Schweitzer Fachinformationen
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Als Kaltenbach von dem Toten am Kandel erfuhr, hatte er eben gerade einen Abschluss getätigt, von dem er annehmen musste, dass er ihn noch tiefer in finanzielle Nöte stürzen würde. Zumal es auf das Monatsende zuging und der Umsatz in ›Kaltenbachs Weinkeller‹ im Emmendinger Westend in den letzten Tagen nicht eben gerade gut gelaufen war. Doch solche Überlegungen waren in den Hintergrund getreten angesichts der Gelegenheit, die sich unverhofft geboten hatte. Eine 124Exemplare starke Sammlung Vinyl-Platten aus den 50er- und 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Als er vor ein paar Tagen die Annonce im ›Emmendinger Tor‹, dem örtlichen Anzeigenblatt, gelesen hatte, hatte er sich zusammenreißen müssen, um nicht laut loszujubeln. Als der Student bei seinem Anruf dann noch seine Preisvorstellung genannt hatte, war Kaltenbachs einzige Sorge gewesen, der unbedarfte Jüngling würde es sich in letzter Minute anders überlegen.
Nun war das Geschäft unter Dach und Fach. Es war kurz nach fünf, der Feierabend in Sichtweite und Kaltenbach machte sich daran, seine neuen Schätze liebevoll vor sich auszubreiten. Es war eine kleine, feine Sammlung aus der Zeit, als Vinyl das gängige Musikmedium war und die Plattencoverdesigner noch viel Raum hatten und ihren kreativen Ideen freien Lauf lassen konnten. Kaltenbach hatte seinen ersten Plattenspieler bekommen, als er14war, und eine nagelneue, glänzende Neil-Young-Platte mit dazu. Er hatte sie hoch und runter gehört bis er alle Melodien und Texte auswendig konnte und seine Eltern am Rande des Nervenzusammenbruchs standen. Dass er sich kurz darauf eine Gitarre wünschte und einige Zeit später mithilfe aller Tanten und Onkel auch bekam, war nur folgerichtig. Seither bestimmte die Musik Kaltenbachs Leben. Seine Plattensammlung nahm in seiner Malecker Wohnung inzwischen eine ganze Zimmerwand ein.
Vor ihm auf dem Tisch lagen Platten von den Everley Brothers und den Beach Boys, von den Animals und von B.B.King, dem alten Bluesmeister, allesamt Erstausgaben und wenig gespielt. Die bestens erhaltenen Stücke ließen sein Herz höher schlagen. Er saß auf der Fensterbank und bewunderte die Schwarz-Weiß-Fotografien der jungen Beatmusiker mit ihren Topffrisuren, die in den 60er-Jahren als Inbegriff der Verruchtheit und Aufsässigkeit verurteilt wurden, als hinter ihm die Glocke seiner Ladentür ihr lautes Gebimmel ertönen ließ. Unwillig drehte er sich um und schalt sich, dass er den Laden zur Feier des Tages früher hätte schließen sollen. Es war zu spät. Der Türeingang wurde von einer massigen Gestalt verfinstert. Die untere Hälfte zumindest. Erna Kölblin war, wie man hier in der Gegend liebevoll sagte, ein ›Mordswib‹, das heißt, in Größe, Breite und Tiefe etwa gleich, was ihr zusammen mit dem zeltartigen Kleid und ihren rollenden Bewegungen das Aussehen einer überdimensionalen Bowlingkugel verlieh.
Die füllige Dame im ewig besten Alter blieb einen Moment unter der Tür stehen und schnaufte hörbar. Dann ließ sie sich mit einem aus tiefster Seele hervordrängenden Seufzer in den bedenklich aussehenden Ohrensessel fallen, der in der Ecke neben dem Regal mit den Roséweinen stand. Die Federn quietschten verdächtig, doch zu Kaltenbachs Erleichterung hielt der alte Knecht stand.
Noch einmal seufzte sie ausgiebig, schüttelte dann den Kopf, zog ein winziges, zartblaues Spitzentaschentuch aus den Tiefen ihrer Strickjacke und putzte sich die Nase. Kaltenbach unterdrückte den aufkommenden Ärger, als er seinen Gast erkannte. Stattdessen lächelte er, legte die Jethro-Tull-Platte auf den Stapel zu den übrigen und wartete gespannt, was kommen würde. Er wusste, dass seine Nachbarin aus dem Westend ihm etwas Wichtiges mitteilen würde, sobald sie wieder zu Atem gekommen war. Wie stets in so einem Fall hatte die Frau rote Bäckchen, die ihr das Aussehen eines schüchternen Backfisches verliehen, und das ihr, wie Kaltenbach fand, nicht schlecht stand. Doch etwas schien heute anders zu sein. Frau Kölblin wirkte ziemlich verstört.
»Horch, hesch es mitkriegt …« Wieder nahm sie ihr Taschentuch und tupfte sich die Nase. »Also waisch …«
Kaltenbach wartete.
»Nai, also sell isch …«
Doch auch den dritten Versuch brach sie ab, schnaufte erneut und schüttelte den Kopf. Kaltenbach stand auf und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Er kannte sie lange genug, um zu wissen, dass er ihr Zeit lassen musste. Heute schien es um mehr zu gehen als den üblichen Westendklatsch.
