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Von der Kraft, die Hoffnung nicht zu verlieren und immer wieder neu anzufangen - eine bewegende, persönliche Reise in die ukrainische Geschichte
Sommer 1941. Wann immer sie kann, beobachtet Lilija die Vögel am Himmel. So frei zu sein, so unbeschwert! Ihr selbst ist beides nicht vergönnt, denn es herrscht Krieg, und die Wehrmacht rückt nun auch in der Ukraine vor. Wo bis vor Kurzem Stalins Handlanger für Schrecken sorgten, verbreiten jetzt die Deutschen Angst und Terror. Sie brauchen Arbeiter für ihre Felder, ihre Waffenfabriken. Auch Lilija, ihr Cousin Slavko und die erst zwölfjährige Halya finden sich unversehens mit Dutzenden anderen Ukrainern in einem Viehwagon nach Leipzig wieder. Wird ihre Kraft ausreichen, Angst und Qualen zu überstehen und den Krieg zu überleben? Werden sie ihre Familie wiedersehen?
Lilija erkannte die Leiche ihres Bruders an der gezackten Narbe unter seinem rechten Auge. Sie selbst hatte ihm vor acht Jahren diese Wunde beigebracht. Damals war sie sieben und er zehn gewesen. Sie hatte ihm einen Eimer ins Gesicht geschleudert, als er sich von hinten an sie herangeschlichen hatte, während sie die Hühner fütterte. Ihr Bruder, der ihr gern Streiche spielte, hatte über ihre Reaktion gelacht, obwohl sein Gesicht blutüberströmt war und sie furchtbar geweint hatte.
Jetzt kam es ihr unglaublich albern vor, wegen so etwas in Tränen auszubrechen.
Lilija gab ein ersticktes Schluchzen von sich, sank auf die Knie und zog ihren Bruder zu sich heran. Die Hälfte von Michailos Gesicht war weg, sein Körper aufgequollen. Ein Dorfbewohner aus Lutsk hatte ihnen erzählt, dass der NKWD - die sowjetische Polizei - die erste Gruppe von Insassen in den Hof gezerrt und dann ein Inferno aus Handgranaten und MG-Feuer gegen die Gefangenen entfesselt hatte. Anschließend hatten sie die verbliebenen Männer gezwungen, die Leichen zu begraben, bevor sie sie auch ermordet hatten. Dann waren sie vor den anrückenden Deutschen geflohen. Die letzten Leichen hatte niemand mehr begraben. Sie waren in der Sonne verrottet.
Die Gefangenen. Volksfeinde. Intelligenzija. Nationalisten. Jeder, der Stalin nicht unterstützte.
Lilijas Bruder.
So hart es auch war, in Michailos lebloses blaues Auge zu blicken, das zu ihr hinaufstarrte, so war es doch besser, als nicht zu wissen, was mit ihm geschehen war, denn Unsicherheit bedeutete stets auch Hoffnung, und für Hoffnung war hier kein Platz.
Michailo - ihr großer Bruder und ihr Vorbild, der sie immer unterstützt hatte. In Lilijas Kindheit, als noch die Polen über Wolhynien herrschten, hatte er sich ein bisschen Geld verdient, damit er ihr ein Skizzenbuch kaufen konnte, genau so eines wie das ihrer Mutter. Mama hatte zwar geglaubt, Lilija sei noch zu jung dafür, doch Michailo hatte gesehen, wie Lilijas Blick immer den Schwalben gefolgt war, die in der Scheune nisteten, und dann hatte sie die Bewegungen der Vögel mit den Fingern in den Sand gezeichnet.
»Hier, Lilija«, hatte er gesagt, ihr das Buch gegeben und an ihrem Zopf gezupft. »Wenn du jetzt anfängst, dann bist du bald genauso gut wie Mama. Vielleicht sogar besser.«
Lilija hatte das Buch noch immer. Es war unter ihren Kleidern versteckt, daheim in einer Truhe. Das Buch war voller einfacher, kindlicher Kritzeleien, fast lächerlich im Vergleich zu den Zeichnungen, die sie jetzt anfertigte. Trotzdem glaubte Lilija nicht, dass sie je so eine gute Künstlerin werden würde wie ihre Mutter, die auch ohne akademische Ausbildung mehr über Licht und Schatten wusste als die meisten professionellen Künstler. Sie hatte sich alles selbst beigebracht, während sie Tiere und Familienmitglieder gezeichnet hatte.
