Schweitzer Fachinformationen
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Alice Schwarzer rempelt mich an, als sie aus der besten Metzgerei der Stadt kommt, Wild- und Geflügelspezialitäten seit 1904 und eine seither sorgsam unveränderte Ladeneinrichtung. Offenbar hat die einstige Oberin der deutschen Frauenbewegung keine Zeit, auf Passanten zu achten, die an dem Geschäft vorbeigehen, aber genug Ruhe, um nach der Kollision mit mir stehen zu bleiben und ihre Blicke sprechen zu lassen. Der erste geht auf den Boden, auf dem ihr Einkauf liegt, Schwarzfederhuhn aus der Bourgogne vielleicht oder Sauglamm von den Husumer Deichen, ihr zweiter Blick fixiert mich und könnte eine Aufforderung sein. Vielleicht sollte ich mich dafür entschuldigen, mich nicht schnell genug vorwärtsbewegt und ihr den Weg freigemacht zu haben, vielleicht wäre es auch gut, Zerknirschung zu zeigen und aufzuheben, was ihr aus der Hand gefallen ist. Ich bin nicht sicher, so wenig, wie ich weiß, ob die Frau, die vor mir steht, tatsächlich die ist, die ich von Fotos und aus dem Fernsehen kenne. Ich lächle ihr kurz zu, gehe weiter in Richtung Apostelkirche und höre hinter mir das Wort Arschloch, deutlich und beherzt artikuliert. Die Stimme passt, aber ich drehe mich nicht um, um mich zu vergewissern. Die Anekdote wird sich besser erzählen lassen, wenn ich meinen Zweifeln nicht nachgehe, immerhin hat mich meine liebste Zuhörerin schon oft entlarvt. Dass ich an meiner Glaubwürdigkeit nicht zu feilen brauche, fällt mir erst nach ein paar Schritten ein. Karins heiseres Lachen werde ich nicht entfachen können.
Ein paar Häuser weiter finde ich das diskrete Klingelschild, das Siggi mir angekündigt hat, klingele und werde sofort hereingelassen. Durch ein verwittertes Treppenhaus gehe ich ein Stockwerk hoch, wo mich ein Mann erwartet, der Jurij sein muss. Er gibt mir die Hand und bittet mich in einen lichtgedämpften Altbauraum, dessen imponierende Größe sicher mehr als einer herausgerissenen Wand zu verdanken ist. Raumhohe Birkenstämme als Dekoration, Sessel und Sofas aus weißem Leder, schwere Kristallaschenbecher auf den Beistelltischen, glänzender Parkettboden. Privatklubatmosphäre. Jurij bietet mir einen Platz an, setzt sich mir gegenüber und fragt, was er für mich tun könne. Siggi, seit Jahren sein Kunde, habe ihm am Telefon etwas angedeutet, aber er will noch einmal von mir selbst hören, was ich brauche. Ich stolpere mich durch meine Geschichte, und Jurij bringt sie danach ungerührt auf den Punkt.
»Sie haben mit einer Wodkaflasche einen Anwalt niedergeschlagen und für zwei Tage ins Krankenhaus gebracht. Jetzt wollen Sie sich bei ihm dafür entschuldigen. Mit Wodka. Gutem Wodka, nehme ich an.«
»So ungefähr«, sage ich nur und bin sicher, ich muss nicht erwähnen, dass die Idee an Siggis Tresen entstanden ist.
Jurij nickt, steht auf und bittet mich, ihm zu folgen. Möglich, dass er täglich mit solchen Anliegen zu tun hat, wahrscheinlicher aber, dass er schon zu viel gesehen und gehört hat, um Idioten mehr als eine Frage zu stellen, wenn er mit ihnen sein Geld weniger aufwendig verdienen kann. Jurij stammt aus Weißrussland und ist irgendwann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hier gelandet. Siggi will etwas von einer Geheimdienstvergangenheit wissen, von Auftragsmorden, die Jurij Ende der Neunziger bei einem Wodkagelage gestanden haben soll, aber angeblich spielt Siggi auch Doppelkopf mit dem ehemaligen Koksdealer von Christoph Daum und hat in seinen Zwanzigern als Regierungsfahrer in Bonn Dinge gesehen, über die er immer noch nicht sprechen dürfe, obwohl sie ihn heute noch zu einem reichen Mann machen würden. Sicher scheint mir, dass Jurij ein alternder, taktvoller Schwuler ist, der in dieser Stadt gut aufgehoben sein könnte, und zu den altmodischen Geschäftsleuten gehört, die sparsam mit der Zeit ihrer Kunden umgehen und Diskretion nicht für eine sporadische Notwendigkeit halten, sondern für einen Arbeitsstil. Aus seinem Degustationsraum, wie er ihn nennt, führt mich Jurij auf einen schmalen Flur und von dort in ein Lager, in dem unzählige Wodkaflaschen auf Regalen stehen. Dutzende verschiedener Sorten, wahrscheinlich um die hundert.
