Schweitzer Fachinformationen
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WAS FEHLT
Wo doch
Wo ich doch der Körper bin, in dem die Zeit sich entfaltet, die Erinnerung an die Geheimnisse des Wassers und des Lichts, das sich mit dem Dunkel vereint, wo ich die Melodie bin, mit der alles beginnt, die Gebärmutter, die mit Milch gefüllten Brüste, die Erde, die aus tiefem Schlaf erwacht: Warum kann ich dann nicht geboren werden? Wo ich doch all das bin und zugleich ich selbst: Warum gehört mir dann nichts in mir drin, nicht einmal der Schmerz? Wo es doch tausend Jahre gedauert hat, bis ich aus Legenden, Bildern, Begriffen und Sprachen entstanden bin: Warum habe ich dann bis heute keinen Ort und kein Wort gefunden, in dem ich sein dürfte? Wo doch unter dem Himmel nichts Neues zu sagen ist und jeder Satz, jeder Vers, jede Geschichte schon unzählige Male ausgesprochen wurde: Welches Schreies Echo bin ich dann? Welches Schweigens? Wäre ich der Mond, der endlos stirbt und wiederaufersteht, der aus dem Nichts geboren wird, wächst und die Wasser der Ozeane hinter sich her schleift, wie könnte ich dann das Weite und das Ende so gut kennen?
Wo doch meine Kraft für die Hölle reicht . Was besiegt mich dann stets?
Das Warten
I
Warten. Auf den Jüngsten Tag, den Messias, auf von der Grenze zurückkehrende Boten, auf das Schmelzen des Schnees, auf besseres Wetter . Auf das erste Zucken des Ungeborenen, auf einen Ruf, ein Gerichtsurteil. Auf das Ende der Stunden, den Schlaf, die Wiedergeburt. Auf ein Wort, das - in die Leere geworfen - diese in ihrer Gänze durchmisst und sich in tausendfachen Glanz verwandelt.
Mein Körper sackt auf das lakenlose Bett, als würde er zu Boden sinken, doch sogleich springe ich wieder auf. Sehe auf die Uhr. Blicke prüfend auf mein Handy. Bevor das Lied zu Ende ist, spiele ich es noch einmal von vorne ab. Ich zünde mir eine weitere Zigarette an. Greife wieder zu meinen Amuletten und erschaudere, wie zerbrechlich sie doch sind. Ein Gesicht, das dem meinen nicht mehr gleicht, schminke ich, damit es ihm noch weniger gleicht, dann wische ich alles wieder ab.
Ist etwa das meine Art, mich zu lieben? Dass ich mich noch schlechter behandle, als Gott es tut?
»Worauf warten wir hier alle zusammen?« Auf alles und nichts. Auf wärmere, auf kühlere Zeiten, auf die schönsten Jahre unseres Lebens, auf die Barbaren, auf Kommende und Gehende. Auf ein Wunder. In meiner müden, verbrauchten Stimme scheint sich ein uralter Schmerz ausdrücken zu wollen, gleich einer vor langer Zeit vergrabenen Gebärmutter. Schweigend falle ich von einem Wort ins andere, erlebe meinen Körper jedes Mal wie einen Fleischklumpen zwischen Leben und Tod.
Ich gehe zwischen den Wänden hin und her, zwischen Wänden und Spiegeln, Spiegeln und Fenstern, und finde immer einen Vorwand, um auf die Straße zu sehen. Steht an der Ecke ein Fremder, fühle ich sofort Hass in mir emporsteigen, denn nichts lindert das unerträgliche Gefühl, mit mir selbst eingesperrt zu sein, alles gleicht tosendem Wasser, das an einen Felsen prallt: die Augenblicke, die Sätze, die Melodien. Ich reiße ein neues Päckchen Zigaretten auf. Könnte ich doch bloß ein wenig schlafen! Selbst das Bett verschmäht mich, und die Gegenstände, die mir in meiner Einsamkeit Gesellschaft leisteten, wenden sich frech von mir ab. »Wann kommt er zurück? Frage nicht!« Jeder Augenblick ist wie ein Nadelöhr, durch das ich hindurchmuss, ich, mit meiner langen Vergangenheit, meinem Durcheinander an Identitäten, einmal, und dann noch einmal, und ein ganzes Leben lang. Ich bin ins Jetzt gepfercht, in eine mühselige, eifersüchtige, schwere Zeit. »Du musst schlafen«, sage ich mir, »du musst vom Fenster weg.« Ich gehe auf und ab, hin und her, doch mein Körper vermag die Stunden nicht auszufüllen; nur wenn er sich in eine steinerne Statue verwandelte, könnte er der gierigen Zeit gerecht werden; es wäre dann viel leichter, auf jemanden zu warten, von dem man weiß, dass er nicht kommt; »Sei stark«, sage ich mir. Nein, nicht jetzt. Jetzt ist jedes Wort, jeder Augenblick, jedes an der Ecke auftauchende neue Gesicht, jeder Spiegel, in den ich blicke, nichts weiter als eine leere Schablone, geformt aus deiner Abwesenheit. Nein, nicht jetzt, später werde ich stark sein!
Wie lange dauert es, in den harten Felsen des Gedächtnisses einen Platz für sich zu fräsen? Wie lang kann dieses Warten dauern? Wie viele Wörter braucht es noch, damit ich in eine Zukunft geboren werde, die ich nicht ersonnen habe, und sie auch nicht mich?
Wie viel Zeit verbleibt mir noch?
