Schweitzer Fachinformationen
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Kaum habe ich die Autotür geschlossen, fängt eine helle, aufgeregte Glocke an zu schlagen. Schlagen kann man das nicht nennen. Es ist ein Gebimmel. Ich bleibe stehen, zähle mit und komme bis neun. Ein paar Schläge habe ich verpasst. Es muss 24 Uhr sein. Mitternacht - die Zeit meiner Ankunft. Eine Punktlandung. Wenn da eine Kirche oder eine Kapelle ist, dann gibt es hier auch ein Dorf oder zumindest einen Weiler. Ich gehe auf das in der Nacht riesig erscheinende Gebäude zu. Wahrscheinlich ist seine Fassade schwarz, von der Sonne verbrannt in langen Jahren. Das lässt sich nicht ausmachen. Aus einigen Fenstern fällt Licht. Man muss eine schmale Holztreppe hinauf, um zum Eingang zu kommen, wenn das überhaupt einer ist. Vielleicht gehe ich die Sache von der verkehrten Seite an und dringe durch die Hintertür ein. Würde mich nicht wundern an dem Tag. Die primitive Treppe deutet darauf hin, dass ich wahrscheinlich gleich in der Küche, einem Wirtschaftsraum oder der Vorratskammer stehe, wenn überhaupt noch offen ist. Aber die Leute draußen an den Tischen sind bestimmt ein gutes Omen, und ich komme zu einem anständigen Bett.
Es war doch der Eingang. Ich befinde mich im Empfangsbereich. Hier muss jeder durch, auch wenn er nur ein Bier trinken will. Almhüttenromantik. Der Raum ist mit bäuerlichen Gerätschaften dekoriert. An der langen, aus unbehandelten Bohlen grob zusammengefügten Wand rechts hängen eine Sense und ein paar hölzerne Heugabeln. Ein großes Schwarz-weiß-Foto zeigt einen Bergbauern beim Heumachen über einem Abgrund. Wenn der sich zu einem Fehltritt verleiten lässt, weil er noch ein paar Kräuter für seine Kühe angeln will, ist er unten. Fragt sich ohnehin, wie der sich in dem abschüssigen Gelände hält. Mit einem Dorn am Schuh oder einer Art Steigeisen? Das ist nicht ersichtlich auf dem Bild. In einer Ecke steht ein Schleifstein, in einer anderen eine Handkarre, mit der wahrscheinlich Mist geführt wurde, als sie noch in Gebrauch war. Man hat sie mit eingetopften Zimmerpflanzen bestückt. Der Raum wird nur spärlich von einer Decken- und einer Stehlampe erhellt. Nach der Besichtigung dieser Dinge drehe ich mich um 180 Grad. An der Wand gegenüber sind zwei mit Messingschildchen versehene Türen eingelassen. Eines zeigt einen pissenden Mann, das andere eine Frau, die auf einem Nachttopf hockt. So wissen auch Analphabeten, wo sie hin müssen. Hier gibt's nicht nur Alpenromantik. Hier gibt's auch Alpenhumor. Ich wende mich nach links und schaue wieder zur Tür, durch die ich hereingekommen bin. Daneben ist ein kleines Fenster in der Außenwand. Die frei gebliebene Fläche wurde mit alten Fotos tapeziert. Sie zeigen wahrscheinlich die Leute, die hier seit Generationen gewirtet haben, und Gäste aus Vorzeiten, die alle schon längst nicht mehr leben. Die entscheidende Wand ist die vierte, die jetzt in meinem Rücken liegt. Da steht ein Pult mit einer Tischklingel drauf, wie ich gleich beim Eintreten festgestellt habe. Ich wende mich von der Eingangstür ab, deren Klinke ich schon in der Hand habe, und gehe hin. Ich kann nicht einfach