Schweitzer Fachinformationen
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Stephan Knobel hatte der Feier zum 25. Jahr des Bestehens des Abiturs mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. Von den meisten seiner früheren Mitschülerinnen und Mitschüler hatte er seit dem Ende der Schulzeit nichts mehr gesehen oder gehört, und er hatte seitdem auch das Schulgebäude, in dem die Feier stattfand, nie mehr betreten.
Er erinnerte sich noch deutlich an den letzten Schultag, als ein Fotograf das finale Zusammensein in der Schule auf einem Gruppenbild festhielt. Das arrangierte Motiv war spontaner Anlass für ein überschwängliches Gelöbnis, sich fortan regelmäßig treffen und untereinander in Kontakt bleiben zu wollen. Aus alledem war bis zum heutigen Abend nichts geworden, und es war einzig der Initiative zweier Ehemaliger zu verdanken, die in mühevoller Kleinarbeit Adressen recherchiert und das erste gemeinsame Wiedersehen - ein halbes Jahr nach dem eigentlichen Jubiläum - an diesem verregneten Novemberabend arrangiert hatten.
25 verstrichene Jahre ließen sich nicht an einem Abend mit Erzählungen füllen, und im Grunde war es auch nicht interessant, warum das Leben in dieser Zeit dem einen Glück und dem anderen Pech beschert hatte. Das Wiedersehen komprimierte die Entwicklung der vergangenen Jahre zum Abgleich des Erreichten. Man erfuhr, wer welche Karriere gemacht hatte, wer verheiratet und wer allein geblieben war, und wer von sich alles in allem behaupten konnte, es geschafft zu haben. Die Feier bot die Bühne, das Hier und Jetzt schlaglichtartig zu beleuchten. Es gab unausgesprochene Gewinner und Verlierer - und einige wenige, deren Weg in geheimnisvoll erscheinender Weise geradlinig nach vorn verlaufen und zu Zielen geführt hatte, die den anderen wie die irreal erscheinende Verwirklichung eines Traumes anmuteten. Der Werdegang des Professor Dr. Patrick Budde galt als Muster einer Bilderbuchkarriere, die sich nur damit erklären ließ, dass der Weg des früheren ungeliebten Primus mit konstanten Bestnoten vorgezeichnet war und jedem verschlossen bleiben musste, der nicht wie er beharrlich danach gestrebt hatte, sich selbst beständig mit neuen Höchstleistungen zu übertrumpfen. Jeder, der sich mit dieser Erklärung behalf, wusste zugleich, dass sie nichts taugte. In Wahrheit besaß Patrick Budde eine überragende Intelligenz, die es ihm schon immer gestattet hatte, seine stets besten Leistungen mit wenig Aufwand zu erreichen, und es war ihm schon zu Schulzeiten ein Leichtes gewesen, sein kompaktes Wissen zu jeder Zeit abzurufen und auch mit außergewöhnlichen Vorträgen zu brillieren. Einzig im Fach Sport hatte der schon damals kräftige und nunmehr dick gewordene Patrick geschwächelt. Seine unbeholfenen Versuche, an den Geräten halbwegs brauchbare Leistungen zu zeigen, machten ihn in diesen Situationen zum Ziel des Spotts, denen all jene entgegenfieberten, die in seinem körperlichen Versagen einen gerechten Ausgleich für seine sonstigen Bestnoten sahen. Patrick Budde, ein heute stattlicher Mann mit wuchtiger Statur, grauem Bürstenhaarschnitt und ebensolchem Vollbart, hatte die seinerzeitigen Verletzungen nie vergessen, auch wenn er sich dem ungeliebten Sport bald nach Eintritt in die Oberstufe durch Abwahl entledigen konnte.
Buddes besonderes Interesse galt der Psychologie, der er damals seinen schulischen Schwerpunkt widmete, um im Anschluss daran an den für dieses Fach bedeutendsten Universitäten dieses Fach zu seinem Beruf zu machen. Er hatte sein Studium intelligent und zielstrebig betrieben, hierbei seine Sprachbegabung genutzt und einige Semester in Frankreich und den USA absolviert, bevor er in Heidelberg sein Studium mit Bravour abschloss, dort promovierte und daran anschließend habilitierte. Aus Buddes ersten Veröffentlichungen in Fachzeitschriften entwickelte er in der Fachwelt mit Interesse gelesene Bücher, und er wurde zeitgleich gefragter Referent auf einschlägigen Tagungen, bald auch deren Initiator und Moderator. Patrick Budde hatte es geschafft, und er, der sich vor gut 25 Jahren als einer der Ersten von der Abiturfeier verabschiedete, weil er sich nach dem für ihn ungewohnten Alkoholgenuss nicht mehr auf den Beinen halten konnte, erschien an diesem Jubiläumsabend als einer der Ersten - strahlend, aufgeräumt und entspannt, wie man ihn zu Schulzeiten nie erlebt hatte. Seine Körperfülle, die ihn eher schlurfen als gehen ließ, schien er wie eine Wohlfühltrophäe zu präsentieren, und es befriedigte ihn, mit seiner demonstrierten Unsportlichkeit heute jenen einen Hieb zu versetzen, die sich zu Schulzeiten über seine Ungelenkigkeit amüsiert hatten und dem im Erfolg badenden Budde heute nichts entgegenzusetzen hatten, was dessen Karriere nur im Ansatz ebenbürtig war.
