Schweitzer Fachinformationen
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Wie oft habe ich Mama gebeten, mir die Augen zu schminken. Und wie oft habe ich es selbst versucht, wie eine erwachsene Frau vor dem Spiegel, hoch konzentriert und mit zittrigen Fingern. Jetzt ist diese schlichte, mechanische Handlung wieder eine ungeschickte. Der Lidstrich verschmiert, die Hand verkrampft. Es war außerdem zu spät dafür, mich zu fragen, warum ich heiraten wollte, voller Zweifel, lustlos und mit dem Kind eines anderen im Bauch. Jetzt lautete die Frage, warum ich mir die Augen schminkte, aber vor allem, warum es mir so schwerfiel, es anständig hinzubekommen. Mein Kopf dröhnt. Die Ungewissheit treibt mich zu dir, sie wirft mich geradezu in die Erinnerung an dich. Letzte Nacht habe ich schlecht geschlafen, obwohl ich eigentlich sagen sollte, dass ich gar nicht geschlafen habe. Ich lege mich ins Bett und sehe uns beide an unserem Hochzeitstag. Ich bin festgefroren in diesem Augenblick, vor fast zwanzig Jahren. Du warst verliebt in die Frau, die du dir auf der Projektionsfläche meines Körpers ausgemalt hast. Ich werfe dir das nicht vor. Vielleicht liegt es daran, dass man alt wird, wenn man entdeckt, mehr als ein Körper zu sein. Die Wut, die Impulsivität, der Egoismus, all das war überlagert von einer »Milchreishaut«, wie du zu sagen pflegtest. Ich habe festgestellt, und zwar zu spät, dass man einen Mann, der keinen Drang verspürt, dir zwischen die Beine zu schauen, nicht heiraten darf. Es gab keine Leidenschaft zwischen uns, es gab sie nie. Eher ein vermeintliches Feuer, das die Wut überlagerte. Schlechter Sex, fehlender Sex, Blut in den Augen, in den Adern. Vierundzwanzig Jahre. Alles falsch. Ich betrachtete dich, wie man ein kleines Kind ansieht, wie eine Orchidee, wie einen Welpen. All das Herzblut stammte von dir, und obwohl es eine Menge war, reichte es nicht.
Du hattest so viel Energie. Und du hast selten die Kleidung gewechselt. Du brauchtest wenig zum Leben. Kaffee, Comics. Wir mussten uns die Liebe erfinden, um alles kompliziert zu machen. Erfinden ist vielleicht übertrieben. Du hast mich mit launischem Ingrimm begehrt, und ich ließ dich dankbar gewähren. Ich war kein kleines Mädchen mehr. Die langen wilden Locken waren verschwunden. »Du bist nicht dafür geboren, zu heiraten oder Kinder zu kriegen«, sagte Tante Cecilia, wenn sie mir über das krause Haar strich. Mit ihr teilte ich den Namen und die Erinnerung an eine göttliche Kindheit. Es genügte, dass mein Haar nach und nach glatter wurde, um das Schlimmste zu prophezeien:
»Du wirst nicht entkommen«, behauptete sie feierlich.
»Wovor entkommen?«
»Vor einem Leben, das nichts für dich ist.«
»Sieht es so schlimm aus?«, fragte ich, während Tante Cecilia mit gerunzelter Stirn in mein Glas starrte.
»So schlimm, dass ich es dir besser nicht erzähle.«
Ich dürfte zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich zu Mama sagte:
»Ich werde nicht heiraten. Die Ehe ist ein Kreuz.«
Zu den weißen Lichtern, der Hitze, dem Lärm, dem Gedränge und dem Schwindel jenes Augenblicks muss man sich eine hagere, große Mulattin wie meine Tante vorstellen, die mir erklärte, dass ich nicht für die Ehe bestimmt sei. Tante Cecilia starb, ich näherte mich dem verwirrenden Erwachsenenalter. Es war, als hätten die Regeln der magischen Welt, die sie für mich eingerichtet hatte, keine Gültigkeit mehr.