wieder fort. Der Hund im Wagen. Ich muss wissen, was mit ihm ist. Hinter dem Pult hängen Schlüssel an der Wand. Nur wenige der Kästchen sind leer. Hier ist nicht viel los, und es gibt sicher freie Zimmer. Zwei Meter weiter links klafft ein dunkles Loch, der Flur, der in den Gastraum und das Innere des Hauses führt. Mit dem Gebrauch von Glühbirnen hält man sich zurück. Eigentlich würde man ein Messingschildchen als hinweisende Hand mit Bierkrug und Bett erwarten. Ich betätige die Klingel und lausche. Niemand kommt. Ich betätige sie noch einmal und warte. Nichts regt sich. Mit so späten Gästen scheint man nicht zu rechnen. Ich folge dem nur spärlich erhellten Flur, öffne die ihn abschließende Tür, stehe in der Gaststube und lasse, während ich auf den Tresen zuschreite, die Blicke durch sie gleiten. An ein paar Tischen sitzen Leute. Lauter Männer. Und dann sehe ich ihn. Er hockt ganz versunken an einem Tisch in der Nähe des Tresens hinter einer zur Hälfte ausgetrunkenen Karaffe Rotwein. Statt weiter auf den Tresen zuzugehen - der Mann dahinter, der Wirt wahrscheinlich, hat bereits das Handtuch weggelegt - wende ich mich nach links und sehe gerade noch, wie er die Arme hebt, um mir etwas zu bedeuten. Aber das interessiert mich nicht. Ich gehe weiter auf den Tisch zu, an dem der bärtige Kerl sitzt, den ich schier überfahren hätte. Er stiert abwesend auf die Tischplatte und hat mich noch nicht bemerkt. Wie kommt der so schnell hierher? Er kennt die Wälder wie seine Westentasche und ist halb zugewachsenen Pfaden oder Wildwechseln gefolgt, um die nur er weiß. Oder er hat sich mit seiner Beute abholen lassen und ist hergefahren worden. Aber den im Auto zu haben, ist sicher kein Vergnügen. Der wird bestimmt nicht jeden Tag duschen. Ich baue mich vor dem Tisch auf, wobei mir nicht besonders wohl ist. Er ist ein Hüne, und seine Körperkräfte reichen bestimmt weiter als meine, obwohl ich nicht gerade ein Schwachmatikus bin. Meine geistige Verfassung ist zurzeit auch nicht grad die beste, wenn man an den eben vergangenen Tag und das Buch denkt, mit dem es nicht vorwärts gehen will. Aber das ist ein anderes Kapitel. Auf jeden Fall muss ich vorsichtig sein. Ich will keinen Streit vom Zaun brechen. Es geht um den Hund. Ich muss wissen, wem er gehört. Der Mann hat seinen Kopf, obwohl er sitzt, fast auf der Höhe des meinigen.
»Ich habe Ihren Hund im Wagen.«
Keine Antwort. Er umklammert sein Weinglas und schaut nicht von der Tischplatte auf. Seine Augen haben sich dort an etwas festgesaugt. An der Maserung des Holzes wahrscheinlich.
»Ich habe Ihren Hund im Wagen«, sage ich etwas lauter und mit einem Seitenblick zum Tresen. Dort hat sich der Mann, scheint mir, bereit gemacht, um einzugreifen, falls der Versuch, mit dem Wilderer zu reden, aus dem Ruder läuft. Keine Reaktion. »Ich habe Ihren Hund im Wagen!«, sage ich ein drittes Mal so laut, dass die anderen Gäste hersehen.
Die Gespräche sind verstummt. Alle schweigen. Vielleicht ist der Kerl schwerhörig. Das würde mich nicht wundern bei dem Beruf. Er knallt vermutlich ständig mit der Flinte in den Wäldern herum und wird sich dazu kaum Stöpsel in die Ohren stecken.
