Schweitzer Fachinformationen
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Um Polemiken und Schadenersatzforderungen vorzubeugen, schützen sich Filmproduzenten gerne durch folgenden Satz im Abspann: »Die Personen und die Handlung dieses Films sind frei erfunden.« Bei mir könnte als Fußnote stehen: »Die Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Nur das Haus aus Stein ist echt. Nur die Hölle ist echt.«
Buchenwald, 2008. Mir ist sehr kalt. Ich bibbere in meiner dünnen Samtjacke. In Deutschland ist der Winter noch nicht vorbei, und in Buchenwald schneit es. Mir ist, als würde mir eine ganz besonders heimtückische Kälte das Rückenmark hinaufkriechen und mich mit Eiswürfeln anfüllen. Um sechzehn Uhr, auf die Minute genau, schließt das Museum, und im Schneegestöber verlassen sowohl Museumsangestellte als auch Besucher geradezu fluchtartig die Gedenkstätte. Ich stelle mich an der Tür unter, will weder gehen noch bleiben, und starre auf das riesige, rasch im Dunkel versinkende Gelände. Im Schnee erblicke ich einen hochgewachsenen Mann, mit einem Gesicht wie eine zerfasernde Papiermaske, seine Lippen zittern, wortlos steht er da. Als hätten seine Augen die Fähigkeit zu sehen verloren, jedoch eine andere, tiefere Fähigkeit gewonnen, blickt er ins Leere, ins triste Dunkel. Vielleicht sind hier Angehörige von ihm ums Leben gekommen. Als ich mir eine Zigarette anzünde, bemerkt er mich, wendet sich mir zu, als wollte er mir zu verstehen geben, dass das hier verboten sei. Er sieht mir in die Augen, als blickte er in einen Spiegel, dann zündet auch er sich eine Zigarette an.
Wenn im Gefängnis ein neuer Morgen heraufzog, der nichts anderes versprach als wieder Schläge, wieder Demütigungen, wieder Qual, nichts als die Wiederholung des Tages davor, das endlose Gekrächze aus dem Lautsprecher, das Durchzählen und Schlüsselgeklirr, kamen wir im Hof zusammen, ein paar Frauen, bald nass vom Regen, der von oben durch den elektrischen Stacheldraht tropfte, rückten an einer Mauer ganz nah aneinander, und ohne zu reden rauchten wir die erste Zigarette des Tages. Unsere geleerten Aschenbecher gleichenden Augen waren mal auf den Steinboden gerichtet, mal auf den leeren Himmel. Tief atmeten wir ein. Als sögen wir reinen Sauerstoff ein, oder reinen Tod.
Als ich zu Anfang der Achtzigerjahre zum ersten Mal das furchtbarste Folterzentrum von Istanbul betrat, das berüchtigte Sansaryan Han, saßen dort nicht mehr nur politische Gefangene ein. Man schaffte nun auch hartgesottene Kriminelle dorthin, blutig geschlagen meist, nachdem man sie auf dem Polizeirevier weder durch Prügel noch durch Stromschläge zu einem Geständnis hatte bringen können. Als ich den mit Stacheldraht umgebenen Hof und die Jugendlichen sah, die man soeben auf die Fußsohlen geschlagen hatte, war ich selbst noch fast ein Kind (ein Kind aber, das Dostojewski las). Keine der »härteren« Erfahrungen, die ich später im Leben machte, weder die rosenfarbene Polizeistation, die ich in »Die Stadt mit der roten Pelerine« beschrieb, noch die Zellen im Gefängnis von Bakırköy erfüllten mich mit solchem Entsetzen wie das Sansaryan Han. Es war gewiss nicht meine erste Begegnung mit dem »Furchtbaren«, aber zum ersten Mal gewahrte ich voller Beschämung, dass das »Furchtbare« vollkommen »echt« sein konnte.