»Es ist Zeit, Lilija.« Ihr Vater, das Gesicht ausgemergelt und fahl, berührte sie an der Schulter. »Wir werden sie gemeinsam begraben. Hier. Die Deutschen sind nicht mehr weit entfernt, und bevor sie da sind, will ich wieder bei deiner Mutter sein.«
Lilija trat zurück, und die Männer trugen ihren Bruder zu einem Massengrab. Sie wandte sich nicht ab. Sie würde das bezeugen. Sie würde alles bezeugen, was die Sowjets ihnen in zwei Jahren Besatzungszeit angetan hatten. Zeit und Regen würden die blutgetränkte Erde auf diesem Hof wieder reinigen, doch der rote Fleck auf dem Land, den die sowjetische Invasion hinterlassen hatte, würde nie verschwinden. Zwei Jahre voller Schrecken und Leid hatten eine unauslöschliche Spur in Wolhynien hinterlassen.
Michailos Verlust war nicht der erste, aber der jüngste. Der Schmerz war noch frisch. Lilija schauderte und erinnerte sich an den Dorfbewohner, den die Sowjets letzten Monat gefoltert hatten. Sie hatten ihm die Haut auf der Brust abgezogen und Salz auf das rohe Fleisch gestreut, während sie ihn gezwungen hatten zuzusehen, wie sie seine Frau und Kinder hinrichteten. Dann hatten sie auch ihn getötet und ihn als Dieb und Saboteur gebrandmarkt.
Eine weitere Grausamkeit auf Lilijas langer Liste.
Die Männer legten Michailos Leiche zu den anderen; dann schaufelten sie Erde darauf.
»Lebwohl, Michailo«, flüsterte Lilija. Sie bekreuzigte sich, küsste ihre Finger und drückte sie in die Erde, die ihren Bruder bedeckte. »Flieg mit den Vögeln.«
***
Eine sanfte Brise zog über die Weide, und die Kornblumen wiegten sich im Wind und strichen sanft über Lilijas Arme. Sie schob das Gefühl beiseite, legte ihr Skizzenbuch auf den Schoß und zeichnete einen Schatten auf die Wangen ihres Bruders, der sich nicht so oft rasiert hatte. Sein Gesicht aus der Erinnerung zu zeichnen, so, wie es vor der Verhaftung gewesen war, half ihr, abzupuffern, was sie in dem Gefängnis hatte mitansehen müssen.
Seit sie gestern Nacht nach Hause gekommen waren, hatte Lilijas Mutter kein Wort gesagt. Doch ihre sonst so fröhlichen Augen waren groß und leer, als ihr Vater sie an sich gedrückt und ihr die Nachricht ins Ohr geflüstert hatte. Mama hatte gewollt, dass sie Michailo wieder zurückbrachten, egal ob tot oder lebendig, aber sein Vater hatte beschlossen, dass Michailo bei seinen Brüdern von der OUN ruhen sollte, den anderen Mitgliedern der Organisation Ukrainischer Nationalisten, die die Sowjets gefangen und ermordet hatten.
Stumm saß Mama am Tisch und bot weder Essen noch Trinken an, als Nina, Lilijas älteste und beste Freundin, früh an diesem Morgen mit ihrer Mutter kam, um ihr Beileid zu bekunden. Also musste Lilija Mamas Rolle übernehmen. Sie stellte einen Krug mit Pflaumenmus und einen Laib Brot auf den Tisch, wohlwissend, dass ihre Mutter nie jemanden hungrig oder durstig in der Küche sitzen lassen würde.
»Gib ihr Zeit«, murmelte Nina, als sie Lilija umarmte. »Sie steht noch immer unter Schock.«
Lilija hätte am liebsten geschrien: »Ich auch!« Aber die süße Nina hatte ihren Zorn nicht verdient, die Sowjets jedoch schon. Also hatte sie sich auf die Zunge gebissen, einfach nur genickt und Ninas Umarmung die Kälte lindern lassen, die sie bis in die Knochen spürte, seit sie ihren toten Bruder gesehen hatte.