Er führt das Glas zum Mund - aha, jetzt kommt Bewegung in die Sache - steht auf, leert es in einem Zug, stellt es hart auf den Tisch zurück, stützt sich mit beiden Pranken auf der Platte ab, sodass sein mit einem wild wuchernden Bart bedecktes Gesicht wieder auf meiner Höhe ist. Das ist kein Mensch. Das ist ein Tier. Im Bart hängt noch eine Nudel. Er hat also auch etwas zu essen bekommen.
»Habuntnich.«
»Wie bitte?«
»Hab' koan Hunt nich«, murmelt er jetzt etwas verständlicher in seinen Bart, jeden Augenkontakt vermeidend. Das Reden scheint ihm eine immense Anstrengung zu sein.
Ich will gerade »wirklich nicht?« oder etwas Ähnliches sagen. Da fühle ich, wie ich am rechten Arm gepackt werde. Der Mann ist hinter dem Tresen hervorgekommen.
»Komm!«, sagt er, »lass ihn in Ruhe!«
So schnell gebe ich nicht auf. Ich will eine anständige Auskunft und bleibe stehen.
»Komm!«, wiederholt der Mann, zieht mich am Arm vom Tisch weg und mit sich fort. »Das ist der Hornerer. Geh ihm aus dem Weg. Er ist gefährlich«, redet er weiter auf mich ein, während er mich zum Tresen komplimentiert. »Er lebt in den Wäldern und wildert hin und wieder ein wenig.«
Warum duzt mich der? Ich werde ihn auch duzen. Wüsste nicht, wo ich mit dem schon Schweine gehütet hätte.
»Der war doch vor einer Stunde noch im Tal unten. Wie kommt der so schnell hierher?«
»Dinge gibt es«, sagt der Mann und grinst.
»Und nächste Woche hast du dann Rehschnitzel auf der Speisekarte«, sage ich, um mich für das Du zu rächen.
»Mag schon sein«, antwortet er und grinst wieder.
Er ist zwar außerordentlich dick, scheint aber ganz weltgewandt zu sein für dieses Bergtal, in dem er wahrscheinlich aufgewachsen ist. Es fehlte nicht viel, und er würde zur Kugel. Natürlich steckt er mit dem Wilderer unter einer Decke und hat es nicht einmal nötig, ein Geheimnis daraus zu machen. Eigentlich gefällt er mir.
»Kann ich ein Zimmer haben für zwei oder drei Nächte?«
Ich weiß auch nicht, was für ein Teufel mich reitet. Eigentlich will ich gar nicht hier bleiben. Ich will nach Italien und habe mich nur verfahren.
»Ist fast alles frei. Ich gebe dir die Nummer acht. Da hast du Dusche und Toilette auf dem Zimmer. Ist aber teurer. Muss nur schnell den Schlüssel holen. Frühstück gibt's von 6 bis 11 Uhr. Auf Wunsch auch früher.«
»Aber ich habe einen Hund«, sage ich, während ich mit ihm den Gastraum verlasse, um den Schlüssel aus dem Kästchen zu holen.
»Passt schon«, meint er, mir die Schlüssel für Zimmer- und Haustür in die Hand drückend, nachdem er die Hausregeln heruntergebetet hat.
»Gut, dann hole ich jetzt den Hund aus dem Auto und meine Sachen.«
»Du musst durch die Gaststube und hinten die Treppe hoch«, erklärt er mir. »Dein Zimmer ist im ersten Stock auf der linken Seite ganz am Ende des Flurs. Und beachte den Hornerer einfach nicht. Das ist das Beste.«
Unkompliziert sind die Leute hier. Zumindest dieser Mann, der Wirt. Bis jetzt wenigstens. Ob die Bruchbude ihm gehört? Oder ist er nur der Pächter? Ich stehe draußen in der mondhellen Nacht, atme durch und beginne, auf den Land Rover zuzugehen.
Hatte ich Glück, dass die Situation nicht eskalierte? Wovor wollte er mich warnen? Ich glaube nicht, dass der Hornerer, wie sie ihn hier...
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