Schweitzer Fachinformationen
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Wo ist Ihre Tasche?, fragte Kagraner, als er einige Wochen später auf der Terrasse des Cafés plötzlich wieder vor mir stand. Sie werden sie doch nicht einfach entsorgt haben? Nein, nein, sagte ich und schob die Pläne und Kostenvoranschläge, die ich vor mir auf dem Tisch ausgebreitet hatte, zusammen, sie ist zu Hause. Aber bitte, sagte ich, nehmen Sie doch Platz, und wies auf die Bank gegenüber. Danke, sagte Kagraner, sehr freundlich. Denn sehen Sie, sagte er, mein Freund, der die gleiche Tasche hatte wie Sie, zumindest bin ich weitgehend davon überzeugt, sagte er, weswegen ich Sie auch kürzlich belästigt habe, war nicht wirklich mein Freund, auch wenn wir eine gewisse Zeit gemeinsam im Ausland verbracht hatten. Nein?, sagte ich. Nein, sagte Kagraner, leider. Aber er besaß eine Eigenschaft, eine höchst seltene Eigenschaft!, die ihn über unseren kurzen gemeinsamen Auslandsaufenthalt hinaus fast zu meinem Freund hätte machen können. Und die wäre?, fragte ich. Wie meinen Sie?, sagte Kagraner. Die Eigenschaft, sagte ich, die ihn fast zu Ihrem Freund hätte machen können, worin bestand die? Ich konnte mich stundenlang mit ihm unterhalten, sagte Kagraner, ohne dass mir auch nur eine Minute langweilig geworden wäre. Das gibt es?, fragte ich. Gab es, sagte Kagraner, was ich sehr bedaure. Denn er war nicht nur witzig und voll überraschender Wendungen im Gespräch. Und er sprach nicht nur über sich, denn natürlich sprach er auch über sich und durchaus nicht ungern, sagte Kagraner, aber das immer offen und knapp und auf das Wesentliche und auch für mich Interessante beschränkt. Sondern er konnte vor allem eines, und das war die herausragende Eigenschaft!, eine Eigenschaft, die ich weder vor ihm noch nach ihm je auch nur in Bruchstücken, falls man das so sagen kann, angetroffen hätte! Er konnte zuhören. Und Sie können sich nicht vorstellen, sagte Kagraner, was für ein außerordentliches Vergnügen es bereitet, jemanden zu erleben, der zuhören kann. Bei dem man in jedem Moment die Gewissheit hat, der hört wirklich zu! Das ist einmalig, sagte Kagraner, wirklich einmalig! Sie können ihm die persönlichsten Dinge erzählen. Sie haben sogar das Gefühl, was ihn wirklich interessiert, das sind Ihre persönlichsten Dinge. Sie fühlen sich sofort verstanden. Sie spüren Verbindlichkeit, Wärme, Anteilnahme. Er gibt keine Ratschläge, Ratschläge nie!, nie Ratschläge!, rief Kagraner aus, aber er stellt die richtigen Fragen, sodass Sie allein durch diese Fragen Ihre persönlichen Angelegenheiten in einem neuen und klareren Licht sehen. Ihnen fallen Dinge auf, die Ihnen bisher nicht aufgefallen sind. Und das freut ihn. Das bringt er auch zum Ausdruck, dass ihn das freut. Alle Bedenken, jemand anderen könne das nie und nimmer interessieren, was Sie zu erzählen haben, hat ja auch bisher niemanden interessiert!, sagte Kagraner, sind im Gespräch mit ihm wie weggeblasen. Er möchte immer mehr wissen, immer genauer erfahren, was Ihr Problem ist. Aber nicht aus Neugier, sagte Kagraner, das merken Sie sofort, nicht aus Neugier!, nie aus Neugier!, sondern aus wirklichem Interesse an der Sache. Verstehen Sie? Sie haben das Gefühl, frei von der Leber weg sprechen zu können. Sie können Dinge eingestehen, benennen, die Sie niemandem sonst gegenüber, auch sich selbst gegenüber nicht!, eingestehen und benennen würden. Die einzugestehen und zu benennen Sie auch noch nie Anlass gehabt haben. Und Sie haben auch nicht den Eindruck, und das ist überaus bemerkenswert!, sagte Kagraner, etwas einzugestehen. Sie sagen es einfach. Alles erscheint im Gespräch mit ihm vollkommen selbstverständlich. Tatsächlich?, sagte ich. Sie glauben mir nicht?, fragte Kagraner. Das verstehe ich gut, dass Sie mir nicht glauben, sagte er, ich würde Ihnen wahrscheinlich auch nicht glauben. Ich würde selbst mir nicht glauben, sagte Kagraner, wenn ich nicht genau wüsste, dass diese Person existiert hat, dass ich sie gekannt habe. Ein Sozialhelfer?, fragte ich. Sozialhelfer?, sagte Kagraner. Wieso Sozialhelfer? Überhaupt kein Sozialhelfer! Auch kein Psychologe oder Mediator. Also ein Wunder, sagte ich, ein Heiliger. Beinahe, sagte Kagraner und lachte. Aber das Interessante ist, sagte er, und das ist wirklich interessant, dass die Nähe, die in diesen Gesprächen hergestellt wurde, kaum war das Gespräch weg, auch weg war. Weg?, sagte ich. Und wie weg!, sagte Kagraner. Was meinen Sie mit weg?, fragte ich. Weg, sagte Kagraner, einfach weg. Es