Schweitzer Fachinformationen
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»Wa'umh hat der Junghe einh Ba-hath?«
Die Frage war völlig berechtigt, und alle lachten, als Heinrich sie laut herausbrüllte. Heinrich war der siebenjährige Sohn der Familie Hullemann; der Junge mit dem Bart war Raffael von Koppenstein, genannt Raffi, der gerade an der Hand seiner Mutter Claire durch die offen stehende Tür ins Haus der Hullemanns hineinmarschiert war: Die Hullemanns hatten ihre alten Freunde, die von Koppensteins, zum Essen eingeladen.
Heinrich Hullemann war auffällig groß und kräftig für sein Alter - so groß und kräftig, dass seine Eltern dazu übergegangen waren, seine Mahlzeiten zu rationieren und bestimmte, besonders kalorienhaltige Lebensmittel und Getränke vollständig aus ihrem Haushalt zu verbannen. Seine Stimme war sehr laut. Er brüllte mehr, als dass er sprach, was damit zusammenhing, dass er seit seinem ersten Lebensjahr an einem hartnäckigen Dauerschnupfen mit beidseitigen Paukenergüssen litt und deswegen schlecht hörte. Er musste schreien, um sich selbst zu verstehen. Wenn er mit seiner Schwester Lene im Garten spielte, konnte man ihn in der ganzen Siedlung hören; die Nachbarschaft war durch das Gebrüll, das seine normale Sprechstimme darstellte, immer über seinen Aufenthaltsort informiert.
Dauerschnupfen und Paukenergüsse hatten sich bisher allen Behandlungsversuchen widersetzt, obwohl Heinrich auf Anweisung seines Vaters, eines schwer arbeitenden, von der vielen Arbeit ganz ausgelaugten Oberarztes, täglich seine Übungen mit dem »Nasenballon« machte. Das war ein Luftballon, in dessen Öffnung man ein speziell dafür vorgesehenes Röhrchen schob, das man dann in ein Nasenloch steckte. Wenn man das andere Nasenloch zuhielt, konnte man den Ballon durch das Röhrchen hindurch mit der Nase aufblasen. Was dabei außer Luft noch alles aus Heinrichs Nasenlöchern herauskam, war unbeschreiblich, und das Röhrchen bedurfte täglich gründlicher Reinigung und Desinfektion. Zur Belohnung durfte sich Heinrich nach jeder erfolgreichen Sitzung mit dem Nasenballon die sogenannte »Sendung« auf dem iPad ansehen - eine Folge der Sendung mit der Maus nämlich, die Tinchen, seine Mutter, für pädagogisch besonders wertvoll hielt. Heinrich hatte schon Hunderte von »Sendungen« konsumiert; die Rotznase und die Schwerhörigkeit waren ihm geblieben.
Es gab auch noch andere, schwerer zu greifende und zu deutende Probleme, denen die Hullemanns seit Jahren mit der Hilfe von Ergotherapeutinnen, Logo- und Motopädinnen zu Leibe zu rücken versuchten, und vielleicht arbeitete Klaus-Werner Hullemann, der Internist, auch deshalb so viel und von Jahr zu Jahr mehr (bis er am Abend vor Erschöpfung kaum noch sprechen konnte), um den vielfältigen Schwierigkeiten seines Sohnes nicht ganz so oft aus nächster Nähe ins Auge blicken zu müssen. Die fünfjährige Lene, Heinrichs Schwester, schien sich dagegen bisher sehr gut und wie vorgesehen zu entwickeln. Sie hatte nur von ihrem Bruder die Angewohnheit übernommen, sehr laut zu reden, und war davon auch nicht mehr abzubringen: So, in dieser Lautstärke, redete man eben, wenn man ein Kind war, anders ging es nicht, und sie musste sich ja auch irgendwie Gehör verschaffen.
Im gefliesten Eingangsbereich des Hullemann-Hauses, in dem sich jetzt sieben Personen drängten, lagen und standen überall viele Spielsachen der Kinder aus auffällig stabilem und buntem Plastik und viele von den Kindern erstellte Bastelarbeiten herum. An der Wand gleich neben der Haustür hing ein selbst gemachter Fotokalender, und auf dem Augustfoto von Heinrich und seiner Schwester (beide in langärmligen UV-Schutzhemden) war noch mehr buntes Plastikspielzeug mit abgebildet: ein ganzes Haus aus Plastik mit einer Tür, Fensterläden und Fensterbrettern aus farblich abgesetztem Plastik, in das man hineingehen und in dem man Plastikobst auf Plastikgeschirr servieren konnte, wenn man klein genug war, was auf Heinrich schon nicht mehr zutraf, und ganz im Vordergrund das blaue Plastikgewirr eines Aquaplay-Bahnsystems mit allem Zipp und Zapp. Das Bild zeigte einen etwas jüngeren und dicklicheren Heinrich in Nahaufnahme, mit unvermeidlicher Rotznase, offen stehendem, schlaffem Mund - er konnte ja nicht durch die Nase atmen - und einer babyblauen Schirmmütze mit Nackenschutz aus Baumwollstoff. In der Hand hielt er ein Plastikboot, das er konzentriert betrachtete. Lene turnte glücklich und etwas verschwommen irgendwo im Hintergrund herum; beide Kinder hatten auffallend rote Wangen. (Übrigens wurden die Hullemanns von ihren Gästen, den von Koppensteins, zu Hause, wenn es niemand hören konnte, immer nur »die Hullis« genannt. Claire fand, dass der Name unglaublich gut zu ihnen passte: Die Hullis, das klang gutmütig und nett, aber auch ein bisschen beschränkt und langsam und grobschlächtig, und das waren die Hullis auch, jedenfalls im Vergleich zu ihnen, den von Koppensteins, fand Claire.)
