Wegbereiter und Wegbegleiter
Heino Falcke zum 90. Geburtstag
Elfriede Teresa Begrich
Es war ein Samstag, der 25. September 1971. Ein grüner Wartburg Tourist, absoluter Upperclass-Wagen zu DDR-Zeiten mit einem Kennzeichen der Bezirkshauptstadt Magdeburg, Kreis Schönebeck, parkte exakt vor dem Vordereingang des Hauses Christburger Straße 24 im Stadtbezirk Prenzlauer Berg im Ostteil Berlins. Grau, sparsam, die Reste von Putz auf den Fassaden verteilt, aneinander gelehnt in seiner Brüchigkeit, verströmte das Viertel mit seinen Vorder- und Hinterhäusern den Charme des Verfalls jener Jahre. Doch hinter den Fassaden viel Glück, auch bei uns; unser Sohn Teja war bereits vier Wochen alt. Bitterer Beigeschmack: Zwei getrennt adressierte Briefe des Konsistoriums Berlin-Brandenburg schienen unsere berufliche Zukunft zu besiegeln. Meinem Mann wurde gratuliert, dass »seine Frau ihm einen Sohn geschenkt habe«, verbunden damit kam die Einberufung (so hieß das!) für ihn zum Predigerseminar nach Gnadau.
Mir wurde mitgeteilt, dass ich mit der Geburt meines Sohnes aus dem Kirchlichen Dienst, in dem ich das Vikariat gerade beendet hatte, auszuscheiden habe.
Nach dem Blick auf die Karte, um wenigstens den Umkreis von Gnadau zu erforschen, teilte mein Mann mit, dass er nur ins Predigerseminar ginge mit Frau und Sohn. Wir waren sicher, damit unsere gerade begonnene kirchliche Laufbahn beendet zu haben.
Und nun kam Gnadau zu uns. In Person des Rektors Heino Falcke. Höchstpersönlich kam er die vier Treppen des Quergebäudes hinauf, um uns einzuladen und abzuholen in eben dieses Predigerseminar. Mit Windeln, Höschen und Töpfen einerseits und mit Hebraica, NT graece und diverser theologischer Lektüre andererseits gut bepackt, fuhr uns der Rektor mit Baby an Bord von Berlin nach Gnadau. Fuhr einmal ums Karree daselbst und antwortete auf meine Frage: »Sind wir schon da?«: »Ja, das war's, mehr kommt nicht.«
Und dennoch wurde uns Gnadau von Woche zu Woche wichtiger, größer und weiter. Nach einem Jahr Predigerseminar war unumstößlich offenbar: Ohne Gnadau, ohne den Rektor Heino Falcke und ohne seine großartige Frau wäre ich niemals im Raum der Kirche angekommen und weitergegangen. Alle theologischen Quellen und familiären Anfänge sind hier in Gnadau gegründet.
Gotthardt, der Jüngste der Falcke-Kinder, war gerade dem Kinderbett und Laufgitter und dem wunderschön gedrechselten Hochstühlchen entwachsen. Frau Falcke war uns mit diesen greifbaren und gegenständlichen Notwendigkeiten, aber auch mit vielen eigenen Erfahrungen in »Aufzucht und Hege« von Nachwuchs eine wichtige Begleiterin. Und ganz Gnadau hat sich gefreut über die erste Familie im Ausbildungsjahr auf dem Weg zwischen erstem und zweitem Examen und über dieses erste Vikarskind.
Alle, bis auf einen: Der Ausbildungsdezernent kam im Frühjahr von Berlin nach Gnadau und mit ihm die Ankündigung der Termine zum Zweiten Theologischen Examen und der Einsatzorte der Kandidaten als Pfarrer im Entsendungsdienst. Für mich waren weder das Examen noch ein späterer Einsatzort vorgesehen. Da hat Rektor Heino Falcke mit einem Satz meine Zukunft ein zweites Mal in die Hand genommen:
»Sie können Frau Begrich ruhig zum Examen zulassen. Sie war immer bei allen Veranstaltungen dabei. Der Mann war meistens mit dem Sohn beschäftigt.«
Was für ein Satz zu welcher Zeit!