In seiner frühen Entstehungsphase, als der Ich-Erzähler sich allmählich zu einem bestimmten Charakter, einem Opfer nämlich, entwickelte, war »Das Haus aus Stein« eine Erzählung von gerade mal drei Seiten. Das Haus umfasste, wie das Sansaryan Han, vier Stockwerke. In den folgenden zehn Jahren erfuhr das Gefängnis in meinem Kopf eine Aufstockung um eine Etage, ähnlich wie sich auch in Primo Levis Gedächtnis die Baracken von Auschwitz wandelten.
Schwer, noch einmal davon zu reden. Nach all den Zellen, den vielen Schlägen, den Verlusten des Lebens. Aus der bitteren, harten, qualvollen Erfahrung heraus zu sprechen, dass man zum Schweigen gebracht wurde. Das scharfe, unsichtbare Messer, das die Worte aushöhlt, hat ihnen auch die Zungen abgeschnitten und die Augen ausgestochen. Sie wissen von Anfang an, dass sie auf dem Weg, auf den man sie gesetzt hat, verloren gehen werden, und so ziehen sie durch die Kreise, die Zellen, die Verluste des Lebens und kehren an den einzigen Ort zurück, an den sie noch zurückkehren können.
Worte: trocken und nackt. Ein Gefäß, eine Maske. Eine Handvoll Erde, genau wie in meinem Inneren.
Vielleicht müsste ich mich aufrichten, mich aus dem Brunnen des Gedächtnisses herausziehen, einen Schritt auf die Geschichte zugehen, die auf mich wartet. Sie wartet stumm auf mich, sieht mich aus nur halb geöffneten Augen an. Als blickte sie in einen Spiegel. Um auf sie zugehen zu können, muss ich auf schwarzen Schnee treten.
»Das war mein letztes Blatt. Ich möchte aber noch mehr schreiben.« (Aus dem Brief eines Häftlings.) Wer ins Gefängnis kommt - oder »fällt«, wie es im Türkischen wörtlich heißt -, hat diesen ersten Wunsch, und es ist auch der letzte Wunsch des zum Tode Verurteilten: ein Blatt Papier und ein Stift.
Der Mensch, die sprechende Materie. Das erzählende Wesen. Das Wesen, das unentwegt Sinn produziert, Worte, Geschichten. Dazu verurteilt, in sich nach einem Wort, einem Bild zu suchen. Seit ihm der Horizont durch das Bewusstsein um seine Sterblichkeit vermauert ist, sucht der Mensch nach dem ersten verlorenen Wort und bemüht sich, in seiner eigenen Geschichte zu existieren.
Der »Ich-Erzähler« im »Haus aus Stein« erzählt von zwei Enden her, die ineinander übergehen. Der gedächtnislose »A.«, dem seine Geschichte gestohlen wurde, appelliert an die »Menschheit«, die ihn aus dem Menschheitspanorama fortgewischt hat. Indem er in ein Schaufenster steigt, sich dort verkleidet und Reden schwingt, ist er eine Metapher für das Schreiben. Der sämtliche Figuren in sich vereinende Schriftsteller wiederum ist aus der Welt, von der er erzählt, vertrieben worden, aus der Welt der »Verdammten«, aus seiner eigenen Geschichte also.
Von sich selbst erzählen . Bedeutet dies hartnäckiges Reden, auf der Suche nach einem »Ich«, in dessen dunklen Riesenschatten wir uns flüchten können? Bedeutet es den Verlust der Unschuld, einen hinausgeschobenen Selbstmord, eine Provokation gegenüber der Welt? Befreiung, oder vielmehr Gefangenschaft, die den Wunsch nach Freiheit erst weckt?
Diese Fragen stelle ich dem leeren Grabmal, das ich aus Worten gebildet habe.
(Dieses Buch ist ein aus Worten geschaffenes Grabmal, eine Klage um einen wirklichen Toten, ein stets unvollendet bleibender Abschied.)