II
Dann kamen sie. Allein, zu zweit, aus allen Richtungen, schwerfällig wie im Traum. Aus Höhlen, Tälern, Albträumen, aus Untergründen auftauchende Frauen. Sie schwankten, stützten sich gegenseitig, schienen jeden Schritt zu zählen. Die Gesichter aschfarben. Gehüllt in lange, zerrissene Gewänder, in Fetzen. Die eine auf Krücken gestützt, die andere auf einem Rollbrett, die Dritte mit einem Stirnverband, einer Dornenkrone gleich. Sie taten, was sie konnten, um ihre Wunden nicht zu offenbaren. Dem Ruf der Glocken folgend, versammelten sie sich wie scheue, fremde Schatten. Als wären sie dem Messer ihrer eifersüchtigen Herrin entronnen, dennoch in unsichtbare Ketten geschlagen, Schimären einer Nacht der Körper. Sie schritten voran wie ein Wasserlauf, der sich seinen Weg in eine unendliche Wüste bahnt, und hinterließen eine karge Spur. Abgefallene Wundverbände, Menschenhaut, bis zur Konturlosigkeit abgenutzte Gesichtszüge. Wie Hüllen abblätternde Biografien. Und Blut. Schmutziges, da aus tiefstem Herzen quellendes, nach wilden Rosen duftendes Blut.
Sie stellten sich an einer Treppe auf. Als versteinerten sie plötzlich. Wie Statuen, die jeden Augenblick umgestürzt werden konnten. (Da Stein so reglos, so widerstandsfähig und geduldig ist, vermag nur er des Menschen Seele aufzunehmen und sie selbst nach tausend Jahren wieder abzugeben.) Mit ihren im Abendlicht errötenden, gefurchten, verschatteten Gesichtern sahen sie aus wie Kommas, die man aufs Geratewohl in einer Geschichte über die Ewigkeit gesetzt hatte. Wie Noten einer Melodie, die nie erklang, und wenn doch, so würde der Erdboden sich mit Asche bedecken und eine nie endende Dunkelheit hereinbrechen. Nichts konnte so entsetzlich sein wie das Auflachen einer Frau, die Beine vom Wundbrand zerfressen, oder der Satz, den sie einer Freundin ins Ohr flüstert und der jene dazu ermuntern soll, durchzuhalten, weiter zu sehen und weiter zu warten.
Und sie warteten. Stumm, geduldig, reglos. Ihre dunklen Pupillen hatten gelernt, nicht zu sehen, was war, sondern vielmehr, was nicht war, und blickten so auf die verlöschende Welt. Überließen sich immer mehr dieser nach langem Kauen ausgespuckten, von der Zeit zerfetzten Existenz, diesem Warten, dem Schweigen der Glocken .
III
Als es dunkelte, erschien er. Er war sehr jung, sehr groß und makellos gebaut. Er hatte kräftige, angespannte Muskeln, in einem Zopf bis an die Taille reichendes Haar und trug Sandalen so weich wie die Wege des Himmels. Abgerundet wurde sein Auftritt durch den nicht zu verbergenden Glanz seiner Augen, wie er nur Kindern und Unsterblichen zu eigen ist. Erst zündete er die Fackeln an, eine nach der anderen, dann schluckte er, eine nach der anderen, ihr Feuer. Ich streckte meine Hände vor, die das Feuer oder die Dunkelheit nicht stehlen, sondern nur berühren wollten. Auf einmal gerieten wir Frauen in Bewegung, drängten schreiend auf ihn zu, um ihn zu berühren, zu halten, zu packen, zu zerpflücken. Mit der Erinnerung unserer Hände umfassten wir seine unsterbliche Jugend wie Grabsteine. Unsere Augen füllten sich mit heißer Glut. Unsere Körper, durch sämtliche Kriege gegangen, unterlagen erneut der geheimnisvoll feurigen Herausbildung des Nichts.
Ein weltgeborenes Herz
So stehe ich nun an der Schwelle zu einem neuen Leben und schnitze ein weltgeborenes Herz heraus. Es hat so viele Jahre inmitten von Menschen und Schlachthöfen hinter sich, hat sich auf Brachen von Wurzeln und Gestrüpp ernährt . nach den Strömen von Begierde und Furcht.
Ein faustgroßer, müder Muskel, der nackte Kern der Seele. Eine Handvoll Blut. Blut, Schatten, Lehm, ein Brunnen. Die Schlag für Schlag zählbare Kammer der Zukunft, das Pendel, das zwischen Anfang und Ende schwingt, das zitternde Glied der Kette, mit der ich an meinen Körper gebunden bin. Ich bewege es zwischen meinen Fingern, eine Glaskugel erscheint, die Bilder einer weißen Welt, mit Blut durchwirkt, mit der Signatur des kühlenden Atems.
Auch er steht da, an der Schwelle zum Jetzt. Silbe für Silbe sticht er mich mit den rostigen Schneiden der Buchstaben aus dem braunen Boden. Wie ein Betrunkener sein Glas, schüttet er mich auf die Welt aus und merkt gar nicht, wohin und wie.
Was fehlt
Als meine Mutter mir zum ersten Mal in die Augen sah, erblickte sie in einer kleinen schwarzen, von einem blassblauen Ring umgebenen Kugel den schiefen Widerschein ihres eigenen Gesichts. Sie stand am Anfang ihres Lebens; ob sie da wohl meinte, dieses würde jetzt erst richtig beginnen, oder fühlte sie sich eher so fehl am Platz wie ein Punkt mitten im Satz? Wollte sie lieber auf der Stelle davonlaufen oder sich eher den runden, öden, verschachtelten Welten überlassen, so wie man sich dem Wasser überlässt?
Mag sie auch nicht den Schmerz des Messers gespürt haben, das mich von ihr trennte, so zumindest seine kalte Klinge. Oder war dies vielleicht der Moment, in dem das Leben, das so viel von ihr gefordert und...
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