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Das Problem: Die Verwendung von Platin in Thermoelementen war dauerhaft zu teuer. Wilhelm Rohn beschäftigte sich deshalb besonders mit der Verwendung von Ersatzstoffen für das teure und schwer erhältliche Platin. Hierzu arbeitete Rohn bei Heraeus mit einer kleinen Anzahl an Physikern zusammen, die sich dem neuen Forschungsgebiet "chemisch-metallurgische Technik" widmeten.52
Die Suche nach Ersatz für Edelmetalle fand nicht nur in der Industrie statt. Auch die Zahnmedizin versuchte, teure Dental-Legierungen zu ersetzen. Seit der Einführung der allgemeinen Krankenversicherungspflicht im Jahr 1883 unter dem damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck stieg die Zahl der Kassenpatienten an. Das hatte um die Jahrhundertwende zur Folge, dass Zahnärzte verstärkt eine rationalisierte Arbeitsweise anboten. Eine an Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit orientierte Behandlung setzte sich durch. Das führte auch dazu, dass bei Verfüllungen das billigste Füllungsmaterial verwendet wurde. Amalgam entsprach den Anforderungen der Zeit, sodass um 1900 rund 75 % aller Zahnfüllungen aus Amalgam bestanden. Allerdings gab es bereits seit 1899 erste Erkenntnisse darüber, dass gesundheitsgefährdendes Quecksilber aus Amalgam austreten kann. Goldfüllungen stellten theoretisch eine Alternative dar, waren aber viel zu teuer. In den 1920er Jahren bemühte man sich daher, Amalgam durch Legierungen mit Edelmetallen zu sogenanntem Edelamalgam zu verbessern.53
Vor einer ähnlichen Herausforderung stand Wilhelm Rohn. In einem Beitrag für eine Jubiläumsschrift der Vacuumschmelze beschrieb er 1933 seine Aufgabe während seiner Anfangszeit bei der Heraeus Platinschmelze: "Als der Platinpreis infolge der zunehmenden technischen Verwendung dieses Metalles bei begrenzter Jahresproduktion um das Jahr 1913 auf RM 6,30 pro Gramm gestiegen war, tauchte der Wunsch auf, für Temperaturen zwischen etwa 500 und 1.100 ° Celsius Thermoelemente aus Unedelmetallen herstellen zu können, für die die gleiche Anforderung an Austauschbarkeit, d. h. chemische und thermoelektrische Identität verschiedener Schmelzen, gestellt werden sollte, wie sie die Platin-Rhodium Thermoelemente leisteten."54 Die hohen Kosten für Platin verdeutlicht ein Beispiel: 6 Mark 30 Pfennig pro Gramm Platin war, wenn man den Wochenlohn bei Heraeus von 22 bis 32 Mark vergleicht, sehr teuer. Für den Preis eines Kilogramms Platin, 6.300 Mark, hätte das Unternehmen einen Mitarbeiter ungefähr 196 Wochen, also gut dreieinhalb Jahre, beschäftigen können.
Die Aufnahme zeigt Arbeiter der Heraeus Platinschmelze aus dem Bereich Stahlverarbeitung.
Rohns Bestreben war also die Herstellung von Unedelmetall-Legierungen, mit dem Ziel, die in Thermoelementen verwendeten Metalle Platin und Rhodium zu ersetzen und trotzdem Temperaturen bis 1.100 °C verlässlich zu messen.55 Zur Auswahl der passenden Unedelmetalle stellte Rohn zunächst theoretische Überlegungen an. Die zu nutzenden Metalle mussten etwa in Drahtform gezogen werden können. Ein weiteres Auswahlkriterium war ihr Preis. Sie mussten deutlich günstiger sein als das teure Platin. Abschließendes Kriterium war der Schmelzpunkt der Metalle. In der praktischen Anwendung durften sie bis 1.200 °C keinen thermoelektrischen Veränderungen unterliegen. Die von Rohn durchgeführten Versuche zeigten, dass Nickel-Legierungen mit Chrom, Molybdän oder Kupfer vielversprechende Stoffe waren. Da die Chrom-Nickel-Legierung bei Temperaturen zwischen 500 und 1.100 °C fast vollkommen identische Eigenschaften mit dem Platin-Rhodium-Thermoelement aufwies, legten sich die Forscher der Vacuumschmelze schnell auf diese Metallkombination fest. Ein erfolgreicher Wechsel der Platin-Rhodium- zu Chrom-Nickel-Thermoelementen hatte aufgrund ihrer ähnlichen Eigenschaften zudem den Vorteil, dass Messinstrumente, die das Platin-Rhodium-Thermoelement nutzten, nicht neu geeicht werden mussten.56
Ein Gruppenbild der Abteilung "Kesselreinigung" der Heraeus Platinschmelze, aufgenommen an Pfingsten 1902. Die Vacuumschmelze übernahm nach ihrer Gründung einige der hier abgebildeten Arbeiter.
