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MIT DEM BEGINN.
Ich gestehe, daß ich von meiner eigenen Geburt keinen blassen Schimmer habe. Ich sage nicht, daß man im Alter vergeßlich wird, weil: Das weiß jeder. Aber das erste, was ein Mensch von sich in Erfahrung bringen könnte, das vergißt er von seinem ersten Augenblick an. Das ist auch ein Grund, Kinder zu machen, nämlich, wenn auch etwas verspätet, in Erfahrung zu bringen, wie man selber auf die Welt gekommen ist. Die erste Geburt, von der ich weiß und die mich anging, war die meiner Tochter Esther.
Nahen lebenswichtige Ereignisse, haben Schauspieler Vorstellung im Theater. Das nennen Schauspieler Leben. Also kämpfte Frau Heidewig Waltraudis, geborene König, verehelichte Esche, den ersten großen Kampf ihres Lebens alleine aus, so wie alle Mütter der Welt. Und wie alle Mütter der Welt unvorbereitet. Im nachhinein wundert man sich dann, wie die Natur aus Ungelernten Meisterinnen macht. Bei meinen wiederholten Anrufen vom Theater nach dem Krankenhaus hieß man mich warten. Nach der Vorstellung die Geburtsstation im Friedrichshain erreicht, war die Auskunft, daß man über die Niederkunft noch nichts sagen könne außer, daß bei Komplikationen das Leben der Mutter Vorrang hätte. Mit diesem Satz, den ich nie mehr aus dem Sinn bekommen sollte, fuhr ich vom Friedrichshain nach Haus nach Friedrichshagen. Beide Dörfer in der großen Stadt Berlin sind nach dem gleichen Mann benannt und liegen 20 Kilometer voneinander entfernt. Friedrichshagen erreicht, verhieß der Anruf vom Friedrichshain: Kommen! Das Gesicht von Heidi fremd und schön, erschöpft und ängstlich nach der Geburt von Esther Juliane. Durch den nächtlichen Schneesturm mit dicken, nassen Flocken fuhr ich wieder nach Friedrichshagen. Am nächsten Tag, wieder im Friedrichshain, sah ich das kleine Bündel Mensch durch eine Glasscheibe. Ich hätte das kleine Bündel gerne berührt. Doch hieß man mich vor der Glasscheibe bleiben.
36 Jahre später kriegte das kleine Bündel seinerseits ein Kind. Die Glasscheiben schienen abgeschafft, auch wäre das Warten hinter ihnen recht zeitaufreibend gewesen, denn Esther und ihr zu erwartender Alfons Johannes ließen sich viel Zeit. Endlich, nach Wochen, der erlösende Anruf vom Vater Sebastian. Ihm ist es zu verdanken, daß Mutter und Kind das Ganze überlebten. Aus welchem Grund auch immer die Kontrolle der Herztöne des Kleinen einer vom Dienstpersonal der Charité unbeaufsichtigten Maschine überlassen blieb, als die Herztöne aussetzten, alarmierte Sebastian die schlafende Gemeinde. Dank ihm ging alles noch gut, und so hatte er in jeder Weise geholfen, mich zum Großvater zu machen. Da steht man natürlich draußen.
Bei der Ankunft von Jonathan Max, meinem Sohn, stand ich hinter einer Tür. Ich war gefragt worden, ob ich mein Dabeisein bei der Geburt wünschte. Annette, die Mutter, war einverstanden, und ich wünschte es. Als die Mutter mich bat, den Raum zu verlassen, verließ ich den Raum. Stillschweigend duldete man mich hinter der Tür. Jonathan hatte sich, es ist jetzt viereinhalb Jahre her, unter einem herrlich runden, monatelang wachsenden Bauch um 18 Uhr mit Wehen angekündigt. Seine ihn sehnlichst erwartende Mutter, die schon vom zweiten Monat an mit durchgedrücktem Hohlkreuz durch die Straßen von Berlin lief, als trüge sie bereits den dicken, schweren Bauch, war bang und konzentriert und schrie vor Schmerz und banger Lust bis in die Nacht hinein. Es ging auf eins zu. Um eins kam er! Als erstes sah ich ein blaues Beinchen, das konnte ich durch den Spalt der nur angelehnten Türe sehen. Drei Frauen standen und saßen um das Paar Mutter und Kind und taten, was zu tun war, effizient und ruhig. Natürlich war ich vorher gefragt worden, um jene eine Handlung zu begehen, zu der in solcher Situation, um ihnen ihr Alleingelassensein zu versüßen, Männer taugen. Doch jetzt stand ich verwirrt von den Schreien der Mutter, von der Angst um ihr Leben und der Erwartung auf das Kind hinter der Tür. Und dann öffnete man mir den Türspalt. Und dann hatte ich die Schere in der Hand. Und der erste Lebensschnitt meines Lebens gelang. Der Schnitt durch die Nabelschnur von Jonathan Max Esche. Und nun schrie der Kleine, und die Mutter weinte vor Glückseligkeit.
Was ich bei diesen drei Ereignissen lernen konnte, war: Das Überflüssigste bei der Geburt eines Menschen ist der Mann. Funktionell für den Anfang erwünscht, steht er am Ende im Weg rum. Aber glücklich.