Dann kamst du, gerade zum richtigen Zeitpunkt, mit deinem Versprechen der ewigen Liebe. Wir erfanden uns gegenseitig, als wären wir Schauspieler. Welche Leichtfertigkeit, welch dringendes Bedürfnis nach Utopien, die hastig aus den verfügbaren Materialien gezimmert wurden. Ich fürchte, wir haben uns niemals richtig kennengelernt. So etwas passiert uns allen, aber besonders den Männern. Für diese Erkenntnis brauchte ich Jahre. Bei ihnen entsteht die Liebe durch den Blick. Wenn die himmlischen Qualitäten, die der geliebten Frau angedichtet werden, sich später als falsch erweisen, schauen sie woanders hin, sind erschrocken oder behaupten, betrogen worden zu sein.
Es ist nämlich so, dass Pedro, unser Sohn, nicht da ist. Ich weiß nicht, ob ich ihn je wiedersehen werde. Ich weiß nicht, ob er schuldig ist oder nicht. Wir haben das Jahr zweitausendneunzehn, aber in meinem Kopf kehre ich immer wieder zu unserer Hochzeitsnacht vor knapp zwanzig Jahren zurück. Ich bin wieder diese junge Frau, der alles im Leben zu groß ist, selbst das Hochzeitskleid. Im Spiegel betrachte ich meine Krähenfüße. Ich werde langsam alt. Kann ein Toter Vater sein? Er kann, das habe ich dank dir festgestellt. Du bist ein postumer Vater. Das habe ich noch nie aufgeschrieben. Gesagt schon, und zwar oft. Bei Geburtstagen zum Beispiel.
»Und Pedros Vater kommt nicht?«
»Nein. Der Junge ist ein postumes Kind.«
Ich gebe zu, dass ich das sagte, um zu nerven. Denn ich fand diese Frage ziemlich unverschämt. Und der Vater kommt nicht? Sind wir etwa die Heilige Familie? Und wenn ich eine alleinerziehende Mutter wäre? Und wenn ich eine Frau hätte? Ich sah die Irritation in ihren Gesichtern. Wie sie dachten, postum soll also heißen, dass er danach . gestorben ist, klar, natürlich. Dein postumer Sohn wird verdächtigt, »mutmaßlich« an einem Attentat beteiligt zu sein. Pedro Gil, ein mutmaßlicher Mörder. Ja, mein Schatz, er trägt deinen Namen. Mehr noch, er ist dein Abbild, nur größer und dünner und mit meinem Kinn (einem Männerkinn). Kannst du dich daran erinnern, dass du mich Kolibri genannt hast? Du sagtest, dass ich täglich das Achtfache meines Gewichts essen würde (ebenfalls wie ein Mann). Und wie ich gegessen habe. Ich hatte ständig Hunger. Ich war unersättlich, so unersättlich, wie du mich lieber im Bett gehabt hättest. Ich finde mich immer noch attraktiv, Rayo, ich glaube, das würdest du mir bestätigen. Und obwohl ich nicht mehr täglich das Achtfache meines Gewichts esse, habe ich zehn Kilo zugenommen. Ich versuche erfolglos, mich zu entspannen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich mich als junge Frau, die wie Prinzessin Leia gekleidet ist.
