass der Tag unter keinem guten Stern steht. Keine Zahnpasta mehr in der Tube, kein Klopapier auf der Rolle, das heiße Wasser wird beim Duschen plötzlich eiskalt, und jemand hat dir zu allem Überfluss auch noch einen Affen vor die Wohnungstür gesetzt.
Mein Name ist Stephanie Plum, und ich arbeite als Kopfgeldjägerin für das Kautionsbüro Vincent Plum. Ich wohne in einem kleinen, nichtssagenden Apartment in einem dreistöckigen Backsteinbau am Rande von Trenton, New Jersey. Normalerweise lebe ich hier nur in Gesellschaft meines Hamsters Rex, aber an diesem Morgen um acht Uhr dreißig bekam ich einen weiteren Mitbewohner - Carl, den Affen. Ich öffnete die Wohnungstür, um zur Arbeit zu gehen, und da hockte er. Ein kleiner brauner Affe mit einem langen, geringelten Schwanz, gruseligen kleinen Affenfingern und Affenzehen und irren, glänzenden Affenaugen. Er war mit einer Leine an meinen Türknauf festgebunden. An seinem Halsband steckte ein Zettel.
HI! ERINNERST DU DICH AN MICH? ICH BIN CARL UND GEHÖRE SUSAN STITCH. SUSAN IST AUF HOCHZEITSREISE, UND SIE WEISS, DASS DU DICH GUT UM MICH KÜMMERN WIRST, BIS SIE ZURÜCKKOMMT.
Erstens wollte ich nie einen Affen haben. Zweitens kenne ich Susan Stitch kaum. Drittens, was zum Teufel sollte ich mit dem kleinen Scheißer anfangen?
Zwanzig Minuten später parkte ich meinen Jeep Wrangler vor dem Kautionsbüro in der Hamilton Avenue. Der Wrangler war früher einmal rot gewesen, aber er hatte schon einiges hinter sich, als er mir in die Hände fiel, und jetzt war er mehrfarbig und auch sonst nicht mehr im besten Zustand.
Carl stieg mit mir aus dem Wagen und folgte mir in das Büro, wobei er sich wie ein zweijähriges Kind an mein Hosenbein klammerte. Connie Rosolli, die Büroleiterin, spähte hinter ihrem Computer hervor. Connie trug eine wilde Lockenmähne wie jedes echte Jersey-Girl, ihre Oberlippe war frisch gewachst, und ihre Brüste waren unbezahlbar.
Lula unterbrach ihre Ablagearbeit und stemmte die Hände in die Hüften. »Hoffentlich ist das nicht, wofür ich es halte«, sagte sie mit einem Blick auf Carl. »Ich kann Affen nicht ausstehen. Du weißt, dass ich Affen hasse.«
»Das ist Carl«, erklärte ich. »Erinnerst du dich noch an Susan Stitch? Wir haben sie uns geschnappt, weil sie nicht vor Gericht erschienen ist. Und erinnerst du dich noch an ihren Affen Carl?«
»Ja, und?«
»Das ist er.«
»Was tut der Affe bei dir?«
»Er war an meinem Türknauf angeleint gewesen. Susan hat noch einen kleinen Zettel drangehängt. Sie ist in die Flitterwochen gefahren und hat ihn bei mir gelassen.«
»Die Frau hat Nerven«, empörte sich Lula. »Wo wird er sein Geschäft machen? Hast du daran schon gedacht?«
Ich sah zu Carl hinunter. »Nun?«
Carl blinzelte und zuckte die Schultern. Er sah zuerst Lula und dann Connie an, zog seine Lippen zurück und schenkte ihnen ein Affengrinsen, bei dem er sein Zahnfleisch entblößte.