Nach den theoretischen Überlegungen folgte die praktische Umsetzung. Rohn und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schmolzen die Metalle sowohl bei gleichbleibender Temperatur als auch unter einer Schutzatmosphäre. Dieser Versuch schlug fehl, da Chrom und Nickel einen unterschiedlichen und nicht steuerbaren Abbrand aufwiesen.57 Sie verbanden sich während des Schmelzprozesses mit Sauerstoff und verhielten sich nicht vollkommen identisch. Doch Rohn und sein Team hatten bereits die Idee, die Metalle im luftleeren Raum, also in einem Vakuum, elektrisch zu schmelzen, um die Oxidation zu vermeiden.58
Das Vakuum war für Rohns Forschungen entscheidend. Er profitierte hier von früheren Arbeiten, auf deren Grundlage er weiterforschte. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde eine Reihe von Produktionsprozessen unter Vakuum durchgeführt, etwa Teile der Herstellung von Glühlampen oder von Sende- und Verstärkerröhren. Neben dem amerikanischen Physiker Irving Langmuir war der deutsche Physiker Wolfgang Gaede daran beteiligt, Verfahren zu entwickeln, wie ein Vakuum immer besser erzeugt werden konnte. So verbesserte Gaede zwischen 1905 und 1915 die benötigten Pumpen entscheidend. Auch waren erste Schmelzverfahren im Vakuum schon bekannt. Werner von Bolton gelang im Jahr 1905 ein erster Schmelzversuch in einem Vakuum-Lichtbogenofen. Die Ergebnisse waren insgesamt aber nicht zufriedenstellend, da sich die Wissenschaftler zunächst stärker auf die Entwicklung der Vakuumpumpen als auf die Dichte der Schmelzöfen konzentrierten. Man erkannte nicht, dass undichte Öfen einen Luftstrom auf das Schmelzgut zuließen und so dessen Materialeigenschaften verschlechterten.59
Auch bei der W. C. Heraeus Platinschmelze wurden bereits Vakuumöfen in der Produktion benutzt. 1905 präsentierte das Unternehmen einen elektrischen Tiegelofen für Glühungen im Vakuum. Von Dr. Ernst Haagn, dem damaligen Assistenten von Richard Küch, ist die Aussage überliefert: "Bei welchen Arbeiten die Verwendung des Vakuums besondere Vorteile bringen wird, lässt sich heute wohl noch nicht überblicken, jedenfalls muss es überall da, wo durch die Glühung Gase ausgetrieben werden sollen, ein schnelleres und vielleicht auch zuverlässigeres Arbeiten gestatten."60
Rohn und sein Team konnten diese Öfen für ihre Versuche nutzen. Doch die Dichtigkeit der Öfen machte Probleme. Auch in den Heraeus-Öfen wurde zu viel Sauerstoff als Luftstrom auf das Schmelzgut gezogen. Die Entwickler erkannten zu Beginn ihrer Versuche das Problem. Die Wissenschaftler in der Physikalischen Versuchsabteilung arbeiteten daran, die Öfen abzudichten. Rohn beschreibt rückblickend, dass nur die Vakuumöfen genutzt wurden, die nach 24 Stunden unter Vakuum eine Druckzunahme von maximal drei Millimetern auf der Anzeige zuließen.61
Die höhere Dichtigkeit der Öfen war letztlich der entscheidende Faktor, der die Herstellung von Legierungen aus Unedelmetallen ermöglichte. Die in den abgedichteten Öfen entstandenen Chrom-Nickel-Legierungen entsprachen jetzt den an sie gestellten Anforderungen. Nach nur gut einem Jahr Unternehmenszugehörigkeit hatte Rohn mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen Durchbruch erzielt. Allerdings mussten die Forschungen aufgrund des Ersten Weltkriegs 1914 zunächst unterbrochen werden.62
Porträtaufnahme von Dr. Wilhelm Rohn.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gab es zwischen den europäischen Großmächten vermehrte Spannungen. Der Kampf um die europäische Vorherrschaft und imperialistische Bestrebungen, wie sie etwa Rohns Vater in der 1900 gehaltenen Rede präsentierte, prägten die Beziehungen zwischen den Nationen. Auf dem Balkan schließlich wurde die politische Lage zwischen den europäischen Großmächten immer unsicherer. Die Situation zwischen den in zwei Allianzblöcke getrennten Nationen eskalierte am 28. Juni 1914, als serbische Separatisten den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajevo erschossen. Das Attentat war Auslöser für einen Dominoeffekt, in dem eine europäische Macht nach der anderen ihren Bündnispartnern in eine kriegerische Auseinandersetzung folgte. So erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, das Deutsche Kaiserreich folgte seinem Bündnispartner und erklärte wiederum Russland als serbischem Bündnispartner den Krieg. Der lokale Konflikt um die Unabhängigkeit Serbiens entwickelte sich zum Weltkrieg.63
Der Erste Weltkrieg war geprägt von bis dahin unvorstellbarer Grausamkeit. Er zeichnete sich auf bedrückende Weise durch die neuen Möglichkeiten des Industriezeitalters aus, durch Materialschlachten und den Einsatz moderner Massenvernichtungswaffen, wie etwa Giftgas.64 Das Wachstum der Stahl-, Metall- und Chemieindustrie war Basis für die Herstellung enormer Mengen an Kriegsmaterial. Der Einsatz chemischer Kampfstoffe, die Entwicklung von Flugzeugen für den Luftkrieg und die Produktion von ersten Panzern stehen "sinnbildlich für die Industrialisierung der Kriegsführung".65
Bereits...
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