»Ich würde zu einem Mix raten«, sagt Jurij, »und in Ihrem Fall ein bisschen investieren. Sechs Flaschen? Sechs gute Flaschen?«
»Gern.«
»Es gibt allerdings keine Sorte, die bekannt dafür wäre, aufgebrachte Leute von Anzeigen abzuhalten.«
Ich lache, fühle mich unerwartet wohl wie seit Tagen nicht mehr und würde gern Stunden in diesem Lager bleiben, im Moment sogar den Rest meines Lebens. Gewissenhaft und zum Glück ohne jede Eile sucht Jurij eine Flasche nach der anderen aus, legt sie in einen Metallkorb und gibt mir Erläuterungen, die ich mir unmöglich alle merken kann, die mich aber in eine entspannte, angenehm gleichgültige Stimmung versetzen. Jurij belästigt mich nicht mit Fragen nach meinen Wünschen, er trifft die Entscheidungen selbst und erzählt mir im Plauderton, was es zu erzählen gibt. Rechtsanwalt Fischer wird sich über einen traditionellen Honigwodka aus Aserbaidschan freuen können und über einen weltweit fast ausverkauften Beluga Gold, bei dem die besondere Kombination aus Malzalkohol und sibirischem Quellwasser zur Premiumqualität führt. Danach wählt Jurij einen Wodka mit Zedernussaroma aus, eine weitere Sorte aus Samara, deren innovative Destillierungsweise an die Prinzipien der Weinherstellung angelehnt ist, eine Pinienkernvariante, bei der auch die Kristallflasche beachtenswert ist, die in einem berühmten französischen Glaswerk hergestellt wurde, und schließlich einen schwarzen Wodka aus Polen, obwohl der Jurij selbst nicht ganz überzeugt.
»Die Qualität ist nicht so überragend wie die der anderen«, sagt er, »aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Deutschen sichtbare Effekte schätzen.«
Wir gehen wieder zurück in den Degustationsraum. Jurij sucht eine schlichte Geschenkkiste aus Holz aus, wieder ohne meine Zustimmung zu erfragen, und beginnt, die Flaschen hineinzulegen. Er ist fast fertig, als mein Handy klingelt und Ellens Nummer auf dem Display anzeigt. Ihr zwanzigster, vielleicht schon dreißigster Anruf. Ich habe keinen von ihnen angenommen und jedes Mal aufgelegt, wenn sie es mit einer unterdrückten Nummer versucht hat. Ich habe alle ihre Nachrichten auf der Mailbox gelöscht, ohne sie anzuhören, jede Mail und jede SMS ignoriert und niemandem von ihr erzählt. Mehr kann ich nicht tun, aber es scheint nicht zu reichen. Ich drücke den Anruf weg. Obwohl Jurij die Kiste inzwischen fertig hat, lässt er mir Zeit. Auf sehr aufmerksame Weise beachtet er mich nicht, bis sich der Aufruhr gelegt hat, den ich zu verbergen versuche, und ich ihn wieder ansehen kann.
»480 Euro«, sagt er.
Ich zahle mit Karte, Jurij verabschiedet mich im dunklen Hausflur und wünscht mir viel Erfolg. Als er sagt, dass ich mich jederzeit wieder an ihn wenden könne, klingt es in meinen Ohren so tröstlich, als gehe sein Angebot über Wodka hinaus.
Die Kiste auf den Knien, sitze ich Minuten später in der 16 und höre der jungen Frau neben mir zu. In ihr Handy beklagt sie sich über ihren sorglosen Freund, der sich schon wieder mit seinem Chef angelegt habe. Anscheinend teilt sie seine Ansicht, dass sein Arbeitgeber ein Arschloch ist, andererseits hält sie es für vernünftig, mit der eigenen Meinung hauszuhalten, wenn es um einen gutbezahlten Job geht. Sie spricht Deutsch, fällt aber immer wieder ins Türkische, meist zwei, drei Wörter, selten mehrere Sätze lang. Die Wechsel folgen keiner Regel und haben keinen Grund, außer womöglich dem, dass sie nicht auf ihren Reichtum verzichten will. Aus zwei Sprachen gießt sie sich eine zusammen, die sie so bruchlos spricht, wie ich sie höre und verstehe, obwohl ich mir auch diesmal vorkomme wie einer, der sein Ohr an eine geschlossene Tür presst.
Am Ubierring steige ich aus und schleppe meine Kiste über die Straße zum Rheinauhafen, wo der neue urbane Standard des Arbeitens und Lebens am Fluss inzwischen auch von dieser Stadt erfüllt wird. Ben hat hier am Ufer das Radfahren gelernt. Als es noch keine preisgekrönten Kranhäuser mit Glasfassaden gab und die alten Hafengebäude verfielen, war ich oft mit ihm hier, weil ich wissen wollte, ob ich dieses Wasser zu meinem Wasser machen kann. Ich konnte es nie. Inmitten dieser geheimnislosen Instantarchitektur, mein Blick auf dem Wiesenbrachland gegenüber, das nur an Wochenenden beachtenswert besiedelt wird, erscheint die Aussicht darauf, mir diesen Fluss irgendwann zum Klingen zu bringen, entfernter denn je.
Die Kanzlei, in der Rechtsanwalt Fischer Partner ist, liegt im ehemaligen Hafenspeicher, in dem hundert Jahre nach seiner Errichtung kein Korn mehr verladen mehr muss, um Geld zu verdienen. Eine Assistentin bringt mich in einen kleinen Konferenzraum. Ich stelle meine Kiste auf den Tisch, lehne den angebotenen Kaffee ab und frage mich, ob Fischers Mitarbeiterin weiß, dass ich ihren Chef niedergeschlagen habe, und ob das für oder gegen mich spräche. Dass ihm etwas geschehen ist, was besser nicht geschehen wäre, sieht man Fischer an, als er hereinkommt. Die Stirn hat sich stellenweise ins Grünliche verfärbt, ein größeres Pflaster überdeckt die vernähte Platzwunde, die ich ihm zusammen mit einer Gehirnerschütterung zugefügt habe.
»Wie geht es Ihnen?«, sagt Fischer.
»Wie geht es Ihnen?«, frage ich und bekomme die Antwort, die ich verdiene.
Der Mann hat Kopfschmerzen, eigentlich ununterbrochen, zudem verwirrende Sehstörungen, die ihn immer wieder aus heiterem Himmel überfallen, und schlecht schläft er auch.
»Am schlimmsten sind die...
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