Lilija schaute zu der Kuh hinauf, die neben ihr graste. Die fernen Explosionen und das Grollen der Panzer störten das Tier nicht, denn inzwischen war das ganz normal geworden. Nachdem die Deutschen die sowjetischen Linien bei Wolodymyr-Wolynsky vor ein paar Tagen durchbrochen hatten, strömten ihre Panzer nach Wolhynien, und Flugzeuge flogen über die Köpfe der Menschen hinweg. Lilija und ihr Vater hatten ihren Heimweg zweimal ändern müssen, um ihnen aus dem Weg zu gehen, und als Lilija vom Dachboden der Scheune aus die lange Reihe bereitstehender sowjetischer Panzer südlich des Dorfes entdeckte, hatte ihr Vater gesagt, sie solle die Kuh beim Obstgarten grasen lassen, statt sie wie sonst auf die weiter entfernte Weide zu bringen.
Lilija hielt kurz inne, als eine Nachtigall vorbeiflatterte und im Dickicht am Waldrand verschwand. Ein paar Minuten später hallte ihr Gesang über die Weide, und Lilija empfand ein bittersüßes Gefühl, so stark, dass sie die Hände auf den Boden drücken musste, um nicht fortgespült zu werden.
»Wegen ihres Namens glauben manche Menschen, dass sie nur nachts singen würden«, hatte ihre Mutter ihr erzählt, als sie Lilija beigebracht hatte, die Vögel zu zeichnen. »Aber diese wunderbaren Vorboten des Frühlings singen Tag und Nacht.«
Mama nannte Lilija immer ihre kleine Soloveiko, denn wie die Nachtigall hatte sie nie aufgehört zu plappern, als sie klein war. Lilija hatte das nie gestört. Sie empfand es als großes Kompliment, mit diesem wunderbaren, kleinen Vogel verglichen zu werden.
Ein tiefes Brummen, ganz anders als die Geräusche der Panzer, riss Lilija aus ihren Gedanken. Sie schaute zurück zum Haus. Ihre Mutter stand auf der Straße, den Blick zum Himmel gerichtet. Zwei deutsche Kampfflieger erschienen hinter ihr am Horizont. Rasend schnell flogen sie tief über die sowjetischen Panzer in der Ferne, feuerten, zogen hoch und wendeten an Lilijas Haus, um einen zweiten Angriff zu fliegen. Lilija sprang auf, und das Skizzenbuch fiel von ihrem Schoß.
»Mama! Deckung!« Panik ergriff Lilija. Ihre nackten Füße flogen über den feuchten Boden, und das nasse Gras klebte an ihren Beinen, während sie zur Straße rannte.
»Runter, Mama!« Lilija wedelte mit den Armen, aber ihre Mutter rührte sich nicht. Wie versteinert starrte sie auf die Flugzeuge - ob nun gefangen in ihrer Trauer oder gelähmt vor Angst, das wusste Lilija nicht. Lilija lief auch noch weiter, als die Flugzeuge auf dem Weg zurück zu den Panzern wieder hinter ihrer Mutter auftauchten, laut und tief und rasend schnell, während Lilija das Gefühl hatte, durch Honig zu waten.
Kurze abgehackte Salven wie das Geräusch eines Löffels, den man auf einen Blecheimer schlägt, hallten über das Dröhnen der Motoren hinweg.
Die Flugzeuge flogen vorbei, und Lilijas Schreie erstickten in ihrem Lärm. Der Schock ließ sie erstarren, als sie ihre Mutter umklammerte. Blut sickerte aus Mamas Körper und durchtränkte Lilijas Bluse. Sie kniff die Augen zusammen, als sie spürte, wie Mama ihren letzten Atemzug tat. Minuten vergingen . oder waren es Stunden? Lilija wusste es nicht mehr. Erst als ihr Freund Oleksy ihre Wangen in seine großen Hände nahm, öffnete sie die Augen wieder.
»Ich bin ja da, Lilija«, brummte er tröstend, während er sie sanft vom...
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