Schweitzer Fachinformationen
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Als Stephan Knobel das Dortmunder Landgericht betrat, war es 8.34 Uhr. Wie einem Reflex folgend, sah er immer auf die Uhr seines Handys, wenn er ein Gerichtsgebäude betrat, um abzuschätzen, ob er es rechtzeitig in den Sitzungssaal schaffte, doch als er dieses Mal auf die Uhr sah, wurde ihm bewusst, dass dieses Ritual heute für ihn nicht die übliche Bedeutung hatte.
Es war ein regnerischer Montagmorgen im Februar 2018, an dem die schmale Kaiserstraße vor dem alten dreigeschossigen Justizgebäude mit Autos verstopft war, weil zu dieser Zeit bereits alle Parkplätze belegt waren und der Verkehr unter seiner Dichte zu ersticken drohte.
Im Eingangsbereich des Gerichts standen ungewöhnlich viele Besucher in der Warteschlange, um die Personenschleuse passieren zu können, deren Technik ähnlich der Kontrolleinrichtung auf einem Flughafen unsichtbar in der Kleidung mitgeführte Waffen und andere gefährliche Gegenstände aufzuspüren suchte. Die hier tätigen Justizbeamten fertigten alle Personen mit jener stoischen Ruhe ab, mit der sie tagein, tagaus aus demselben Grund Handtaschen durchleuchteten, Handys in Verwahrung nahmen und in einer für die Betroffenen zermürbenden Prozedur verlangten, Gürtel mit Metallschnallen aus den Hosenschlaufen heraus- und Schuhe auszuziehen, bis die Detektoren keine metallischen Gegenstände mehr registrierten.
Stephan Knobel indes passierte wie alle anderen Anwälte den danebenliegenden separaten Durchlass, der all jenen vorbehalten war, die mit Sonder- oder Dienstausweis das Privileg genossen, allein mit dem Vorzeigen dieses Ausweises ohne weitere Kontrolle das Gebäude betreten zu dürfen. Über die Jahre hatte Stephan die Erkenntnis gewonnen, das sich die Bedeutung seines Anwaltsausweises darin erschöpfte, beschleunigten Zugang zu Gerichtsgebäuden zu bekommen und er in jenen Momenten, in denen er die Plastikkarte in der Größe einer Kreditkarte zückte und ihn ein Justizbeamter mit einer beifälligen Kopfbewegung durchwinkte, in den Augen der Wartenden eine geheimnisvolle und ansonsten belanglose Wichtigkeit erlangte.
Er steckte den Ausweis wieder in sein Portmonee und strebte über die Treppe ins erste Obergeschoss. Aus seinem Büro - besser gesagt: aus seinem Arbeitszimmer in der Wohnung, das seit einigen Jahren seine Kanzlei war -, hatte er eine beliebige Akte mitgenommen und zur Vervollkommnung der Kulisse auch noch seine Robe über seinen linken Arm geworfen, die vom Regen nass geworden war und nun unangenehm muffig roch.