Die von früher rauchte, die von heute nicht mehr. Die von früher trug langes Haar, die von heute nicht mehr. Die von früher hatte dauernd Hunger, die von heute nicht mehr. Ich weiß nicht, ob du mich wiedererkennen würdest, wenn du mich sehen könntest. Ich war immer auf der Suche nach Bestätigung. Die von früher wollte sich die Welt einverleiben, die von heute will nicht von der Welt einverleibt werden. An jenem Tag hatte ich eher das Gefühl, eine Braut zu spielen, statt eine zu sein. Meine Beine sahen aus wie die eines kleinen Mädchens mit runden Knien, das gerade das geblümte Kleid ausgezogen hat. Unversehens war ich wieder eine Jugendliche, die sich zum Ausgehen schminkte, während Papa spöttisch zu mir sagte: »Du siehst aus wie eine Kakerlake in der Bäckerei.« Da stand ich nun, abermals mit geliehenen Stöckelschuhen, zugekleistert wie eine Geisha, aber ich war kein kleines Mädchen mehr, das Hochzeit spielt. Sie fand wirklich statt.
In jener Nacht regnete es leicht. Viele Passanten genossen die Tropfen im Gesicht, nur wenige hatten den Regenschirm aufgespannt. Bogotá im Jahr zweitausend. Schmutzige, nasse Straßen, die Leute hasteten vorüber, als wäre ihnen ein imaginärer Räuber auf den Fersen. Ich überlegte, ob ich runtergehen und laufen sollte, wusste aber nicht, wohin. Wann war eine Heirat eigentlich eine gute Idee gewesen?, fragte ich mich, während ich den Fremden voller Neid hinterherschaute und mein Herz heftig pochte vor Verlangen, nach draußen zu eilen. Zu meiner Beruhigung redete ich mir ein, dass mindestens die Hälfte aller Menschen ihr Leben mit einer Beschäftigung oder einer Person verbringen, die sie nicht mögen. Dich mochte ich. Vielleicht auf andere Weise, aber ich mochte dich. Meine Arbeit verabscheute ich. Ich wollte nicht heiraten. Ich war im Begriff, mich der Mehrheit der Leute anzuschließen, daran würde ich nicht sterben.
In der Schule, in der ich als Lehrerin arbeitete, hatte ich zwei Jungs dabei erwischt, wie sie obszöne Bilder von mir in ihr Heft malten. Ansonsten zündelten sie gern im Klassenzimmer. Unvermittelt blieb ich vor dem Lokal stehen, in dem die Hochzeit stattfinden sollte. Die Bar war schön, und auch wir waren schön in unserem typisch jugendlichen Glauben, einzigartig zu sein. Zur Filmmusik von Krieg der Sterne trat ich langsam ein. Das war deine Idee gewesen, ebenso wie die Wegwerfkameras, mit denen jeder Gast seine eigenen Hochzeitsfotos machen konnte, und die Vasen mit seltsamen Figuren darauf, die wir en gros gekauft und selbst gefüllt hatten. Die drei Aquarien mit den schillernden tropischen Fischen, eine Art vorweggenommenes Bild der Gefangenschaft, waren eine Überraschung. Du hattest sie kurz vor meinem Eintreffen aufgestellt. Du warst stolz. Stolz und verschwitzt. Bei ihrem Anblick zog sich mein Herz zusammen. Ich hastete regelrecht durch diesen improvisierten Brauteinzug. Und wollte plötzlich, dass alles zu Ende wäre. Ich setzte mich neben dich. Der Standesbeamte sprach von Fortpflanzung. Mir war speiübel. Im Hintergrund waren die Stimmen der annähernd achtzig Gäste aus dem ersten Stock zu hören. Sie klangen zunehmend ungeduldig. Dann hob das Gemurmel an, und es wurde gedrängelt, um das Brautpaar zu sehen. Nichts war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Auch ohne eine klare Vorstellung vom Ablauf wusste ich, dass es so nicht sein sollte. Nach gut fünf Minuten drehte ich mich um und stieß einen Schrei aus: »Pssst! Ruhe!« Dann konzentrierte ich mich wieder auf die Zeremonie. Du schienst keineswegs verärgert; man könnte eher sagen, du warst zufrieden. Für einen Moment wirkten wir wie ein normales Paar, das heiratet. Du hast mit geröteten Augen gelächelt. In den Nächten davor hattest du sehr...
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