Erst später am Abend kam Patrick Budde auf Stephan zu, und es war, als hätte der von allen bewunderte Star alle bisherigen Gelegenheiten zu einem vertiefenden Gespräch mit Stephan gemieden, um sich jetzt mit ihm vertraulich in eine Ecke zurückziehen zu können, in die Budde nun seinen früheren Schulkameraden drängte, indem er ihn mit sanftem Druck an der jetzt aufspielenden Band vorbei in einen Nebenraum führte.
Budde setzte sich mit lautem Schnaufen an einen Tisch, doch kaum, dass er saß, befand er, dass es hier wegen der gut zu hörenden Musik zu laut sei, und schlug einen Gang über den Schulhof vor. Stephan nickte, sie zogen sich wortlos ihre Mäntel über und verließen das Gebäude.
Stephan hatte zu Schulzeiten fast keinen Kontakt zu Patrick Budde gehabt. Der Zufall hatte sie weder in den früheren Klassenverbänden noch in den späteren Kursen zusammengeführt. Sie kannten sich tatsächlich nur vom Sehen, und dieser Umstand schien für Patrick Budde bedeutsam zu sein, als er mit Stephan auf dem Schulhof ein vertrauliches Gespräch begann.
»Du bist Anwalt geworden, Stephan«, sagte Budde. »Ich habe vor einigen Monaten in der Zeitung von dir gelesen, als du einen recht spektakulären Prozess zugunsten deines Mandanten entscheiden konntest.«
»Wiederaufnahmeverfahren in einem Mordprozess«, antwortete Stephan abgeklärt. »Ein früherer Lehrer war zu Unrecht wegen des Mordes an einem Rentner verurteilt worden. Ich habe ihm zum Freispruch verholfen.«
Er spulte diese Worte ebenso herunter wie Budde die seinen, die er sich offensichtlich zur Eröffnung des Gesprächs zurechtgelegt hatte. Stephan war in den vergangenen Monaten immer wieder auf seinen Erfolg angesprochen worden, und so geschäftsmäßig und gelernt diese Worte aus seinem Mund klangen, so sehr waren sie nach wie vor von Stolz getragen. Der Fall des unschuldig verurteilten Lehrers hatte ihm über Nacht zu Ansehen verholfen und die leere Kanzleikasse mit Honoraren aus Folgeaufträgen gefüllt.
»Der Fall hat Schlagzeilen gemacht«, wusste Budde. »Es stand sogar in Düsseldorf in der Zeitung, wo ich damals wohnte.«
Sie schwiegen eine Weile. Stephan merkte, dass Buddes Interesse an ihm rein beruflicher Natur war, was ihm nur recht sein konnte, weil er sich nicht zu jenen Lobeshymnen über Buddes Karriere verleiten lassen wollte, die er anderen abzunötigen verstand.
Über Professor Dr. Budde las man häufig in der Zeitung - und das bundesweit. Er galt als leuchtender Stern auf dem Gebiet der Psychologie. Jetzt drehte Stephan mit ihm Runden über den dunklen Schulhof wie Gefangene beim täglichen Freigang im Innenhof einer Haftanstalt. Sie klappten die Kragen ihrer Mäntel hoch. Der Regen stieb fein in ihre Gesichter.
»Meine Welt ist nicht so makellos, wie sie scheint«, setzte Budde wieder an, während er hörbar kurzatmiger wurde. »Lass uns dort in eine Ecke gehen«, bat er. »Es ist nicht leicht, über diese Sache zu sprechen. Ich muss mich konzentrieren, was ich bei diesem Gehetze nicht kann. Es mag Menschen geben, die sich bewegen müssen, um ihre Gedanken sammeln zu können. Ich gehöre mit Sicherheit nicht dazu. Das Gehirn braucht keinen Sport.«
Stephan schmunzelte. Buddes schulisches Versagen im Fach Sport hatte bis heute seine Spuren hinterlassen.
»Okay«, willigte Stephan gleichmütig ein. Vielleicht machte dieses Bestimmen die Erfolgsmenschen aus, überlegte er. Schnörkelloses Dirigieren auch in kleinen Dingen. Vorgaben machen, keine Frage danach stellen, ob das eigene Tun dem anderen recht war.
»Da hinten, Stephan!« Budde meinte eine Nische in dem rechtwinkligen Anstoß des Nebenflügels an das Hauptgebäude. »Weißt du noch, da war zu unserer Zeit die Raucherecke .«
»Ich weiß, aber ich habe nie geraucht, Patrick. - Was willst du von mir?«
»Ich habe bislang nie einen Anwalt gebraucht, Stephan. Also kann ich mir kein eigenes Bild davon machen, welcher Advokat etwas taugt und welcher nicht. Es mag viele geben, die mir Empfehlungen geben könnten, aber deren Wert ist relativ. Wenn einem ein Anwalt zum Erfolg verholfen hat, wird er von diesem Mandanten weiterempfohlen werden. Aber das sagt nichts darüber aus, ob dieser Anwalt wirklich gut ist oder nicht. Ich bin von Berufs wegen ein misstrauischer Mensch.«
»Psychologen können wohl nicht anders, als alles zu hinterfragen«, vermutete Stephan und setzte spitz nach: »Schon das harmlose Bohren in der Nase kann auf einen psychischen Defekt hindeuten, nicht wahr?«
»Kann es«, bestätigte Budde trocken. »Ich bin überzeugt, dass du einer der Besten deines Fachs bist«, fügte er unbeirrt hinzu.
»Eine kühne These für jemanden, der der Welt suggeriert, dass er das Wesen eines jeden durchleuchten könne, wenn er es nur lang genug studiert habe.«
»Eben«, erwiderte Budde kurz. »Ich kenne dich trotzdem. Kein Mensch verändert sich grundsätzlich. So, wie du zu...
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