Wer war der Tote? Und auf welcher Seite des Todes steht die Schreibende?
Man-selbst-Sein ist gleichbedeutend mit sterben. Erst durch den Tod werden wir »einzig«, werden auf unabänderliche Weise zu unserer eigenen Geschichte. Der Augenblick absoluter Vereinigung ist auch der Augenblick absoluten Zerfalls. Das Verschmelzen des Ich mit dem anderen, des Erzählers mit dem Erzählten, des Bildes mit dem Blick darauf.
Der Text muss dem Tod gegenüber stets eine Maske tragen.
»Ich bin alles, was gewesen ist und was sein wird, und kein Sterblicher hat je mein Gesicht ohne Maske gesehen« steht in einem Osiris-Tempel. Osiris ist der Gott des Todes und der Wiederauferstehung, wie Dionysos. Auch Dionysos trägt stets eine Maske und erscheint mal als Mann, mal als Frau. Er ist der Gott des Wahnsinns, der stets stirbt und stets wiederaufersteht. Beides sind gestürzte Götter.
Worte: zerkaut, zerfasert, von Dunkel und Schweigen geknetet. Brausend, furchtbar .
Worte, die einander zum Echo werden, einander wiederholen, verleugnen. Der Schmerz, der nach seiner Stimme sucht, die Stimme, die nach ihrem Bild sucht. Die Stimme, die an eine Welt appelliert, die längst verloren oder noch gar nicht geboren ist, an zahllose Welten. Linien und Kreise, die spitze Winkel vereinen und das Schicksal der Menschen bilden, Tausende von Geschichten, ein Tod, der nicht gezählt wird . Blut, das aus den Grenzen des Körpers austritt und in der Sprache dahinfließt . Ein Text, der so lange ans Nichts schlägt, bis er zerbirst . Dann geduldig die Teile von Neuem zusammensetzen . Von vorne anfangen, es noch einmal versuchen. Einen Schritt auf das Unerzählbare hin tun, wieder einen Schritt zurücktreten, die Flugbahn ändern, wieder einen Kreis zeichnen . Bis ein Widerhall ertönt .
Ich ging meinen Weg weiter. Wie ein Phantom, das entschlossen ist, in der Wirklichkeit Gestalt anzunehmen, tastete ich mich im Dunkel zwischen Trümmern voran. Ich musste bis zum Ende dieses Verderbens, dieser Einsamkeit gelangen. Eine Karte brauchte ich nicht mehr, mit schlafwandlerischer Sicherheit fand ich nacheinander die Baracken, die Semprun in seinen Romanen beschrieben hatte. Jene Baracken, vor etwa sechzig Jahren abgerissen, heute nur in Umrissen zu erkennen, voller Gedenksteine. Ich zog meine Kreise, ging auf und ab, ermaß das riesige Lager von einem Ende zum anderen, als würde ich mit jedem Schritt mehr zu einer Gefangenen, die Buchenwald nicht mehr verlassen kann. Um herauszukommen, musste ich das Ich, das ich dort fand, zurücklassen, der Nacht überlassen.
Ein Wort, das ich nur verwende, weil ich mir anders nicht zu helfen weiß: »Ich«. Ein Gefäß, eine Maske, mehr nicht. Ein Zahn, an den die Töne schlagen, um herauszukommen, ein dünnes, hartes Häutchen, ein Knochen. Ein endlos weites Schlachtfeld, auf dem das Gesagte mit dem Tod des Ungesagten kämpft. Wo die Stehengebliebenen ebenso still verrotten wie die zu Boden Gestürzten. Wo der Mensch zu Staub wird und der Staub zu Mensch.
»Die anderen« kann ich zu dieser Hölle nicht sagen .
Als ich zur Haltestelle ging, um den letzten Bus zu nehmen, spürte ich die Kälte nicht mehr. Die innere und die äußere Temperatur schienen...
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