Mein Vater hieß Fritz, er konnte bei meinen ersten Schreien keine Schere in der Hand gehabt haben, aus dem einen Grund: Er war nicht dabei. Das war im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts noch nicht üblich, und so kam ich ohne ihn zur Welt. In Leipzigs Süden, Ecke Bayrische Straße und Sophienstraße, die heute Shakespearestraße heißt. Nicht meinetwegen. Und von diesem Beginn an fehlen die nun folgenden viereinhalb Jahre als Erinnerung. Die erste Erinnerung in meinem Leben setzt ein mit dem Tod meines Vaters. An jenem warmen Sommertag durfte ich bis zum Nachmittag im Kindergarten bleiben. Und, was ich mir immer gewünscht hatte, ich durfte nach dem Mittagessen statt nach Hause zu gehen mit den anderen Kindern in den Schlafsaal. Nur das Schlafen, vor Aufregung über die Erfüllung des langgehegten Wunsches, das mißlang. Es war noch immer ein warmer Sommernachmittag, als ich mit Oma Hedwig nach Hause lief. In unserer Wohnung erblickte ich zu meiner freudigen Überraschung alle Tanten und Onkel und Omas und Opas. Die gesamte Familie und die Freunde waren versammelt. Und ich wunderte mich nicht, daß sie alle so lieb und so überaus zärtlich zu mir waren, aber fremd fand ich es schon, daß sie dabei alle so weinten. Schnell beschloß ich, das komisch zu finden, und zeigte das auch. Und seitdem ist mir der Satz »Er begreift noch nicht, was passiert ist« suspekt.
Das ist meine erste Erinnerung. Also beginnt von hier an mein Leben. Und sofort stellt sich die Frage, welche der nun folgenden Erinnerungen sollen preisgegeben werden? Alle die possierlichen Kindergeschichten? Alle die pubertären Jugendstreiche? Oder, Gott bewahre, die Geschichten vom hilflos Erwachsenwerdenden, mehr von Trieben gejagt, als von Verstandesähnlichem geleitet? Nein! Ich behalte meine Scham mal lieber für mich.
Ich könnte die Siege beschreiben? Ich will das nicht ausschließen, doch nachdenklich geworden, neige ich dazu, lieber den Niederlagen den Vorzug zu geben! Nicht, weil ich Niederlagen liebte oder sie gar zu meinem Lebensinhalt machte. Das wahrhaftig nicht! Nein, ich hatte einfach so viele davon. Und wovon man am meisten hat, davon kann man am meisten lernen: Also habe ich manches gelernt. Und wovon man gelernt hat, davon läßt sich am besten erzählen.
Nicht daß man ungelernt aus Siegen hervorgeht, man lernt Selbstvertrauen. Doch folgt dem Sieg keine Niederlage, schlägt Selbstvertrauen irgendwann und ganz gewiß in arroganten Schwachsinn um. Dieser mir selbst zugefügten Niederlagen entsinne ich mich peinlichst, und ich werde sie, wenn überhaupt, nur flüchtig erwähnen. Andrerseits, es bestünde in der Schilderung meiner Siege durchaus ein Vorteil, denn im Gegensatz zu meinen Niederlagen kann ich die Siege zählen, und das brächte mich schon gleich wieder zum Ende des Buches. Was aber im Gegensatz zu den Siegen steht, ist, daß die Erfahrung lehrt: Siege sind nie wirklich komisch. Niederlagen sehr oft. Siege machen dumm, in Niederlagen steckt der Keim der Wahrheitsfindung. Also wähle ich die Niederlagen.
»Die Kunst lebt von den Fehlern der Welt.« Sagt der Dichter Hacks.
Woran mein Vater starb, das kann ich nicht sagen, weil ich nur von später Aufgeschnapptem weiß. Mal war von der Leber die Rede und mal von den Nieren. Mal sprach man vom Bier, mal sprach man von seiner Angewohnheit, bei offenem Fenster Auto zu fahren und dabei den linken Arm aus dem Fenster zu lehnen. Vom Bier wäre mit Mühe auf die Leber zu schließen, vom offenen Fenster kaum auf Nierenschrumpfung. Und mein Vater war kein Trinker. Er war ein sehr fröhlicher Mensch und ein gesuchter Gesellschaftspartner. Und mit Sicherheit pfiff er, wenn er allein war, bei geöffnetem Fenster des rollenden Autos sich selbst zur Gesellschaft ein lustiges Lied. Nach seinen Schulzeugnissen zu urteilen war Fritz ein strebsamer Mensch. So ist anzunehmen, daß er ehrgeizig war. Und Fritz wollte mit Sicherheit nicht das bleiben, was er, wie sein Vater Karl Louis, war. So, um vorwärtszukommen, war er viel unterwegs. Als Reisevertreter für Damenunterwäsche und Trikotagen im heiteren Thüringer Land. Ich denke, das mit ins Grab genommene Familiengeheimnis war eine aus Erfurt verschleppte Geschlechtskrankheit.
Ich habe ihn sehr vermißt. Und wenn ich später die Verwandten mit ihren traurig zweifelnd zu Seite geneigten Lächelköpfchen mich fragen hörte, ob ich denn noch Erinnerungen an meinen Vater hätte, bejahte ich das stets eifrig, und wenn man mich, unverändert mitleidend, fragte, welche denn, erzählte ich alle Geschichten, die ich jemals über meinen Vater gehört und auf Photographien gesehen hatte. Geschichten vom gelegentlichen Biertrinken mit Freunden und sehr vielem Lachen, Geschichten von Kostümfesten mit seiner Marga und Geschichten vom Autofahren mit dem kleinen braunen Lieferwagen von Opel bei geöffnetem Fenster. Und wurde ich nach meinen Erzählungen noch immer von den Lächelköpfchen mit schweigender Nachsicht angeschaut, verstand ich die Erwachsenen nicht, denn meine Geschichten waren alle wahr. Und ich vermißte meinen Vater noch mehr, denn alles, was ich über ihn erzählte, hätte er ja bestätigen können. So kam es schließlich, daß ich seine Geschichten nur noch ihm erzählte. Was mir oft hilfreich wurde. Ich erzählte sie ihm vor seinem Grabstein, auf den Margarethe den...
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