Schweitzer Fachinformationen
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Wanderer, wer bist du?
Ich sehe dich deines Weges gehn .
feucht und traurig wie ein Senkblei,
das ungesättigt aus jeder Tiefe wieder an's Licht
gekommen - was suchte es da unten?
Friedrich Nietzsche
Schließlich hatte sie es geschafft, eine echte Vagabundin zu werden. Sie war verloren gegangen in dieser südamerikanischen Stadt, die für Morde an Straßenkindern und für ihren Karneval berühmt ist. Sie war eine von Millionen Heimatlosen geworden, die auf diesem Planeten hin und her geschleudert werden, zu einer dieser verlorenen Seelen, die ganz der Gnade eines ungerechten und grausamen Schicksals ausgeliefert sind. Dieses abenteuerlustige Mädchen aus gutem Hause, dieses kleine, zerbrechliche, scheue Mädchen ist nun eine wirkliche Vagabundin. Jetzt glaubt sie nicht mehr an Märchen, sie kann allein durch dunkle Straßen gehen, und sie prahlt nicht mehr mit den Ohrfeigen, die sie einstecken musste. In dieser Stadt, die mit niemandem Erbarmen hat, windet sie sich auf dem Boden, als hätte man ihr die Gedärme herausgerissen, und findet nicht einmal Trost beim Gedanken an den Tod.
Sie hatte den Ozean durchquert, den Äquator überschritten und einen Kontinent betreten, über den sie zuvor nicht das Geringste gewusst hatte. Alles, was sie zurückließ, hatte sie den Flammen übergeben. Vor ihr tauchte ein vollkommen geschändetes Universum auf. Die Gesetze der Alten Welt hatten hier keine Gültigkeit. Ihre Wertvorstellungen glichen nunmehr dem schweren, unhandlichen Koffer, den sie aus der Türkei mitgebracht hatte: unten abgewetzt, der Griff beinahe schon ausgerissen, in der Feuchtigkeit der Tropen der Fäulnis überlassen, abgeschrieben bis zur Rückkehr, die sie immer wieder aufschob.
Dieses kleine Mädchen, das dem Leben so mutig trotzte, hatte sich »die gefährlichste Stadt der Welt« ausgesucht, um sich ganz allein die dunklen Seiten der Menschheit anzusehen, sie aus sicherer Entfernung zu betrachten. Doch in der Hölle, der sie sich zuwandte, fingen ihre Haare Feuer. Rio de Janeiro hetzte die schwindelerregende Unbezähmbarkeit des Leibes auf sie, seine weißglühenden Tage, seine mit Verheißungen, Drohungen und Zärtlichkeiten erfüllten Nächte, seine Morde. Ihr Wille war nun erschlafft, ihre Persönlichkeit in Fetzen. Ein vernichtetes Heer, das seine Verletzten liegen lässt und sich davonmacht.
Plötzlich waren wieder Schüsse zu hören. Özgür fuhr vor Schreck zusammen, das Glas in ihrer linken Hand fiel zu Boden. Ihr ganzer Körper zuckte, als würde man ihm Stromschläge verpassen. Aus jeder Pore drang Schweiß, dennoch war ihr eiskalt. In ihren Augen standen Tränen, die brannten wie Säure, aber sie konnte nicht weinen. »Aufhören! Genug! Ich halts nicht mehr aus! Mein Gott, mach dieser Folter endlich ein Ende! Siehst du denn nicht, dass ich nicht mehr kann?«
Der Nervenzusammenbruch dauerte nur ein paar Minuten, dann hatte sie sich wieder gefasst. Mit der Gewissenhaftigkeit eines Offiziers lauschte sie dem Monolog einer halb automatischen Schnellfeuerwaffe. Als ihr klar geworden war, dass die Schüsse nicht aus den auf der Anhöhe gelegenen Favelas, wie die Elendsviertel in Brasilien heißen, sondern aus dem benachbarten Tal kamen, ging sie wieder ins Haus zurück. Es tröstete sie zu sehen, dass ihr einziges Glas nicht zerbrochen und kein einziger Tropfen Tee auf ihr Heft gefallen war. Sie lächelte sogar, als sie merkte, dass die verschwitzten Finger ihrer rechten Hand den Stift während des ganzen Anfalls krampfhaft festgehalten hatten.
Die beiden riesigen Favelas, die sich von den Flanken der Anhöhe von Santa Teresa bis zum Dschungel erstrecken, bekämpften sich nun schon seit acht Tagen. Die etwa sechshundert Favelas, die das sonst so überwältigend schöne Gesicht Rios wie Pockennarben entstellen, werden seit der Zeit der Militärjunta von einer der mächtigsten Organisationen Lateinamerikas kontrolliert, dem Comando Vermelho. In den Favelas verging kein Tag ohne Kämpfe: Entweder gerieten konkurrierende Banden beim Verteilen von Kokain aneinander, oder die Polizei unternahm Razzien mit fünfzig Mann starken, bis an die Zähne bewaffneten Einheiten, wenn ihnen das Schmiergeld zu gering erschien.
Aber nun waren in Santa Teresa die schrecklichsten Kämpfe ausgebrochen, die Özgür während ihrer zwei Jahre in Rio erlebt hatte. Seit letztem Samstag setzte schon morgens mit den ersten Sonnenstrahlen ein Getöse ein, entfacht von Infanteriegewehren, Uzi-Maschinenpistolen und Handgranaten, das, abgesehen von wenigen Unterbrechungen, den ganzen Tag andauerte. Özgür, die noch vor zwei Nächten in den jetzt dunklen und totenstillen Straßen von Santa Teresa mit seinen berühmten Bars herumspaziert war, sah, wie ein halbes Dutzend Busse, die vollgestopft waren mit Soldaten und aus deren Fenstern lange Gewehrläufe ragten, lautlos und ohne Licht den Berg erklommen. Mit dem Eingreifen des Militärs waren die Kämpfe keineswegs beendet, im Gegenteil, sie gerieten völlig außer Kontrolle.