So wurde ich dank Heino Falcke zum Zweiten Examen zugelassen, eine Anstellung als Pastorin war in Berlin-Brandenburg damit nicht verbunden. Aber es gab ja die Kirchenprovinz Sachsen, die KPS.
Gnadau wurde uns zur theologisch-politischen Denkschule. Die vielen Dienstreisen des Rektors mit Begegnungen großer Theologen und (Kirchen-) Politikern aller Welt, die großen Themen zur Zukunft der Kirche in einem sozialistischen Land, die Lebensäußerung von Kirche als ökumenischer Gemeinschaft - das alles machte das kleine Gnadau groß. Und uns Kandidatinnen und Kandidaten neugierig.
Es war die Zeit der Thesen. Kein Thema, das wir zu bearbeiten hatten, das nicht in Thesen gekleidet werden musste. Die Lieblingsform theologisch-literarischer Mitteilung des Rektors. Pädagogisch wohldurchdacht, denn wie kann sonst noch eine Meinung so geschliffen, prägnant und kurz gefasst zur Sprache kommen, wenn nicht in Thesen? Thesen zur Kirche der Zukunft (in Vorbereitung zur berühmten Synode in Dresden 1972), Thesen zur Taufe, Thesen zur Theologie Karl Barths, Thesen zum Jesusbuch von Herbert Braun und zu Dorothee Sölle, Thesen zum Jesusbuch von Machovec.
In unserem Rektor Heino Falcke verbanden sich ein weites Herz mit klarer Position. In der Diskussion über das Verständnis der Taufe stand er unerschütterlich für die Erwachsenentaufe ein, hat es aber gut ausgehalten, als wir unseren Sohn als Baby in Gnadau getauft haben.
Er war - und ist es noch - ein politisch vorwärts denkender Geist, aber auch der kannte Grenzen. Als ich dem Vikarskurs in der letzten Morgenandacht vor dem Einsatz ins soziologische Praktikum statt eines Bibeltextes ausschließlich Worte von Rosa Luxemburg als seelsorgerliche Stärkung mitgab, hörte ich mit ein wenig knurrendem Unterton das Einverständnis Heino Falckes: »Dann gehen wir eben mit Rosa Luxemburg ins Praktikum«. Und so geschah es.
Auch das Motto meiner schriftlichen Hausarbeit für das Zweite Examen, dort in Gnadau angefertigt, hat der Rektor mit großer Gelassenheit hingenommen:
»So shut the bible up
and show me how
the Christ you talk about
is living now!«
Sidney Carter
Gnadau war in dieser Zeit eine Hochburg theologischen Disputes in harmonischem Miteinander, wie ich es danach nicht wiedergefunden habe. Mit Theodor Gill, dem Pfarrer der Brüdergemeine, Christoph Hinz im Pastoralkolleg am gleichen Ort und Heino Falcke als Rektor des Predigerseminars waren wir eingebettet in theologische Schulen und kirchliches Leben, das seinesgleichen suchte. Große Menschen kamen ins kleine Gnadau: Helmut Gollwitzer, der uns unvergesslich ins Stammbuch schrieb, nachdem er die Endlosschleife unserer Klagen als DDR-Bürger angehört hatte: »Hört auf, diese Nabelschau zu betreiben, es gibt mehr und größere Probleme als eure!«
Das saß! Fühlten wir uns doch als die weltweit unter größter Benachteiligung lebenden Zeitgenossen.
Die Studienfahrt nach Prag und nach Theresienstadt machte uns mit dem mutigen Geist der Hussiten bekannt und mit dem Schrecken der Shoah. Die Goldene Gasse in Prag und die Kerkergassen in Theresienstadt! Das ist wie Goethes bejubeltes Weimar neben den stumm schreienden Öfen von Buchenwald.