»Wa'umh hat ea jetz eigligh einh Bath?« Im Trubel der wechselseitigen Begrüßungen war Heinrichs Frage bisher unbeantwortet geblieben. Sie war auch nicht leicht zu beantworten.
Der Bart. - Der Bart war ein ellipsenförmiges Stück Webpelz mit langen, verfilzten Zotteln, das sich an Raffis Kinn schmiegte und links und rechts mit zwei Gummischlaufen an seinen Ohren befestigt war. Besonders irritierend daran war, dass die Zotteln exakt den gleichen Farbton hatten wie Raffis eigene, ebenfalls ziemlich lange und lockige Haare: ein dunkles Blond oder helles, cremiges Braun, die Farbe von sehr milchigem Milchkaffee, mit einem leichten Messingglanz darin. Der Gesamteffekt war irgendwie maritim oder hanseatisch: ein dunkelblonder Kinnbart ohne Oberlippenbart, der bis zu den Ohren reichte und auch noch einen Teil des Halses bedeckte, wie bei einem alten Seebären oder einem Matrosen auf dem Cover einer Seemannslieder-CD; nur der Ringelpullover und die Pfeife fehlten.
Claire lachte, während sie versuchte, auf Heinrichs Frage zu antworten: Sie war stolz darauf, wie witzig und originell ihr Sohn war. (So viel Originalität ließ eine ganz besondere Zukunft erwarten, keine Nullachtfünfzehn-Zukunft in einem Nullachtfünfzehn-Job, über die manche Kinder anderer Eltern - der arme Heinrich hier zum Beispiel - in Zukunft wahrscheinlich sogar froh sein konnten!)
Der Bart stammte aus einer Verkleidungskiste, die ein Weihnachtsgeschenk von der Oma gewesen war. Raffi hatte es sich, das war noch in Maryland gewesen, »einfach so« angewöhnt, nie, nie, nie ohne seinen Bart aus dem Haus zu gehen, und jetzt mussten sie alle jeden Morgen »stun-den-lang« nach dem verfluchten Bart suchen, der natürlich jeden Morgen von Neuem verschwunden war und sich immer an den unwahrscheinlichsten Stellen versteckt hielt. »Mama, wo ist mein Bart?« - Das war eine Frage, die sie alle schon nicht mehr hören konnten, und wie es hygienemäßig um ein Stück Stoff bestellt war, das täglich viele Stunden lang von einem Fünfjährigen am Kinn spazieren getragen wurde, darüber musste man vermutlich kein Wort verlieren.
Jeden Morgen, wenn Niko sich im Bad rasierte, legte Raffi - gewissermaßen invers - seinen Bart an. Bei ihrem Flug nach Deutschland war der Bart fast ihre (Claires) größte Sorge gewesen, weil sie erstens befürchtet hatte, dass er irgendwo zwischen Washington und München verloren gehen könnte (»Ka-ta-stro-phe!«), und zweitens, dass sie möglicherweise am Flughafen ins Visier eines automatischen Gesichtserkennungssystems geraten würden und sie alle des Bartes wegen als islamistische Terroristen verdächtigt und festgenommen werden würden. »Wahrscheinlich werden wir wegen dem blöden Bart von der NSA überwacht! Mit Drohnen oder so!«
Diese Einzelheiten sprudelten mit viel Gelächter wie mit Kohlensäure vermischt aus Claire heraus, noch bevor sie ihre Jacken und Mäntel ausgezogen hatten. Beim Reden wandte Claire sich abwechselnd an Heinrich und an seine Eltern; mit Heinrich sprach sie in möglichst einfachen Worten und Sätzen und hob sich ihre Ironie, die geistreichen Formulierungen und die Fremdwörter für Christine und Klaus-Werner auf.
Das alles war ein bisschen viel auf einmal für die armen, arglosen Hullis. Klaus-Werner - oder einfach Werner (so nannten ihn seine Freunde; auf seinem Arztkittel kürzte er seinen Namen mit Dr. K.-Werner Hullemann ab) -, dem die Nachtschicht im Krankenhaus und sein ganzes entbehrungsreiches Leben im Dienste der Menschheit oder auf der Flucht vor seiner Familie noch in den Knochen steckte, blinzelte ganz langsam mit den schweren Augenlidern, als ob er kurz davor wäre, vor Erschöpfung ohnmächtig zu werden. Seine Nase glänzte rot, und seine Nasenflügel zuckten. Er wollte etwas sagen, aber seine Kräfte reichten nicht für eine Erwiderung. Vor lauter Müdigkeit hatte er ohnehin fast kein Wort von dem verstanden, was Claire ihnen erzählt hatte. Ihre Stimme kam bei ihm als eine Art angenehmes und fröhliches, auf seine Art erfrischendes, aber komplett unverständliches Vogelzwitschern an. Mit letzter Kraft, nur noch von seinem Pflichtbewusstsein als Gastgeber am Laufen gehalten, nahm er Claire den Mantel ab und hängte ihn auf einen Bügel.
Christine, die hübsche, tapfere, auffällig rotwangige Hulli-Mutter, die als Lebensmittelchemikerin in Teilzeit bei einem Kräuterquarkhersteller arbeitete, ihre Nachmittage zwischen der Koordination der Therapietermine für Heinrich und der Beschaffung neuer Plastikspielzeuge (bevorzugt mit dem »Spiel-gut«-Siegel) aufteilte und die Abende oft ganz allein verbrachte, während ihr Mann sich für fremde Menschen aufrieb, die sich nie beklagte und sich niemals die Frage stellte, womit sie eigentlich ein solches Leben verdient hatte, lächelte unsicher. Wie...
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