Es war das erste Mal in seiner rund zwölfjährigen Anwaltstätigkeit, dass er ein Gerichtsgebäude nur scheinbar in dem Willen betrat, zu einer Gerichtsverhandlung zu kommen. Er tat nur so, als sei er auf dem Weg zu einem Sitzungssaal. Sein eigentliches Ziel war der Flur vor Saal 136, wo er wie zufällig auf einen Mitarbeiter des Dortmunder Jugendamtes, Ralf Deitmer, treffen würde, mit dem er all dies abgesprochen und von dem er erfahren hatte, dass ein Klient namens Pavel Kubilski dringend anwaltliche Hilfe brauchte. Deitmer nannte alle, die er in seiner amtlichen Funktion betreute oder beriet, Klienten, obwohl sie es im Wortsinne nicht waren. Doch Deitmer benutzte diese Bezeichnung gern, weil er der Ansicht war, dass dieser Begriff am besten signalisierte, dass sich Deitmer wie ein Anwalt für diejenigen einsetzte, die sich ihm anvertrauten. Und tatsächlich schaffte es Deitmer mit dem im Laufe seines Berufslebens erworbenen Wissen, seine Klienten dazu zu bewegen, ihre Interessen auch auf dem Rechtsweg zu verfolgen, wenn es nicht anders ging. Deitmer half bei der Formulierung von Anträgen an das Gericht und begleitete viele seiner Klienten im Hintergrund durch die Verfahren, ohne dass sie auf anwaltliche Hilfe zurückgreifen mussten. Deitmer ging dabei über die Grenzen seiner amtlichen Pflichten und Aufgaben hinaus, ohne dass dies jemanden wirklich störte. Er blieb stets im Hintergrund und ließ sich hierfür auch nie bezahlen. Er erkannte, wenn ein Fall rechtlich zu knifflig wurde. Dann empfahl er seinem Klienten, sich in anwaltliche Beratung zu begeben, und Stephan Knobel gehörte zu den von ihm favorisierten Anwälten, dem er seine Klienten anvertrauen konnte.
Als Stephan vorgestern Abend den überraschenden Anruf von Ralf Deitmer erhielt, ging es in erster Linie darum, warum der Kontakt zwischen Stephan und Pavel Kubilski entgegen sonstiger Gewohnheit scheinbar zufällig zustande kommen sollte. Er erfuhr, dass Pavel Kubilski aus Polen und seine Frau Ivelina aus Bulgarien stammten. Er war Eisenbahningenieur und sie Ärztin in einem Dortmunder Krankenhaus. Sie hatten eine Tochter. Nur um sie würde es gehen, wenn Stephan die Vertretung von Pavel Kubilski übernehmen würde: die heute fünfjährige Emilia.
Deitmer hatte berichtet, dass die Eheleute Kubilski schon seit rund zwei Jahren getrennt lebten. Seinerzeit war Frau Kubilski mit Emilia ausgezogen und hatte im Dortmunder Osten eine Wohnung angemietet, die sie aber offenbar nie bezogen hatte. Lediglich das Türschild deutete darauf hin, dass Ivelina hier wohnte. In Wahrheit waren die Räume leer, was ein auf Deitmers Drängen von Kubilski beauftragter Privatdetektiv herausgefunden hatte. Kubilski hatte sich an das Jugendamt und dort an Ralf Deitmer gewandt, nachdem mit dem Wegzug seiner Frau auch Emilia verschwunden blieb. Seit nun zwei Jahren hatte Kubilski seine Tochter nicht mehr gesehen.
Nach Deitmers telefonischem Bericht hatte Stephan schon im Vorfeld des heutigen scheinbar zufälligen Treffens rechtliche Prüfungen angestellt, um wie aus dem Stegreif Kubilski Empfehlungen geben zu können. Kubilski hatte sich bis jetzt allein mit Deitmers Hilfe und auf dessen Drängen durch die Sache geschlagen und hegte naiv die trügerische Hoffnung, dass sich auch ohne eigene weitere rechtliche Initiative alles zum Guten wenden werde. Pavel Kubilski war nach Deitmers Befund das Musterbeispiel eines unbescholtenen Bürgers, zu dessen Weltanschauung gehörte, Konflikte möglichst nicht vor Gericht auszutragen und den Gang zu einem Anwalt selbst dann noch zu scheuen, wenn er aus vernünftiger Sicht unausweichlich war. Es war allein Deitmers Verdienst, Kubilski dazu gebracht zu haben, überhaupt mit juristischen Mitteln um seine Tochter zu kämpfen, und es war nur der Erfahrung Deitmers und seinem unerschütterlichen Engagement zu verdanken, dass er dies mit dessen fachlicher Unterstützung bisher ohne anwaltliche Hilfe geschafft hatte.