gab keine Anrufe, keine weiteren Treffen. Wo man doch glauben könnte, die Dinge, die man besprochen hat, würden zumindest einen Anruf nach sich ziehen, eine Nachfrage, wie das oder jenes ausgegangen sei. Nichts. Gar nichts. Kein Bedürfnis, mit mir in Verbindung zu treten. Nicht, weil er sich vor den Gesprächen mit mir gefürchtet hätte, sagte Kagraner. Ich denke, es gab keinen Grund, sich vor einem Gespräch mit mir zu fürchten. Aber jedes Mal, wenn wir uns trafen, sagte Kagraner, und nach unserem gemeinsamen Auslandsaufenthalt trafen wir uns immer nur zufällig, war er überaus erfreut, und jede Menge Wärme und Anteilnahme kam auf, und stundenlang konnten wir an einer Ecke stehen oder stundenlang in einem Café sitzen und reden, als wären wir die besten Freunde. Was er ja nicht hätte tun müssen, sagte Kagraner, stundenlang mit mir irgendwo stehen oder sitzen. Er hätte auch freundlich grüßen und an mir vorübergehen können. Das wäre doch durchaus ein Verhalten im Rahmen der Normalität gewesen. Aber nein!, sagte Kagraner, er ging nicht vorüber! Und ich hatte nicht den Eindruck, aus schlechtem Gewissen. Aber Freunde im engeren Sinne, sagte Kagraner, sind wir trotzdem nicht geworden. Und dennoch hatte ich Lust, ja, das Bedürfnis!, sagte Kagraner, das will ich nicht leugnen, hätte ich auch damals nicht leugnen können, ihn öfter zu treffen, ihn immer wieder zu treffen, ihn kontinuierlicher zu treffen. Aber er nicht, sagte Kagraner, er hatte das Bedürfnis nicht. Mich gab es für ihn nicht, wenn ich nicht da war. Nur wenn ich da war, sagte Kagraner, dann gab es mich. Dann hatte er immer viel Zeit für mich.
Eigentlich hätte ich diesen Herrn, der mich an jenem sonnigen Nachmittag so unvermittelt angesprochen hatte, gern mit scharfen Worten zurechtgewiesen. Denn seit Stunden brütete ich schon, jede Menge Kaffee trinkend und ohne mich vom Fleck zu bewegen, über Kostenvoranschlägen und Berechnungen die Erneuerung meines Dachstuhls betreffend, die sich aber für mich als unüberschaubar und letztlich als zu kompliziert erwiesen. Die Zahlen gerieten mir durcheinander und ich hatte kaum noch Lust, mich weiter damit zu beschäftigen. Aber in Anbetracht des angekündigten, eine Weile anhaltenden Schönwetters mussten die Arbeiten in Auftrag gegeben werden, und zwar unverzüglich.
In dieser Phase sprach er mich an, ohne jede Rücksicht auf den prekären Zustand, in dem ich mich befand, den er, so meine Überzeugung, hätte erkennen müssen. Noch dazu mit Erwähnung einer Tasche, die ich in diesem Moment mit den vor mir liegenden Unterlagen über Größen und Farben von Dachziegeln und über die Tragfähigkeit von Dachbalken in keinerlei Zusammenhang bringen konnte. Erst beim zweiten Hinschauen hatte ich den Eindruck, den Herrn irgendwo schon gesehen zu haben. Und beim dritten Mal fiel mir ein, woher ich ihn kannte. Und von welcher Tasche er sprach.
Nichtsdestotrotz war ich fest entschlossen, mit dem Hinweis, ein wichtiger Termin stünde an und ich könne leider nicht bleiben, das Café zu verlassen und in einem anderen meine Arbeit fortzusetzen. Nicht ohne den Herrn, während ich meine Papiere ordnete, zu bitten, doch inzwischen Platz zu nehmen. Aber die Geschichte über seinen vermissten Freund, die er daraufhin ohne Umschweife, beinahe in Form einer Überrumpelung, zu erzählen begann, ohne sich weiter um mich zu kümmern, und die Art, wie er sie erzählte, fand ich dann doch bemerkenswert. Sodass ich sitzen blieb, meine Berechnungen, die gute Gelegenheit nützend, sein ließ und mir die Geschichte anhörte.
Woraufhin es mich auf dem Heimweg wurmte, nicht, meine dringenden Planungsarbeiten vernachlässigt zu haben, sondern Kagraner, wie er sich mir gegenüber mit Namen vorgestellt hatte, nicht gleich das Angebot gemacht zu haben, ihm die Tasche zu schenken. Ich hatte nicht wirklich mehr Verwendung für sie. Dass ich sie damals, bei unserem ersten Treffen, dabeihatte, war Zufall. Als ich sie aber dann, daheim angekommen, aus dem Schrank nehmen wollte, um sie für Kagraner bereitzulegen, kam es mir doch etwas unpassend und aufdringlich vor, ihm ein derartiges Geschenk zu machen. Ich kannte Kagraner ja kaum. Auch die Anteilnahme an seiner Geschichte und am Verlust seines Freundes, von der ein solches Geschenk wohl unweigerlich zeugen würde, erschien mir in diesem Moment etwas übertrieben, wenn nicht gar peinlich. Vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, dachte ich und beschloss, die Tasche bis dahin pfleglich zu behandeln,...
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