In den Jahreszyklus Herrnhuter Gemeindelebens in Gnadau mit allen Gottesdiensten und Andachten, die wir dort zu verantworten hatten und die die Brüdergemeine ausgehalten hat mit wechselnder Begeisterung, gehört als Höhepunkt das Weihnachtsfest unter der Riesenpyramide in Falckes Weihnachtszimmer, vom Meister selbst erbaut!
Und eine zukunftsweisende Szene steht mir vor Augen: Frau Falcke schaute aus dem ebenerdigen Küchenfenster zu uns hinaus, die wir gerade Kinderwagen schaukelnd das politische Nachtgebet für Gnadau einrichten wollten. »Mein Mann soll Propst in Erfurt werden, wie finden Sie das?« Na, wie schon? Großartig für Erfurt, undenkbar für Gnadau.
Als wir im Sommer 1972 wieder nach Berlin zurückkehrten, brauchten wir lange, uns wieder zurechtzufinden. Aber irgendwie muss es gegangen sein, vielleicht auch schon damals mit dem heimlichen Wunsch, irgendwann zurückzukehren.
Irgendwann, das war genau zehn Jahre später, als mein Mann, Gerhard Begrich, zum Nach-Nachfolger von Heino Falcke als Rektor in eben dieses Predigerseminar berufen wurde. Nun zogen wir als fünfköpfige Familie in die Falckesche Wohnung. Als dann Heino Falcke uns besuchen kam und sich in seinem ehemaligen Arbeitszimmer umsah, gab er beim Blick nach draußen seiner tiefsten Überzeugung Ausdruck: »Schön war es, aber ich möchte nicht wieder hier leben, zu eng, zu klein, zu versteckt.« Nichts gegen die Großstadt Erfurt.
Dieser Kurzbesuch in Gnadau Anfang der achtziger Jahre zeigt sich im Nachhinein wie ein Vorbote eines erneuten Miteinanders, auf das ich nun gar nicht vorbereitet war. Als ich während meiner Zeit als Dozentin am PTI in Drübeck von einer kirchenleitenden Delegation besucht und befragt wurde, ob ich mir vorstellen könnte, als Pröpstin nach Erfurt zu gehen, fiel mir nur ein:
Da ist doch ein Propst. Und was für einer!
Und dann war Propst i. R. Heino Falcke sowohl bei meiner Einführung im Jahr 2000 A. D. als Assistent als auch bei meiner Verabschiedung im Jahre 2010 A. D. mit eindrücklicher Rede dabei. Und auch war er dabei mit deutlich staunenden Worten über diese gottgewirkte Generationenfolge, als ich meinen Sohn Teja in Mühlhausen ordinieren durfte im Jahr 2004 A. D., eben jenen Sohn, den er als Baby an Bord im Wartburg Kombi von Berlin nach Gnadau transportiert hatte.
Auf keinen Fall möchte ich die Koreferate unerwähnt lassen, die so manche Aussagender Referenten während der Ruheständlerrüste, die ich nun im Erfurter Augustinerkloster für zehn Jahre zu verantworten hatte, korrigierten und ergänzten. Und dann der eine und der andere weiterführende Rat eines alteingesessenen Erfurters im Blick auf die schwer wieder in Gang zu bringende Ökumene nach der »Wende«!
Ich war ja die Nach-Nachfolgerin von Propst Falcke. Vor mir wurde Joachim Jaeger, ursprünglich Propst von Nordhausen, nun zusätzlich zu diesem Sprengel auch noch mit dem einst eigenständigen Erfurter Propstsprengel »belehnt«, was für ihn einen Umzug von Nordhausen nach Erfurt ins Augustinerkloster zur Folge hatte. Die Erfurter hatten nun...