»Es gefällt mir nicht, wie er mich anglotzt«, meinte Lula. »Das ist irgendwie unheimlich. Was für eine Affenart ist das überhaupt?«
Lula ist früher mal auf den Strich gegangen, und sie hatte ihre Garderobe ihrem neuen Job nur geringfügig angepasst. Lula gelingt es irgendwie immer, auf wundersame Weise ihren Plusgröße-Körper in Klamotten für zierliche Frauen zu zwängen. In dieser Woche war ihr Haar blond, ihre Haut war braun wie immer, ihr Schlauchkleid aus Lycra giftgrün, und ihre Stöckelschuhe von Via Spiga mit den zehn Zentimeter hohen Absätzen trugen ein Leopardenmuster. Es überraschte mich nicht, dass der Affe Lula anstarrte. Alle starrten Lula an.
Ich erregte in meiner Jeans, dem biederen roten T-Shirt, der grauen Sweatshirtjacke und meinen mit einer verlängernden Mascara nur unzureichend getuschten Wimpern weit weniger Aufsehen. Ich fühlte mich wie ein Vollkornmuffin in einer mit Eclairs gefüllten Auslage in einer Bäckerei. Und außerdem war ich die Einzige, die keine Waffe bei sich trug. Meine Augen sind blau, mein Haar ist braun und mein Lieblingswort ist Kuchen. Vor langer Zeit war ich einmal zehn Minuten lang verheiratet gewesen, und ich habe nicht vor, diesen Fehler in naher Zukunft zu wiederholen. Es gibt zwar ein paar Männer in meinem Leben, die mich in Versuchung führen . allerdings nicht in Hinblick aufs Heiraten.
Einer dieser verführerischen Männer ist Joe Morelli. Er ist Polizist in Trenton, hat Schlafzimmeraugen und Schlafzimmerhände, und auch alles andere, was man in seinem Schlafzimmer nicht missen möchte, ist spitzenmäßig. Solange ich zurückdenken kann, ist er mit Unterbrechungen immer wieder mal mein Freund, und letzte Nacht war es mal wieder so weit gewesen.
Der zweite Mann in meinem Leben ist Carlos Manoso, auch Ranger genannt. Ranger ist mein Mentor, mein Arbeitgeber, mein Schutzengel, und ich bin so vertraut mit ihm, wie man es mit einem Mann nur sein kann - nur als fester Freund eignet Ranger sich nicht wirklich. Dazu gehört wenigstens hin und wieder eine Verabredung, und das funktioniert mit Ranger nicht. Ranger ist eher der Typ von Mann, der sich unaufgefordert in die Träume und Wünsche eines Mädchens einschleicht und sich dann weigert, diese wieder zu verlassen.
»Was ist mit Martin Munch?«, erkundigte sich Connie bei mir. »Vinnie ist schon auf hundertachtzig wegen ihm. Seine Kaution ist kein Pappenstil. Wenn du es nicht schaffst, seinen Hintern bis Ende des Monats vor Gericht zu zerren, sieht unsere Bilanz nicht sehr gut aus.«
So funktioniert das Kautionsgeschäft. Jemand wird wegen eines Vergehens oder Verbrechens angeklagt, und wenn er bis zur Verhandlung aus der Haft entlassen werden will, fordert das Gericht eine Sicherheitsleistung. Falls der Angeklagte nicht gerade zufällig 50 000 Dollar unter seiner Matratze liegen hat, wendet er sich an einen Kautionsagenten, und dieser Agent stellt für ihn gegen eine Gebühr die Kaution. Wenn der Bösewicht dann am Verhandlungstag nicht vor Gericht erscheint, behält das Gericht die Kaution ein, bis jemand wie ich den Angeklagten zurück ins Gefängnis bringt.
Auf dem Papier gehört das Kautionsbüro meinem frettchengesichtigen Cousin Vinnie, aber das Geld dafür kommt von seinem Schwiegervater Harry dem Hammer. Wenn Vinnie zu viele Kautionsrückzahlungen offen hat und das Büro rote Zahlen schreibt, ist Harry nicht glücklich. Und niemand möchte es sich mit einem Mann verscherzen, der Harry der Hammer heißt.