Noch bis gestern hatte sie diese Schüsse bloß als eine weitere Lärmquelle in diesem unablässig dröhnenden Rio empfunden, als eine weitere Störung, die sie daran hinderte, sich auf ihren Roman zu konzentrieren, zumindest hatte sie sich das zunächst eingebildet. Bis es mit ihren Nervenzusammenbrüchen losging.
Sie versuchte zu ergründen, wie dieser unumkehrbare Prozess eigentlich genau begonnen hatte. Wenn sie ihn eingrenzen, ihn ausloten könnte, dann wäre es ihr vielleicht möglich, ihn zu kontrollieren. Hätte sie einen Nullpunkt bestimmen müssen, wäre es der Tag gewesen, an dem sie dieser Mulattin an der Copacabana begegnet war, der letzte Osterfeiertag, an dem in Rio alle Uhren stillstanden, die Hitze plötzlich auf über vierzig Grad stieg und die Stadt zitterte, als wäre sie von Malaria befallen.
Es war irgendein Sonntag. Ein ganz normaler Sonntag. Wieder so ein trister, trostloser Tag, der, wie schon die Tage zuvor, ohne irgendeine Hoffnung, Erwartung oder Bedeutung verstrich. Der Tag des Feuerwerks.
Obwohl es erst Anfang Dezember war, breitete sich eine Hitzewelle über der Stadt aus, die immer mehr anschwoll. Die Temperatur sollte nun wochen- und monatelang nicht mehr unter vierzig Grad sinken. Die überall in den Straßen der Stadt angebrachten Thermometer sollten jetzt wie unter der Achsel eines Gelbfieberkranken Werte um die zweiundvierzig Grad anzeigen. In Rio, das von zahlreichen Buchten und steil aufragenden Bergen umgeben ist und das von Meeresstürmen gepeitscht wird, regt sich während der Monate der sogenannten Trockenzeit kein Blatt mehr, und der strahlende, indigoblaue Himmel wird von keiner Wolke getrübt. Wie im Wahn stürzt sich die Hitze auf die Menschen, drückt ihnen die Kehle zu und raubt ihnen den Atem. Die Stadt verwandelt sich dann in einen riesigen Ofen, in dem die Menschen bei lebendigem Leib langsam schmoren. Die Sonne reißt sich die Maske der freigiebigen Königin, die sie das ganze Jahr getragen hat, herunter und gebärdet sich wie eine mordlüsterne Tyrannin. Die Luft saugt so viel Feuchtigkeit wie möglich auf und kondensiert sie zu Wasser. Die legendäre Feuchtigkeit der Tropen.
Die Straßenkinder bettelten jetzt nicht mehr um Salgadinhos - gefüllte Teigtaschen -, sondern wollten eine Cola. Nun würden sie an Ruhr, Cholera oder schlichtweg an Wassermangel sterben. Sämtliche Brunnen und Fontänen der Stadt waren ausgetrocknet, die Obdachlosen rochen jetzt noch strenger. Weil ihre »Freiluft-Toiletten« auf den Bürgersteigen nicht mehr vom Regen gespült wurden, zog der Gestank von Fäkalien und Verfaultem durch die Straßen. Die Verkäufer nahmen die Bonbons, die mit Schokolade überzogenen Cashewnüsse und die frittierten Bananen vom Ladentisch und tauschten sie gegen kalte Getränke und frische Kokosmilch aus. »Gelada, gelada - kalt und erfrischend«, riefen sie. Die Bewohner der Stadt hatten keine Kraft mehr. Das Gehen, das Sprechen, ja sogar das Atmen verlangsamte sich. Das Leben erlahmte und stockte wie ein Fluss, der auszutrocknen droht. In Aufzügen, Wartezimmern und Bussen begann jedes flüchtige Gespräch mit dem gleichen Satz: »Que calor! Was für eine Hitze!« Auf den Werbeplakaten, mit denen Rio von oben bis unten zugepflastert ist, standen skandinavisch aussehende Mädchen knietief im Schnee und versprühten ihr strahlend blondes Lächeln. So wie sich die Beduinen nach allem Grünen sehnen, so lechzen die Bewohner von Rio nach Schnee.
An diesem ersten Sonntag im Dezember belagerte die Stadtbevölkerung die Strände, oder sie flüchtete sich in die Bergdörfer. Die Zeit schien fast stillzustehen. Die Stunden verrannen langsam und zäh wie Schweißtropfen. Im Tal von Santa Teresa, das in eine tiefe Siesta versunken war, bekämpften sich die Banden unbarmherzig.
Özgürs Unterkunft bestand aus einem Wohnraum, so schmal und lang wie ein Trog, einer Küche, die sie »Gruft« nannte, und einem Bad voller Blutegel, die sie nicht umbringen konnte, weil sie sich so vor ihnen ekelte. Die Wohnung war eines von sechs Appartements einer schneeweißen, mit Säulen und ähnlichem Schnickschnack verzierten Villa, die den hochtrabenden Namen Villa Branca trug. Der Abhang ins Tal von Santa Teresa war derart steil, dass sich der Balkon auf der Vorderseite mindestens drei Meter über dem Boden befand, die hinteren Fenster sich...
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