Schweitzer Fachinformationen
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An einem Morgen in der ersten Märzwoche war es so weit. Als Cornelius aufwachte, sich auf dem rechten Ellenbogen abstützte und mit der linken Hand nach Jenny tastete, spürte er beinahe sofort, dass etwas anders war. Eigentlich spürte er nichts, und genau das war der Unterschied. Die rechte Schulter war wieder belastbar, und die linke Hand tat nicht mehr weh. Das bedeutete, dass er Ichiro Masamoto anrufen musste.
Cornelius stand auf, bereitete das Frühstück vor und weckte dann Jenny. Ihr Zustand hatte sich gebessert, insbesondere, was die Depression und die Angst betraf. Sie war wieder in der Lage, allein das Haus zu verlassen, um irgendwelche Besorgungen zu erledigen, und stand in telefonischem Kontakt mit ihren Kollegen aus der Redaktion. Zweimal war sie inzwischen bereit gewesen, kurz mit ihm über den Angriff zu sprechen, aber es hatte sie nicht entlastet oder irgendetwas zur Erklärung beigetragen. Der Mann war plötzlich auf der Schwelle der Garage aufgetaucht und hatte dieses merkwürdige Ding auf sie gerichtet. Dann hatte der unbeschreibliche Schmerz sie niedergestreckt, und ein Dämon, der sich als Ärztin ausgab, war auf ihrem Brustkorb herumgetobt. Diese Frau hatte ihr erzählt, was Cornelius vor ihrem Eintreffen in der Garage getan hatte, aber Jenny selbst wusste nichts davon. Überhaupt schien die Erinnerung an den Abend zu verblassen wie ein altes Foto in der Sonne. Vielleicht ein Verdienst der Psychotherapeutin, die ihnen geraten hatte, ab dem Monat April unbedingt wieder zu arbeiten und zur Normalität zurückzufinden.
Sie frühstückten ausgiebig, und Jenny las ihm wie früher aus der Zeitung vor, was Cornelius sehr erleichterte. Es war ein Morgenritual, das sie nach dem Überfall abrupt aufgekündigt hatte. Dass sie es von sich aus wieder aufnahm, war ein gutes Zeichen. Die Nachrichten selbst waren wie immer höchst unerfreulich. »Wahlen in Amerika, Abgasskandal bei VW, brennende Flüchtlingsheime in Sachsen, irgendwas, das du genauer hören willst? Das hier könnte dich interessieren.« Jenny faltete die Zeitung neu und veranstaltete ein umständliches Geraschel, das er liebte. »Kennst du einen gewissen Derek Fitzwilliam aus Oxford?«
»Ein englischer Kunsthistoriker. Ist der nicht gestorben?«
»Im letzten Sommer. Scotland Yard hat jetzt offiziell verkündet, dass es Selbstmord war. Wegen irgendeiner Sexgeschichte. Willst du das hören?«
»Um Gottes willen, nein. Gibt es sonst nichts?«
»Noch eine weitere Nachricht aus der Welt der Kunstgeschichte. Offenbar lauter schwarze Schafe in deiner Branche. Dein berühmter Kollege Franz Nikolai muss seinen Posten an der Münchner Uni endgültig räumen. Hat angeblich drei Viertel seiner Doktorarbeit abgeschrieben und jetzt das letzte Widerspruchsverfahren verloren.«
»Interessiert mich auch nicht. Schau noch einmal in den Sportteil.«
Das Frühstück verlief harmonisch wie schon lange nicht mehr. Jenny las ein paar Sportnachrichten vor und erzählte ihm dann, dass sie am Vormittag ihre Kollegen in der Redaktion des Generalanzeigers besuchen und mittags mit einer Freundin shoppen und essen gehen wolle. Cornelius freute sich und bestärkte sie in dem Plan. Nachdem sie aus dem Haus war, rief er in der Kampfkunstschule an.
Ichiro Masamoto empfing ihn am Nachmittag im Dojo. Wieder kam er gleich und ohne Umschweife zur Sache. »Wir sind allein hier, und das aus gutem Grund«, sagte er. »Ich will ein paar Dinge besprechen, die nicht für fremde Ohren bestimmt sind. Bitte kleiden Sie sich um.«
Der Japaner hatte eine charmant altmodische Art, sich auf Deutsch auszudrücken, die Cornelius immer schon erheiternd gefunden hatte.
Das nun folgende fünfundvierzigminütige Aufwärmprogramm und Konditionstraining war weniger erheiternd. Am Ende saß Cornelius schweißgebadet und zitternd im Lotussitz auf dem Boden der Halle und verspürte heftige Schmerzen in Muskeln, von deren Existenz er nichts geahnt hatte.