»Ich suche Munch bereits die ganze Woche«, erklärte ich Connie. »Er ist wie vom Erdboden verschluckt.«
Martin Munch ist ein vierundzwanzigjähriges Genie mit einem Doktortitel in Quantenphysik. Munch ist aus welchen Gründen auch immer wie ein Wilder über seinen Projektmanager hergefallen, hat sich auf ihn geschwungen und ihn bearbeitet wie ein Rennpferd, ihm mit einem Kaffeebecher von Dunkin' Donuts die Nase gebrochen und ihn k.o. geschlagen. Kurz darauf wurde er von einer Überwachungskamera aufgenommen, als er das Forschungslabor verließ und ein riesiges Cäsiumdampf-Magnetometer mit sich schleifte. Was immer das auch sein mag!
Munch wurde geschnappt und verhaftet, aber das Magnetometer war weg. In einem Anfall von geistiger Umnachtung stellte Vinnie die Kaution für Munch, und nun war Munch samt seinem Apparat verschwunden.
»Der Mann ist kein Verbrecher im herkömmlichen Sinn«, meinte Connie. »Er kommt nicht aus solchen Kreisen. Seine Freunde und seine Familie sind bestimmt entsetzt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihn verstecken.«
»Er hat nicht viele Freunde oder Verwandte«, erklärte ich. »So viel ich herausgefunden habe, hat er nie mit seinen Nachbarn gesprochen, und seine Familie besteht nur aus seiner Großmutter, die in einem Altersheim in Cadmount lebt. Er arbeitet schon seit zwei Jahren in dem Forschungslabor, hat aber dort mit niemandem Kontakt geknüpft. Vorher hat er in Princeton studiert und dort seine Nase immer in seinen Büchern vergraben. Seine Nachbarn haben mir erzählt, dass Munch in letzter Zeit hin und wieder Besuch von einem Mann bekam. Der Kerl war über eins achtzig groß, kräftig gebaut und teuer gekleidet. Er fuhr einen schwarzen Ferrari, hatte schwarzes schulterlanges Haar und eine blasse, fast weiße Haut. Manchmal ging Munch mit ihm weg und kam erst nach Tagen wieder zurück. Das ist alles, was ich weiß.«
»Das klingt nach Dracula«, meinte Lula. »Trug der Kerl einen Umhang? Hatte er Fangzähne?«
»Niemand hat etwas von einem Umhang oder Fangzähnen gesagt.«
»Munch muss hier gewesen sein, als ich letzte Woche krank und nicht im Büro war«, überlegte Lula. »Ich kann mich nämlich nicht an ihn erinnern.«
»Was hat dir denn gefehlt?«, fragte ich. »Hattest du Grippe?«
»Ich weiß nicht, was es war. Meine Augen waren ganz verquollen, ich musste ständig niesen, bekam kaum Luft und fühlte mich fiebrig. Ich bin in meiner Wohnung geblieben, habe medizinischen Whiskey getrunken und Grippetabletten geschluckt, und jetzt geht es mir wieder gut. Wie sieht dieser Munch denn aus?«
Ich zog seine Akte aus meiner Kuriertasche, einem Prada-Imitat, und zeigte Lula sein Fahndungsfoto und noch eine weitere Aufnahme.
»Gut, dass er ein Genie ist«, meinte Lula. »Recht viel mehr hat er ja nicht zu bieten.«
Mit knapp eins sechzig sah Munch eher wie vierzehn als wie vierundzwanzig aus. Er war schlank und hatte rotblondes Haar und ein blasses, mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Das Foto war im Freien aufgenommen worden, und Munch blinzelte in das Sonnenlicht. Er trug Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt mit einem Bild von SpongeBob. Ich vermutete, dass er seine Klamotten wahrscheinlich in der Kinderabteilung kaufte. Wahrscheinlich musste man sich seiner Männlichkeit sehr sicher...