Vor ein paar Jahren hatte Kaltenbach den ehemaligen Laden in der Fußgängerzone übernommen und zu einer Weinhandlung umfunktioniert. Frau Kölblin war damals eine der ersten gewesen, die gekommen waren, zunächst nur aus Neugier. Doch dann hatte sie den schüchtern wirkenden ›jungen Mann‹, der damals Anfang dreißig war, unter ihre Fittiche genommen. Ihr verdankte Kaltenbach nicht nur eine lückenlose Aufzeichnung der Geschichte des Emmendinger Westends, seiner Häuser und seiner Bewohner, sondern auch, was für ihn wichtiger war, die Vermittlung von Kunden sowie ab und zu ein paar belegte Brote (›Dass ebbis wird üs dir!‹). Inzwischen lief Kaltenbachs Weinkeller ganz ordentlich, doch ihre Fürsorge war ihm erhalten geblieben.
Frau Kölblin war von Anfang an sicher, dass ein Ladenbesitzer, der täglich mit vielen Menschen zu tun hatte, eine vielversprechende Quelle für Neuigkeiten sei. Es störte sie nicht weiter, dass meist sie selbst es war, die etwas loswerden musste und wollte.
»Was ist denn los?«, versuchte er sie zu beruhigen. »Ist etwas passiert? Ein Unfall? Moment, ich hole etwas.«
Kaltenbach verschwand hinter einem Perlenvorhang, der hinter dem kleinen Verkaufsraum ein noch kleineres Hinterzimmer abtrennte. Nach kurzer Zeit kam er mit zwei Tassen Kaffee zurück, von denen er eine auf die umgedrehte Weinkiste stellte. Frau Kölblin nahm den Kaffee dankbar entgegen. Aus der hinteren Ecke schleppte er einen zweiten Sessel heran, setzte sich und versuchte es noch einmal. »Etwas Schlimmes?«
»Ebbis Schlimms?« Erna Kölblin richtete sich im Sessel auf, sodass sie beinahe ihre stattliche 151 Zentimeter Stehgröße erreichte. Ihre Augen blickten wirr.
»Ebbis Schlimms? Des hetts noch nie gä!« Sie betonte das ›nie‹ in einer Weise, die keinen Widerspruch erlaubte. »Sitt mirs denkt!«, fügte sie unmissverständlich hinzu.
Kaltenbach stellte seine Kaffeetasse ab, lehnte sich zurück und machte es sich auf seinem alten Sessel so bequem wie möglich. Er wusste, das könnte dauern. »Erzählen Sie!«, sagte er.
Eine knappe Viertelstunde später verabschiedete sich Frau Kölblin immer noch reichlich atemlos und sichtlich aufgeregt, um noch ›e paar wichtigi Sache‹ zu erledigen. Kaltenbach wusste, was das bedeutete. Schließlich war er nicht der Einzige, bei dem sie ihre Neuigkeiten loswerden musste. Wenn Erna Kölblin etwas wusste, erfuhr es innerhalb eines halben Tages garantiert die halbe Stadt. Zumindest das Westend.
Kaltenbach blieb einigermaßen verwirrt zurück. Natürlich verstand er unter Nachbarschaft, dass man sich gegenseitig zuhörte, auch dass man immer wieder einmal über andere lästerte, das reinigte die Seele, war gut gegen Magengeschwüre und stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl. Das war eine der ersten Lektionen gewesen, die Kaltenbach gelernt hatte, als er sich damals entschlossen hatte, von Freiburg hierher zu ziehen und diesen Laden aufzumachen. Mit den Leuten reden und den Leuten zuhören. Was sich anderswo für jeden guten Wirt gehörte, war im Breisgau Gemütlichkeitskitt. Unter anderem.
Doch dieses Mal war etwas zurückgeblieben. Etwas von dem, was er von Frau Kölblin gehört hatte, ließ Kaltenbach aufhorchen. Ein unbestimmtes Gefühl setzte sich in ihm fest, das er nicht einordnen konnte.
Wenn er alles richtig verstanden hatte, war heute früh oben im Schwarzwald auf dem Kandel ein junger Mann im Narrenkostüm, dem Häs, wie man es hier nannte, tot aufgefunden worden. Er war mit seinem Freund in der Nacht hochgestiegen und dabei im Dunkel von der Teufelskanzel heruntergestürzt. Aus Emmendingen sei er gewesen, aber sie wisse noch nicht wer, und sein Freund sei aus Waldkirch. Der sei im Krankenhaus und man wisse noch nichts Genaues. Die ganze Angelegenheit sei sehr geheimnisvoll, denn man habe noch Reste eines Feuers entdeckt und ein zerbrochenes Kruzifix gefunden, und natürlich Blut, aber nicht nur unten an der Absturzstelle, sondern auch noch oben auf dem Felsen. Ihre Freundin Marianne meinte, die seien besoffen gewesen, und sie, Frau Kölblin, glaube eher an die Kandelhexen, aber nicht die von der Fasnet, sondern die echten, die dort oben rumspukten, vor allem an Fasnet, das müsse man doch wissen, wodurch sich nach Frau Kölblins Meinung die Lösung des Falles schon ergebe. Mit diesem vielsagenden Ausbruch von tief sitzendem Volksglauben hatte sie ihn zurückgelassen.
Kaltenbach sah durch sein Fenster eine junge Frau, deren kleiner Sohn mit wachsender Begeisterung auf einer Schneckenskulptur herumkletterte. Aus deren Maul speiste sich im Sommer Wasser für das Bächle, das vom Marktplatz her durch die Lammstraße plätscherte.
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