Masamoto ließ sich ihm gegenüber auf dem Hallenboden nieder und schien ihn eine Weile aufmerksam zu betrachten. »Sie sind ziemlich außer Form, aber nicht so sehr, wie ich befürchtet habe. Beruhigen Sie Ihren Atem und sagen mir, wann Sie wieder zuhören können.«
»Jetzt.«
»Gut! Haben Sie über die Frage, die ich Ihnen vor einiger Zeit gestellt habe, nachgedacht? Sind Sie dazu fähig, jemandem starke körperliche Schmerzen zuzufügen?«
»Ja!«
»Wir werden sehen. Was ich Ihnen beibringen will, dauert etwa drei Monate. Rechnen Sie mit zwanzig Trainingseinheiten von jeweils zwei Stunden. Bilden Sie sich nicht ein, dass Sie danach für einen Nahkampf gerüstet sind, aber Sie werden ein paar sehr schmutzige Tricks beherrschen, die zusammen mit dem Überraschungseffekt Ihre Haut retten könnten. Wie es anschließend weitergeht, entscheiden wir dann. Ich will kein Geld von Ihnen, aber ich verlange, dass Sie pünktlich erscheinen und ernsthaft trainieren. Außerdem möchte ich, dass Sie weiterhin zum Judo kommen.«
»Selbstverständlich!«
»Lassen Sie mich ein paar Dinge vorausschicken, die mit Ihrem speziellen Handicap zu tun haben. Danach höre ich mit dem Gerede auf, und wir beginnen mit der Praxis. Ihre Blindheit ist definitiv ein erheblicher Nachteil. Sie erschwert Ihnen zu wissen, wo genau ein Angreifer sich befindet und was er unmittelbar vorhat. Doch in einer Hinsicht relativiert sich dieser Nachteil ein wenig: Sie können zwar einen Schlag nicht kommen sehen, aber ich verrate Ihnen etwas: Niemand kann das. Einen schnell und entschlossen ausgeführten Schlag ins Gesicht kann überhaupt niemand kommen sehen, um ihm auszuweichen oder ihn zu blocken. Muhammad Alis Phantom-Punch gegen Sonny Liston haben damals nicht mal die Fernsehkameras mitbekommen.
Ganz allgemein ist es Unsinn, unter der Prämisse zu trainieren, dass man gute Sichtverhältnisse hat. Im normalen Alltag ist es nicht wie im Dojo oder in einem ausgeleuchteten Boxring. Im wirklichen Leben wird man vielleicht im Dunklen angegriffen, Scheinwerfer können einen blenden, Rauch liegt in der Luft, Menschen oder Objekte stehen im Weg und nehmen einem die Sicht. Alles Gründe, warum man sich nicht allzu sehr darauf verlassen sollte, dass man etwas sieht.
Was also können wir tun? Wir müssen die Sinne schärfen, die Ihnen zur Verfügung stehen, und Ihre Instinkte verbessern. Wie in der Legende von Zatoichi, dem blinden Samurai. Kennen Sie die Geschichte?«
Cornelius nickte. Jenny hatte ihm davon erzählt.
»Sie müssen werden wie er. Mir ist aufgefallen, dass es Ihnen oft gelingt, Personen, mit denen Sie sprechen, scheinbar anzuschauen. Wie machen Sie das?«
»Ich habe gelernt, dass menschliche Stimmen anders klingen, wenn sie direkt auf mich gerichtet sind, und bemühe mich aus Höflichkeit, in ihre Richtung zu sprechen.«
»Heißt das, Sie können den Herkunftsort einer Stimme in etwa orten?«
»Ich denke schon.«
»Gut. Wie Sie wissen, sitze ich Ihnen gegenüber. Was denken Sie, wie weit mein Kopf von Ihnen entfernt ist?«
»Etwa eine Armlänge.«
»Überprüfen Sie es.«
Cornelius streckte einen Arm gerade nach vorn, aber da war nichts. »Sie haben sich bewegt.«
»Nein, Sie haben sich verschätzt!«
»Um wie viel?«
»Zwanzig Zentimeter. Wenn ich jetzt um diese zwanzig Zentimeter näher an Sie heranrücke, befindet sich mein Kopf tatsächlich in Ihrer Reichweite. Probieren Sie es.«
Cornelius streckte erneut den Arm aus, und seine Finger strichen über Masamotos Gesicht. Der alte Mann knurrte zufrieden. »Gut. Das ist Ihre Reichweite, ohne dass Sie den Rumpf vorbeugen oder die Schulter einsetzen. Stellen Sie sich jetzt hin.«
Cornelius erhob sich und registrierte, dass Masamoto mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung ebenfalls auf die Beine kam. »Wir trainieren zuerst das Einschätzen der Reichweite, und ich helfe Ihnen, indem ich laut zähle. Prägen Sie sich ein, wie meine Stimme klingt, wenn ich in Ihrer Reichweite bin. Später müssen Sie ohne diese Hilfe auskommen. Ich werde mich nicht zur Seite bewegen, sondern nur auf Sie zu und von Ihnen weg.«
Masamoto begann mit halblauter Stimme zu zählen und trat an ihn heran.
»In Reichweite«, sagte Cornelius.
Der Japaner trat einen Schritt zurück.
»Außer Reichweite.«
»Richtig«, sagte Masamoto.
So ging es die nächste Stunde weiter. Irgendwann begann Masamoto ihn zu umkreisen. Cornelius bewegte sich mit, lauschte konzentriert auf die Stimme des Alten und versuchte unverdrossen den Abstand zu ihm einzuschätzen. Am Anfang lag er oft daneben, aber nach und nach verringerte sich die Fehlerquote. Schließlich blieb der Trainer vor ihm stehen.
»Wissen Sie, wo genau sich mein Kopf befindet?«
»In Reichweite.«
»Versuchen Sie, ihn mit der rechten Faust zu treffen. Langsam und vorsichtig, versteht sich.«
Cornelius setzte zu einem veritablen Faustschlag in Super-Slow-Motion an, traf Masamoto aber nur seitlich an der rechten Schläfe, obwohl dieser kontinuierlich weiterzählte. Auch die nächsten beiden Schläge verfehlten das Gesicht.
»Wir versuchen jetzt, Ihre Treffsicherheit zu erhöhen. Greifen Sie mit der linken Hand nach meinem Genick, reißen Sie meinen Kopf zu sich heran und schlagen Sie mit der rechten Faust dreimal nacheinander in mein Gesicht.«
Vorsichtig und in Zeitlupe folgte Cornelius den Anweisungen, und tatsächlich traf er jetzt jedes Mal die Nase.
»Viel besser«, sagte Masamoto. »Jetzt bewegen Sie beide Hände nach unten, so dass Ihre...
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