Stephan ging langsam den Flur auf der ersten Etage des Landgerichts entlang. Die bauliche Anlage im Justizgebäude war so wie in vielen anderen Gerichtsgebäuden: Jeder Flur öffnete sich zu beiden Seiten zu einem Treppenhaus, und ungeachtet aller baupolizeilichen Erwägungen, die diese Bauweise notwendig machte, erschien sie gerade hier sinnvoll, weil sie nach dem Ende eines Prozesses den streitenden Parteien gestattete, auf getrennten Wegen zu gehen. Stephan hatte sich von dem Ideal verabschiedet, dass Gerichtsprozesse die Parteien befriedeten.
Schon von Weitem erkannte Stephan den breitschultrigen großen Mann mit den grauen Stoppelhaaren, der von seiner Statur eher an einen grobklotzigen Kampfsportler erinnerte und von seinem Aussehen her nicht auf den Menschen schließen ließ, der er wirklich war: ein feinfühliger Mann, der manchmal wortlos verstand, worum es ging, und sich mit einer Akribie seinen Aufgaben widmete, die man gemeinhin einer Behörde nicht zutraute.
Vor etlichen Jahren waren sich Stephan und Ralf Deitmer zufällig erstmals in einer Kindschaftssache begegnet, und Stephan wusste nur zu gut, dass er seinen anwaltlichen Erfolg in dieser Sache maßgeblich dem Umstand verdankte, dass Deitmer mit Umsicht und großem Sachverstand intervenierte und die zerstrittenen Eltern an einen Tisch bringen konnte, um für ihr Kind wichtige Entscheidungen zu treffen.
Seither waren sich Stephan und Ralf Deitmer immer wieder in verschiedenen Verfahren begegnet, in denen alle Beteiligten davon profitierten, dass der Vertreter des Jugendamtes wie ein Löwe für die Kinder kämpfte und selbst noch da vermittelnde Wege fand, wo alle anderen keinen Ausweg mehr sahen. Doch im Fall Kubilski, so hatte Deitmer Stephan in dem Telefonat erklärt, müsse nun mit anderen Bandagen gekämpft werden.
Scheinbar gedankenverloren ging Stephan an Deitmer vorbei, und als er ihn passiert hatte, hörte er dessen erwartete dröhnende Stimme: »Hallo, Herr Knobel!« Er lachte polternd auf. »Kaum habe ich drei Kilogramm abgenommen, und die Menschen übersehen mich. Ich sollte wieder zu meinen alten Essgewohnheiten zurückkehren.« Es waren auch diese Kalauer, die darüber hinwegtäuschten, dass Deitmer ein sensibler und tiefsinniger Mensch war.
Stephan wandte sich wie überrascht um, und Deitmer löste sich zeitgleich von der Wand, an die er sich gelehnt und mit seiner fülligen Statur einen schmächtigen Mann fast verdeckt hatte, der mit blassem Gesicht ins Leere sah. Deitmer ging einen Schritt auf Stephan zu.
»Sie hier?« Deitmer streckte Stephan lächelnd seine große Hand entgegen, die unvermutet sanft die von Stephan drückte. »Was treibt Sie in diese heiligen Hallen?« Deitmer röchelte dabei, als hätte ihn schon diese kleine Bewegung übermäßig angestrengt.
»Das hier ist Herr Kubilski, ein Klient von mir«, fuhr er etwas ungelenk fort und trat zur Seite. Stephans erster Eindruck hatte nicht getäuscht: Pavel Kubilski wirkte nicht nur im Vergleich zu der imposanten Statur Deitmers schmächtig; der etwa 40-jährige Mann war ungewöhnlich zierlich und mit geschätzt 1,70 Metern Größe auch kleiner als Stephan und Deitmer. Kubilskis Gesicht war schmal, und sein Blick unruhig und scheu.
»Es ist ein Drama, das sich hier abspielt«, sagte...
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